Durchmesserlinie

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DurchmesserLinie Das Wunder von Z端rich

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Ausbau Oerlikon Abdichtungsarbeiten an der Stützmauer im Bahneinschnitt Oerlikon.

Der Weinbergtunnel Ausbruch im Flucht- und Rettungsstollen des Weinbergtunnels.

Der Bahnhof Löwenstrasse Der fertiggebaute Bahnhof Löwenstrasse kurz vor der Eröffnung.

Die Ausfahrt nach Westen Ein Pfeiler mit den Auflagepunkten des Brückentroges. Im Hintergrund der Prime Tower.


Durchmesserlinie Das Wunder von Z端rich Texte Raffael Hirt Franz Hohler Stefan Hotz Werner Huber Franz Kagerbauer Peter Krebs Susanne Perren Daniel Vonlanthen Fotos Dorothea M端ller u.a.

AS Verlag


www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2014 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Lektorat: Peter Krebs, Bern Korrektorat: Pablo Egger, Speicher Druck: B & K Offsetdruck GmbH, Ottersweier Einband: Grossbuchbinderei Josef Spinner GmbH, Ottersweier ISBN 978-3-906055-18-3


Inhalt

14 Ein Projekt mit Ausstrahlung auf die ganze Schweiz 16 Die Durchmesserlinie – ein Generationenbauwerk für Zürich 18 Vom Meisterwerk von Zürich profitieren die Kundinnen und Kunden in der ganzen Schweiz

Ein grosser Schritt für die Bahn 22 Das Wunder von Zürich – Vom «Fil Rouge» und dem Flügelbahnhof zur Durchmesserlinie 34 Zürcher S-Bahn – Mit viel Erfahrung in die Zukunft 38 Roland Kobel: Leise im Ton, engagiert im Tun

Der Bau – die Lösungen 42 Eingriff im «Herzen» des Netzes – Das grösste Ausbauvorhaben seit der «Bahn 2000» nützt vielen Bahnreisenden 48 Ausbau Oerlikon

112 Der Bahnhof Löwenstrasse 113 Im Intercity unter die Sihl 128 Der Wasserbahnhof 132 Max Bösch: Zwanzig Jahre am Hauptbahnhof 134 Die Ausfahrt nach Westen 135 Schneller dank zwei Brücken 156 Die gelbe Spinne – Das Vorspanngerüst zum Bau der Letzigrabenbrücke 162 Barbara Huber: Die Brückenbauerin

Beziehung zur Stadt 166 Ein starker Auftritt im städtischen Raum 174 Zürich HB im Wandel – Vom Eisenbahn-Hof zum Dienstleistungszentrum 180 Michèle Bischof: Blühendes Business unter Baulärm 182 Zürichs neuster Stadtteil 194 Urbanes Leben im Eisenbahndenkmal 198 Corine Mauch: Im Interesse aller

49 Mehr Platz für die Bahn und ihre Kunden 68 Ein Baudenkmal geht auf Reisen – Das MFO-Gebäude in Oerlikon 74 Franz Hohler: Tag der offenen Baustelle 76 Der Weinbergtunnel 77 Durch den Untergrund von Zürich 104 Eine 3000 Tonnen schwere Baufabrik – Die Tunnelbohrmaschinen 110 Thomas Rubi: Am Ende muss alles funktionieren

Anhang 202 Die wichtigsten Etappen der Durchmesserlinie 204 Glossar 208 Bildnachweis 208 Dank



Ein grosser Schritt für die Bahn


die DML nicht nur S-Bahn-Züge aufnehmen, sondern auch dem Fernverkehr auf der Ost-West-Achse dienen. Laut den Prognosen der SBB und des Kantons konnte nämlich die S-Bahn den neuen Bahnhof auch längerfristig nur etwa zur Hälfte auslasten. Hingegen zeichneten sich im Fernverkehr Bedürfnisse ab, «für die zusätzliche Kapazität benötigt wird», schrieb der Regierungsrat. Der Ausbau auch für den Fernverkehr hatte seinen Preis. Um die Perrons für die Fernverkehrszüge tauglich zu machen, mussten sie 420 statt 320 Meter lang sein. Stärker ins Gewicht fielen die Zusatzkosten für den Fernverkehrs-Anschluss nach Altstetten und Richtung Westen. Der Regierungsrat veranschlagte die Gesamtkosten im Jahr 2000 auf 1450 Millionen Franken. Weil es sich nun nicht mehr um ein Teilprojekt der «Bahn 2000» handelte, war klar, dass auch die Finanzierung neu geregelt werden musste. Sollte das Werk innert nützlicher Frist realisiert werden, mussten die SBB und der Kanton die Ausgaben aufteilen. Die Parteien einigten sich auf einen Schlüssel, bei dem die SBB 60 Prozent tragen würden (870 Millionen Franken) und der Kanton Zürich 40 Prozent (580 Mio.) Die Aufteilung beruhte auf der Prognose, wonach die Anlagen je zur Hälfte für den Fernverkehr und die S-Bahn zur Verfügung stehen würden. Der Kanton sollte dabei, wie schon bei früheren Projekten, 80 Prozent der S-BahnAusbauten finanzieren. Die Mittel wollte er seinem Verkehrsfonds entnehmen. Die SBB bzw. der Bund kamen für den ganzen Fernverkehrsanteil und 20 Prozent der S-Bahn-Investitionen auf. Der politische Durchbruch Der Vorschlag der Regierung überzeugte auch den Kantonsrat. Er hiess ihn am 11. Juni 2001 mit 142 zu 0 Stimmen gut. Daraufhin zogen die Initianten ihr Begehren zurück. Es hatte seinen Zweck erfüllt. In der Volksabstimmung vom 23. September 2001 sagten die Zürcher mit der aussergewöhnlich grossen Mehrheit von 82 Prozent Ja zum Kredit für die Durchmesserlinie. In allen Gemeinden resultierten zustimmende Mehrheiten, auch in jenen ohne Bahnanschluss. Der unmittelbar betroffene Kreis 5 hiess das Projekt mit über 90 Prozent gut. Der politische Durchbruch war geschafft. «Das ist Weitsicht, wie ich sie mir wünsche», kommentierte Ruedi Jeker. Erwin Rutishauser, stellvertretender Leiter

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Infrastruktur bei den SBB, sprach von einer «mustergültigen Zusammenarbeit». Der Entscheid gebe dem öffentlichen Verkehr in der ganzen Schweiz Impulse. Später, während der Proteste gegen das Bahnprojekt «Stuttgart 21», wurde die DML im benachbarten deutschen Bundesland Baden-Württemberg als technisch und politisch überzeugendes Beispiel gepriesen, bei dem es gelungen sei, den Bedenken der Gegner rechtzeitig Rechnung zu tragen. Laut Daniel Boesch war für das erstaunliche glatte Zustandekommen auch eine Portion Glück nötig: «Wir haben ein historisches Fenster genutzt.» Ein historisches Anliegen Dank der Durchmesserline sollten erstmals Fernverkehrszüge den Hauptbahnhof Zürich ohne Richtungsumkehr benutzen können. Das bildet die Basis, um den Ost-West-Verkehr quer durch die Schweiz, aber auch die S-Bahn in Richtung Oerlikon «kopfbahnhoflos» und damit schneller und effizienter zu gestalten. Das Projekt versprach, im «Herzen» des Schweizer Schienennetzes ein historisches Anliegen zu realisieren. In der langen Planungs- und Baugeschichte des HB Zürich haben immer wieder Ingenieure und Architekten diese Möglichkeit in Erwägung gezogen und mehr oder weniger detailliert ausgearbeitet. Schon als die Nordostbahn 1894 den Personenbahnhof zu erweitern beabsichtigte, gab es eine Reihe von Gegenvorschlägen, darunter jener von «Kontrollingenieur» Glauser vom Schweizerischen Eisenbahndepartement, der als Erster den Bau eines Durchgangsbahnhofs samt einer neuen Linie durch den Zürichberg nach Oerlikon vorschlug. Im Jahr 1929 legte der Hannoveraner Professor Otto Blum im Rahmen eines Gutachtens für die Stadt Zürich Entwürfe für einen «hochgelegten Durchgangsbahnhof» vor. Die Gleise Richtung Osten sollten die Limmat westlich der Bahnhofbrücke überqueren und anschliessend in einem Tunnel verschwinden, der aus zwei Ästen bestand. Einer führte mit gleich vier Spuren nach Oerlikon, der andere einspurig nach Meilen am rechten Ufer des Zürichsees. Für den damals als dringlich erachteten Ausbau des HB hatte der frühere Zürcher Stadtplaner und Architekt des Landesmuseums, Gustav Gull, einen Kopfbahnhof in Hochlage entworfen. Blum riet entschieden davon ab: «Es kann nicht empfohlen werden, den


Für den Ausbau des Zürcher Hauptbahnhofs gab es früh eine Reihe von Projekten, wie diese später angefertigten Skizzen dokumentieren (oben). Ein Luftbild, von Eduard Spelterini 1903 aus dem Ballon aufgenommen. Die Einfahrt in den Hauptbahnhof führte noch durch teilweise offenes Gelände mit dem gebogenen Wipkingerviadukt im Vordergrund (links).

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âž” Ausbau Oerlikon


Mehr Platz für die Bahn und ihre Kunden Stefan Hotz

Mit der Durchmesserlinie bekommt der Bahnhof Oerlikon ein 7. und 8. Gleis. Gleichzeitig erweiterten die SBB in Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich die Personenunterführungen und statteten sie mit Läden aus. Eine Knacknuss war die Aufgabe, zwischen den Perrons und dem neuen Weinbergtunnel Platz für die zusätzlichen Gleise zu schaffen. Auf den ersten Blick erscheint der nördliche Abschnitt 4 der Durchmesserlinie wenig spektakulär. Schon die etwas spröde Bezeichnung «Ausbau Oerlikon» verspricht weniger als der Weinbergtunnel, der Tiefbahnhof Löwenstrasse und die Brücken nach Altstetten. In Tat und Wahrheit handelte es sich um ein komplexes und höchst anspruchsvolles Unterfangen. Es weist drei Besonderheiten auf: So war hier die neue Doppelspur durch Zürich auf der etwa 700 Meter langen Strecke zwischen dem Tunnelportal und den Perrons von Oerlikon in das bestehende Gleisfeld einzufädeln, während jeden Tag etwa 800 Züge durch den Bahneinschnitt rollten. Ausserdem befand sich die Baustelle mitten in einem Wohngebiet. Schliesslich wurde hier immer noch projektiert, während die Bauarbeiten an den übrigen Abschnitten bereits voll in Gang waren.

Ein später Entscheid Ursprünglich sollte die DML vom Weinbergtunnel an die sechs bestehenden Gleise des Bahnhofs Oerlikon anschliessen. Für den Fernverkehr hätte das genügt, nicht aber für die 4. Teilergänzungen der Zürcher S-Bahn. Erst durch sie bringt die DML auch dem Regionalverkehr den grösstmöglichen Nutzen. Im Spätsommer 2008, fast ein Jahr nach dem Spatenstich im Hauptbahnhof, entschieden der Bund und der Kanton Zürich als Besteller der DML, den Ausbau um zwei zusätzliche Gleise in Oerlikon in das Gesamtprojekt aufzunehmen. Vor der Volksabstimmung 2001 hatte man für den Fernverkehr noch eine unterirdische Umfahrung des Bahnhofs ins Auge gefasst. Nach dem Beschluss, die DML zu ergänzen, gaben in der Öffentlichkeit die hektischen Rettungsbemühungen für das MFO-Gebäude viel zu reden, das dem 7. und 8. Gleis im Weg stand (siehe Seite 68). Die Planer standen aber vor der Aufgabe, das Vorprojekt von 2008 unter Zeitdruck zur Baureife zu entwickeln, was 2010 der Fall war. Wegen der Ergänzung musste die Eröffnung der ersten DML-Etappe um ein halbes Jahr verschoben werden. Die Herausforderung bestand darin, dass der Weinbergtunnel auf der öst-

Im Jahr 1907 war Oerlikon noch eine selbstständige Gemeinde mit einem Bahnhof, auf dem kein Platzmangel herrschte.

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Die neue, verlängerte Regensbergbrücke vor der Wiedereröffnung für den Strassenverkehr. Rechte Seite: Die Verflechtung der Gleise im Bahneinschnitt Oerlikon. Rechts die beiden Gleise der Käferberglinie; hinten in der Mitte das Portal des Wipkingertunnels, vorne eines der beiden Weinbergtunnelportale. Das Gleis ganz links führt im Endzustand ebenfalls in den neuen Tunnel (siehe Modell auf Seite 50).

Einen Bach wiederentdeckt Von einer simplen Mauer zu sprechen, wäre zu einfach. Die das Projekt prüfenden Ingenieure befürchteten, dass die Süsswassermolasse dahinter Klüfte aufweisen könnte. Wären diese mit Wasser gefüllt, würde die Wand diese zusätzliche Last aus dem Untergrund nicht tragen. Bürgin zweifelte zwar an dieser These; die alte Mauer aus Quadersteinen hatte schliesslich über 100 Jahre gehalten. «Aber wir standen unter Termindruck, es war keine Zeit mehr zu diskutieren, wir mussten bauen», sagt er. Deshalb enthält die Betonwand heute rund 500 Löcher. Dahinter befinden sich Bohrungen, dank derer allfälliges Kluftwasser in ein Sickerrohr geleitet wird. So kann kein hydrostatischer Druck entstehen. Die Folge ist jedoch, dass diese Mauer gewartet werden muss. Die Öffnungen sind regelmässig zu inspizieren und die Leitungen zu spülen, was einigen Aufwand verursachen wird. Ein Felsspalt kam beim Bau der Mauer nicht zum Vorschein. Eine Überraschung war allerdings, als an einer Stelle den Arbeitern eine schwarze Masse, durchsetzt mit organischem Material, entgegenfloss, die kaum zu festigen war. Es zeigte sich anhand von historischen Karten, dass sie auf einen Bach gestossen waren, der einst dort durchführte.

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Durch die Verbreiterung des Einschnitts waren dessen zwei Übergänge nun zu kurz. Die Regensbergbrücke wurde im Januar 2011 mithilfe eines riesigen Raupenkrans entfernt und wie der Birchsteg für Fussgänger durch eine moderne Betonkonstruktion ersetzt. Über dem Tunnelportal zuhinterst im Bahneinschnitt entstand ein «Tiefhaus», wie sich Bürgin ausdrückt. Es reicht vom Niveau der dortigen Quartierstrasse 33 Meter und insgesamt neun Stockwerke hinunter bis auf das Niveau der Gleise im Weinbergtunnel. Dieses Rettungsund Technikgebäude schafft den nötigen Platz für Einrichtungen zur Bahnsicherheit, Kommunikation oder für kleinere Unterhaltsarbeiten. Es ist aber vor allem ein Fluchtweg aus den beiden Tunnels. Auch ein Feuerwehrlift ist vorhanden für einen Angriff, wie die Sicherheitsfachleute sagen, falls es einmal brennen sollte. Ein Stück DML ist seit 2011 in Betrieb In Oerlikon ging es nicht nur darum, zwei zusätzliche Gleise in den Bahneineinschnitt einzufügen. Damit die Kapazität optimal nutzbar ist, waren die Fahrspuren richtig miteinander zu verknüpfen und zu entflechten. Das zeigt sich am Ausgang des Weinbergtunnels, der zwei versetzte Portale hat. Es handelt sich um ein erstes





Zur Auskleidung der Tunnelwände waren insgesamt 11000 gerundete Tübbingsegmente nötig (links). Förderbänder brachten den Aushub in die Silos beim Bahnhof Oerlikon, wo er auf Bahnwagen umgeladen wurde (rechts). Rechte Seite: Blick in den Schildbereich mit Vorschubzylindern (oben) und der Zugstange für die Nachlaufinstallationen der TBM. Im unteren Bereich ist der zentrale Zugang zum Bohrkopf zu erkennen. Unter dem Nachläufer wird die Baupiste für die Versorgung der Tunnelbohrmaschine gebaut.

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Die Bohrmaschine beginnt sich zu drehen Im Oktober 2008 begann sich der Kopf der Tunnelbohrmaschine unter gewaltigem Dröhnen mit bis zu fünf Umdrehungen pro Minute zu drehen. Er bohrte eine Röhre mit einem Durchmesser von 11,24 Metern in die Molasse und den Glimmersandstein: der Tunnel ist so hoch wie drei Stockwerke eines Hauses. Gleich am Anfang standen die ersten «Hausunterfahrungen» auf dem Programm, etwa jene unter dem Radiostudio DRS (heute SRF). Sie verliefen ohne Probleme. Die Messgeräte zeigten nur vereinzelte Setzungen von wenigen Millimetern an. In dieser ersten Phase wurde ausserdem der Trinkwasser-Ringstollen Zürich überquert. Die Stadt reduzierte vorsichtshalber den Wasserdruck. Der Vortrieb erfolgte während täglich 16 Stunden im Zweischichtbetrieb, wobei pro Schicht 25 Männer im Einsatz standen. Die Vortriebsgeschwindigkeit lag im Mittel bei 18 Metern pro Tag. Wegen der strengen Lärmschutzvorschriften im städtischen Wohngebiet durfte die SBB in der Nacht nur dann arbeiten, wenn es aus Sicherheitsgründen angezeigt war. Aber auch der Abtransport des Aushubmaterials setzte dem Untertagebau Grenzen. Nach 16 Stunden waren normalerweise die 7000 Tonnen Ausbruch angefallen, die sich vom stark ausgelasteten Bahnhof Oerlikon wegführen liessen. Förderbänder, die mit dem Baufortschritt immer länger wurden, brachten das Material bis in die Silos in Oerlikon. Diese füllten täglich sieben Güterzüge, die nach Wilchingen im Kanton Schaffhausen fuhren, wo der Aushub zur Renaturierung

einer ehemaligen Kiesgrube diente. Als Rohstoff zur Herstellung von Beton war das weiche und teils wasserlösliche Molassegestein ungeeignet. Gemäss der Vorschrift zur Umweltverträglichkeit musste die Bauherrschaft 85 Prozent des Massengutverkehrs über die Schiene abwickeln. Das betraf neben dem Ausbruchmaterial auch die Kieslieferungen. Die Tübbinge, die bis zu 15 Tonnen schweren, gerundeten Betonelemente zur Auskleidung des Tunnels, erreichten den Bahnhof Oerlikon ebenfalls auf dem Schienenweg. Die Arbeitsgemeinschaft Tunnel Weinberg liess die Tübbinge in einer Fabrik in Wilchingen herstellen, die einen Ausstoss von 225 Elementen pro Woche bewältigte. Die bis zu 15 Tonnen schweren Elemente müssen punkto Festigkeit und Lebensdauer hohe Anforderungen erfüllen. Die armierten Tübbinge sind normalerweise 30 Zentimeter dick. Im Bereich der Tunnelsohle wurden sie an einigen Stellen auf das Doppelte verstärkt. Sie bilden die Aussenschale der Tunnelverkleidung. Die sichtbare Innenschale besteht nochmals aus einer 30 Zentimeter starken Schicht Ortbeton (er wird vor Ort verarbeitet und verschalt). Im Tunnel selber bewältigten ausser dem Förderband Lastwagen die Transporte. Die zahlreichen Motoren und Aggregate, die im Einsatz standen, erhöhten die Temperatur in der unterirdischen Baustelle auf ungefähr 28 ºC. Normalerweise liegt sie bei 13 º, was dem Jahresmittel an der Erdoberfläche entspricht.





Unter dem Südtrakt des Hauptbahnhofs war ein aufwendiges Bauverfahren nötig. Die Mineure gruben zuerst zwei Längsstollen, von denen aus sie die Decke und die Wände konstruierten (unten). Rechte Seite: Der Schacht beim Südtrakt diente als Zugang für die Baumaschinen, die im Untergrund zum Einsatz kamen.

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Als Ausgangspunkt für diese Arbeiten diente der zweite, vor dem Hauptbahnhof ausgehobene «Schacht Südtrakt». Beim Vortrieb von einem der Mikrotunnel kam es im April 2009 zu einem Zwischenfall, der für Schlagzeilen sorgte und der Öffentlichkeit in Erinnerung rief, dass im Untergrund von Zürich hart gearbeitet wurde. Die Tunnelbohrmaschine, die hier im Einsatz stand, blieb direkt unter dem Bahnhofplatz stecken. Wegen eines Maschinendefekts entstand ein Hohlraum, in den Erdreich nachrutschte. Die Baufachleute befürchteten ein Absacken der Oberfläche. Die Polizei sperrte den Platz. Der gesamte Tram- und Busverkehr auf dieser zentralen Drehscheibe der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) musste umgeleitet werden. Auch der Privatverkehr kam zum Stillstand. «Der Zürcher Bahnhofplatz droht einzustürzen», titelte der Tages-Anzeiger. Dazu kam es glücklicherweise nicht. «Es war ein kleines Ereignis mit grosser Auswirkung», sagt Roland Kobel. Vorsicht war auch

deshalb angebracht, weil durch diesen Bereich Gasund Wasserleitungen führen. Bereits nach 24 Stunden war die Gefahr aber gebannt. Die SBB liess direkt über dem eingestürzten einen neuen Mikrotunnel bohren. Unter dem historischen Südtrakt Zeitlich parallel zu diesen Arbeiten nahm die Arbeitsgemeinschaft auch jene zur Unterfahrung des rund 150 Jahre alten, denkmalgeschützten Südtrakts in Angriff, des ältesten Teils des Hauptbahnhofs Zürich. Auch in diesem westlichsten Teil des Weinbergtunnels musste in einem ersten Schritt eine unterirdische Konstruktion hergestellt werden, um die in geringem Abstand unterquerten Bauten zu stützen. Zur Komplexität des Auftrags trug der Umstand bei, dass es sich um ein «Aufweitungsbauwerk» handelt: die Tunnelwände spreizen sich auf, denn sie münden aus der schlanken Doppelspurröhre in die breitere viergleisige Bahnhofhalle.



Eine 3000 Tonnen schwere Baufabrik Die Tunnelbohrmaschinen Peter Krebs

Montage der Tunnelbohrmaschine im 30 Meter tiefen Schacht Brunnenhof.

Beim Bau der Durchmesserlinie standen mehrere Tunnelbohrmaschinen im Einsatz. Die grösste unter ihnen war jene für den Weinbergtunnel. Sie war eine eigentliche Tunnelfabrik, die auch den Hohlraum sicherte und den Ausbau der unteren Tunnelhälfte ermöglichte. Die Dimensionen der Tunnelbohrmaschine, die den Weinbergtunnel unter der Stadt Zürich vortrieb, sind beeindruckend: Als sie sich im Oktober 2008 in dreissig Metern Tiefe beim Brunnenhof in Oerlikon zu drehen begann, war sie über 220 Meter lang und 3000 Tonnen schwer. Zuvor mussten die Einzelteile für diesen Koloss durch den Installationsschacht zur Montagekammer befördert werden, wo sie zusammengebaut wurden (siehe Haupttext ab Seite 76). Mit dazu gehörte der Bohrkopf, der zuvorderst die Ausbrucharbeit verrichtete. Er mass 11,24 Meter im Durchmesser. Für den Antrieb sorgten 19 Hydraulikmotoren. 24 Doppelhydraulikzylinder pressten den Bohrkopf mit hohem Druck von rund 11 450 Tonnen an die Tunnelbrust, wo die 63 Schneiderollen den Fels zu handgrossen Stücken brachen.

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Hergestellt wurde die Tunnelbohrmaschine in Deutschland von der Firma Herrenknecht AG. Die Spezialisten dieses Unternehmens haben die Maschine vor Ort montiert. Dabei wurden sie von den Arbeitern der Arbeitsgemeinschaft Weinbergtunnel unterstützt. Diese haben die Tunnelbohrmaschine dann übernommen und zielgenau durch den Weinberg gesteuert. Alle Tunnelbohrmaschinen sind Mass-Anfertigungen. Die Konstrukteure entwerfen und bauen sie nach den Vorgaben, die durch die Lichtraum-Abmessungen, die Bauweise des Tunnels und die geologischen Verhältnisse bestimmt werden. Umrüstbar auf «Hydroschild-Betrieb» Auf den letzten 150 Metern des Weinbergtunnels musste sich die Tunnelbohrmaschine durch das nasse Lockergestein des Limmatbetts vorarbeiten. Zwanzig Meter unter dem Wasserspiegel stand sie unter einem Druck von zwei Bar. Deshalb wurde sie vor dem Verlassen der Felsstrecke auf «Hydroschild-Betrieb» umgerüstet. Dank dieser Technik war sie in der Lage, den Limmatboden zu lösen. Dabei kam als Stützflüssigkeit ein


Die Tunnelbohrmaschine im Einsatz im Weinbergtunnel. Folgende Doppelseite: Ein Kran senkt den jungfräulichen Bohrkopf durch den Schacht Brunnenhof zur Baustelle hinunter. Gut zu erkennen sind die weissen Schneiderollen.

Gemisch aus Wasser und Bentonit zum Einsatz. Diese Flüssigkeit quillt auf und verdickt sich wie ein Pudding. So dichtet sie die Tunnelwände ab und stützt den Boden, bis die Tübbinge eingebaut sind. «Wir haben die Tunnelbohrmaschine zu einem ‹U-Boot› umgebaut, das durch das Zürcher Grundwasser beim Hauptbahnhof geschifft werden musste», beschrieb der damalige Abschnittsleiter des Tunnelbaus, Marco Ceriani, den Vorgang. Nicht alle Teile der TBM waren neu. Um die geforderten kurzen Lieferfristen von weniger als zwölf Monaten zwischen Bestellung und Vortriebsbeginn überhaupt einhalten zu können, kamen Standard-Bauteile zum Einsatz. Aus wirtschaftlichen Gründen wurden auch aufbereitete und revidierte Elemente aus Occasionsmaschinen verwendet. Die verzögerte Durchschlagsfeier Im relativ weichen Zürcher Untergrund kamen die Tunnelbauer wie geplant gut voran. So konnte am 22. November 2010 die lange im Voraus geplante Durchschlagsfeier vonstatten gehen. Ausgerechnet an ihrem letzten Arbeitstag hatte die Tunnelbohrmaschine aber eine elektronische Störung. Der Durchschlag erfolgte statt um 11 Uhr erst mittags um 12.21 Uhr, als sich die

400 Gäste aus Wirtschaft und Politik und die zahlreichen Presseleute bereits am Buffet verpflegten. An diesem Anlass kam die Tunnelbohrmaschine zu einem späten und improvisierten Namen. Andreas Meyer, CEO der SBB, taufte sie spontan «Heidi». Er hatte – in seiner Rolle als Moderator zur Überbrückung der Wartezeit - einen Techniker per Handy nach dem Namen der TBM gefragt, wegen einer gestörten Verbindung aber keine Antwort gekriegt. Während der ganzen Einsatzzeit hatte sich die Tunnelbohrmaschine zuvor als sehr robust erwiesen und zuverlässig durch den Fels gegraben. Oben in der Stadt nahm man sie kaum zur Kenntnis. Auf gewissen Abschnitten war höchstens ein leichtes Grollen zu hören. Regelmässig informierte die SBB über den Stand der Arbeiten und bestätigte dabei das planmässige Vorankommen. Die Tunnelbohrmaschine erreichte eine Vortriebsleistung von durchschnittlich 18 Metern pro Tag. Entsprechend viel Aushub fiel an. Insgesamt wurde der Zürcher Untergrund um 500 000 m3 Fels- und Schottermaterial erleichtert, was der Lademenge von 30 000 Bahnwagen entspricht. Mit eingerechnet ist auch der Ausbruch aus dem parallel verlaufenden Flucht- und Rettungsstollen, wo eine zweite, kleinere Tunnelbohrmaschine mit fünf Metern Durchmesser am Werk war.

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Die Aufgänge aus dem Bahnhof Löwenstrasse im Bauzustand (oben). Provisorische Abstützungen im Bereich, wo der Bahnhof Löwenstrasse die Sihl unterquert. Im Vordergrund die Armierung bzw. Bewehrung für eines der beiden Perrons. Im Hintergrund ein Durchgang zum Stadttunnel, der als Logistikzugang diente (grosses Bild).

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Zwei Arbeiter führen Vorarbeiten für die feste Fahrbahn aus (ganz links). Verlegen der Gleise und Schwellen auf der Rampe des Bahnhofs Löwenstrasse (links). Anschliessend werden diese einbetoniert.

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Zwei Studentinnen aus Winterthur teilen sich einen Aschenbecher. Sie stehen kurz vor ihrem Studienabschluss, absolvieren am neuen Ort also noch das letzte Semester. Die Weggefährtinnen erleben den neuen Campus als «sehr funktional». Alles Wichtige, das man zum Studium benötigt, sei da. Besonders loben sie die Mensa: «Die Gastronomie ist erste Klasse.» Aber ganz vergessen sind die alten Studienräume nicht. Eine der künftigen Lehrerinnen nimmt einen Zug aus der selbst gedrehten Zigarette und wirft einen kritischen Blick aufs neue Umfeld: «In diesem Betonschick herrscht ein Klima der Effizienz. Früher konnte ich mich zum Entspannen unter einen grünen Baum setzten. Das ist hier nicht möglich.» Mit den zahlreichen fremden Nutzerinnen und Nutzern sei eine gewisse Anonymität eingekehrt. Im neuen Campus finden auch Seminare und Kongresse statt. Das Projekt Europaallee in einem frühen Modell (weisse Häusergruppe auf der linken Seite der Gleise). Die Europaallee bildet ein neues Quartier inmitten der Stadt Zürich: zwischen dem Hauptbahnhof, der Sihl und der Lagerstrasse.

ergiessen sich die Passantenströme zwischen dem Hauptbahnhof, den diversen Schulen und dem Kasernenareal. Bei schönem Wetter füllt sich diese Ecke mit Leben. «Hin & Weg» heisst der Name des Restaurants, das in der ersten Etappe eröffnet wurde. «Die Ziele sind ambitiös», sagt Nina Jauch, eine Studentin der Hotelfachschule Luzern, die das Lokal zwischenzeitlich führte. «Hin & Weg» hat sich der Systemgastronomie verschrieben und ist an sieben Tagen pro Woche von früh bis spät geöffnet. Jauch zeigt sich überzeugt, dass der Standort an Attraktivität noch gewinnen wird, «wenn auch hier die Bäume gepflanzt sind und die Europaallee vollendet ist». Funktionaler und kompakter Campus Über 40 Treppenstufen aus Stein geht es hinauf zum Campusplatz – dem geräumigen Innenhof der Pädagogischen Hochschule Zürich. Abgeschottet vom Pendlerverkehr des HB ist er die neue Drehscheibe für 2500 Studierende, 700 Dozierende und Dutzende Angestellte von Verwaltung, Haustechnik und Gastronomie. Studierende betreten den Platz, um von der Vorlesung in die Mensa, vom Fitnessraum zum Digital Learning Center zu gelangen. Früher eilten sie durch die halbe Stadt zu den Vorlesungen und Seminarien, war doch die Hochschule auf 19 Standorte verteilt. An Tischen unter Sonnenschirmen wird geschwatzt. Rauchen ist erlaubt.

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Aus Stadtraum HB wird Europaallee Die Europaallee ist das Resultat von vielen Planungsideen, technischem Wandel, politischen Vorstössen und Auseinandersetzungen, Rekursen und Irrtümern. Fast 30 Jahre dauerte die Planung vom ersten, umstrittenen Entwurf der Bahnhoferweiterung bis zum Gestaltungsplan, der 2006 beim Volk mit 65 Prozent Ja-Stimmen auf grosse Zustimmung stiess und den Weg für die Europaallee ebnete. Auf der Strecke blieben nacheinander die beiden Projekte mit Gleisüberbauungen HB, Südwest und Eurogate sowie eine Tiefgarage unter den Gleisen. In der Sonderbeilage zur Eröffnung der ersten Etappe rechnet der «Tages-Anzeiger» die Bilanz dieser Irrungen und Wirrungen auf: «Rund 150 Millionen Franken Planungskosten wurden in den Gleisschotter vor dem Hauptbahnhof gesetzt.» 1991 kamen bei den Investoren Zweifel auf an der Rentabilität des bereits bewilligten Projekts HB Südwest. 2001 gelangten die Stadt Zürich und die SBB zur Einsicht, dass die Pläne nicht geeignet waren zur Verwirklichung der gemeinsamen Planungsabsichten. Statt über den Gleisen sollte jetzt nur noch neben den Gleisen gebaut werden. So konnte sich die SBB, die nun selber als Bauherrin auftrat, die kostspielige Überdeckung sparen. Das Projekt trug vorerst den Namen Stadtraum HB. SBB und Stadt starteten ein sogenanntes Testplanungsverfahren mit drei Planungsteams und neuen städtebaulichen Er-


kenntnissen. Die Planung umfasste sowohl den Stadtraum HB Süd entlang der Lagerstrasse als auch den Stadtraum HB Nord entlang der Zollstrasse. 2009 wurde der Stadtraum HB Süd in Europaallee umbenannt. Briefpost und Baudienste ziehen aus Der Wandel der Technik und der Nutzung des Areals nahm seinen Lauf: Die Baudienste der SBB wurden ins Kohlendreieck verlegt. Post und Abstellgleise wurden aufgehoben. Die Sihlpost war ab 2008 für neue Nutzungen frei; das Briefpostzentrum mit seiner grünen Naturstein-

fassade hinter der Sihlpost wurde abgebrochen. Die Post zentralisiert die Briefsortierung in Mülligen. Das alte Gebäude der Sihlpost, das Juwel des neuen Stadtteils, steht unter Denkmalschutz und bleibt erhalten. Es ist das ideale Verbindungselement zwischen Europaallee und neuer Sihlpromenade. Baulich wird die Sihlpost vollständig ausgehöhlt. Das Umbauprojekt kombiniert historisches Ambiente mit moderner Funktionalität. Im Erdgeschoss ziehen Restaurants und Läden ein. Die oberen Räume stehen für offene Nutzungen und Büros zur Verfügung.

Die historische Sihlpost passt ins Gefüge der modernen Europaallee.

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Die Durchmesserlinie

hätte es ursprünglich gar nicht geben sollen. Erst der Widerstand gegen das offizielle Projekt zum Ausbau des Bahnknotens Zürich verhalf ihr zum Durchbruch. Heute sind sich alle einig, dass der zweite unterirdische Durchgangsbahnhof eine ausserordentlich weitsichtige Lösung ist. Die Durchmesserlinie stärkt den öffentlichen Verkehr ebenso wie den Wirtschaftsraum Zürich.

ISBN: 978-3-906055-18-3


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