Eiger extrem – Das Rennen um die Nordwand-Direttissima

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EIGER EXTREM

Das Rennen um die Nordwand-Direttissima

Peter & Leni Gillman mit Jochen Hemmleb



Peter & Leni Gillman mit Jochen Hemmleb

Eiger extrem Das Rennen um die Nordwand-Direttissima

Ăœbersetzung Jochen Hemmleb

AS Verlag


Für die englische Originalausgabe: Copyright © 2015 by Peter Gillman Ltd Published by Arrangement with SIMON & SCHUSTER UK LTD., London Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Grabsen.

www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2016 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Übersetzung aus dem Englischen: Jochen Hemmleb, Lana Lektorat: Daniel Anker, Bern Korrektorat: Ellen Elfriede Schneider, Pratteln Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-43-5


Inhalt

6 Vorwort des Übersetzers

9 Prolog: Die Suche

19 Gipfeltreffen in Trient

33 Nimbus

57 Verliebt

75 Die Linie des fallenden Tropfens

99 Eiger – Der Killer

111 Ein Kommen und Gehen

137 Die Unbekannten

177 Die Konkurrenz ist unterwegs

205 Unschlagbar, unsterblich

219 Parallele Wege

251 Sturmtage

267 Der Wendepunkt

281 Eine glückliche Szene

313 Das Teleskop

329 Dann war der Teufel los

357 Ein Wunder und ein Traum

373 Abschiede

409 Der Schatten

437 Anhang

Routenbeschreibung . 438 Bildnachweis . 441 Literatur- und Quellenverzeichnis . 442 Personenregister . 444 Sachregister . 446 Dank . 448


Der Troubadour: Peter Haag und Barbara, 1965.


KAPITEL 7

D ie U nbekannten


B

ei ihrem ersten Rendezvous nahm Peter Haag seine zukünftige Frau mit zum Eiger. Ihr Besuch war der Höhepunkt einer drama-

tischen Begegnung auf dem Mer de Glace und einer ereignisreichen

Reise von Chamonix nach Grindelwald. Barbara Morlok war damals 24 und hatte Haag bereits einige Jahre gekannt, als sie im Sommer 1965 mit einer Gruppe der Alpenvereinssektion ihrer Heimatstadt Reutlingen nach Chamonix fuhr. Haag stieß dort zu ihnen, nachdem er zusammen mit dem tschechoslowakischen Kletterer Karl Hauschke die Matterhorn-Nordwand durchstiegen hatte. Die Gruppe campierte am Mer de Glace und Haag war mit einem Bergführer unterwegs, als dieser von Steinschlag getroffen wurde und sich ein Bein brach. Alle zogen sich in ihre Zelte zurück und saßen 24 Stunden lang einen Sturm aus. «Peter redete die ganze Zeit über vom Eiger», erzählte Barbara 2014. Als der Sturm vorüberzog, traf eine Rettungsmannschaft ein und barg den verletzten Bergführer. Die meisten Teilnehmer entschlossen sich, nach Reutlingen zurückzufahren. Doch Haag schlug Barbara vor, sie sollten stattdessen den Eiger besuchen. Beide hatten wenig Ausrüstung und Geld, also begannen sie zu trampen. Einmal übernachteten sie in einem Eisenbahnwaggon auf einem Abstellgleis an der französisch-schweizerischen Grenze und mussten am Morgen eiligst abspringen, als sich der Zug in Bewegung setzte. Schließlich erreichten sie Grindelwald und wanderten zu einem Aussichtspunkt, von wo aus sie die Nordwand sehen konnten. «Er erklärte mir alles, was er geplant hatte. Er zeigte mir die Route und meinte, das sei, was er machen wolle. Es war seine große Herausforderung – und ich staunte einfach nur.» Es waren Haags Leidenschaft und Enthusiasmus, mit denen er Barbaras Zuneigung gewann. «Er war ein sehr interessanter, intelligenter, talentierter, unterhaltsamer und geselliger Mensch», meinte sie 2014. «Ich liebte es, Zeit mit ihm zu verbringen, und wir konnten uns über einfach alles unterhalten.» Haag, der 28 war, als er Barbara zum ersten Mal den Eiger zeigte, wurde im August 1937 in München geboren. Sein Großvater besaß eine Baufirma und sein Vater Adolf war ein Ingenieur, der im Ersten 138


Weltkrieg gekämpft und anschließend am Netzwerk der Autobahnen gearbeitet hatte, das in den 1930er-Jahren ganz Deutschland zu überziehen begann. Im aufkommenden Nationalsozialismus widerstand er allem Druck, der NSDAP beizutreten. Während des Zweiten Weltkriegs war er Offizier in einem Pionierkorps, welches zunächst Brücken zur Unterstützung der vorrückenden deutschen Truppen baute – um dann, als sich die deutsche Armee auf dem Rückzug befand, damit beauftragt zu werden, sie wieder abzureißen. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg tat er laut Barbara sein Bestes, es in seinen Erzählungen wie Spaß klingen zu lassen – «wie als hätten sie Cowboys und Indianer gespielt». Zu Beginn des Krieges nahm Haags Mutter ihn mit zu ihren Eltern im schwäbischen Auingen. Die Rückkehr des Vaters 1945 bedeutete eine Zeit der Neuanpassung, die in vielen Familien geschah. Während sein Vater weg war, hatte Haag seine Mutter für sich alleine, gewann ihre volle Aufmerksamkeit und schlief im selben Bett. Dies endete, als sein Vater zurückkam, und sorgte für Spannungen, die sich niemals mehr vollständig lösen sollten. Sein ganzes Leben lang tat er sein Bestes, Konfrontationen zu vermeiden und wenn möglich einen Kompromiss zu suchen. Dabei entwickelte er soziale Kompetenzen, die ihm eine große Gruppe Freunde und noch mehr Bekannte einbrachten. Er mochte schnell andere Leute und konnte sich in sie einfühlen; auch konnte er sie schnell von seinen eigenen Argumenten überzeugen. «Peter war sehr diplomatisch und bekam üblicherweise, was er wollte», sagte Barbara 2014. «Er war ein völliger Individualist, kam aber mit jedem aus.» Haags Vater fand nach dem Krieg Arbeit als Ingenieur in Reutlingen, wohin ihm die Familie folgte. Als Haag älter wurde, zeigte er eine Vielzahl Talente. Er übernahm eine Liebe für Gesang und das Schreiben von Gedichten von seiner Mutter, die aus einer musikalischen Familie stammte und ihn Klavierunterricht nehmen ließ. Er folgte den Fußstapfen seines Vaters, indem er ein erfolgreicher Turner wurde. Beide gewannen Titel in nationalen Meisterschaften. Mit 17 nahmen eine Gruppe Freunde Haag mit zum Klettern an die Felsen der Schwäbischen Alb nahe seiner Heimatstadt. Haag fing Feuer 139


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Überlebt: Roland Votteler (l.) erreicht am 25. März 1966 als Letzter den Eigergipfel; Sigi Hupfauer (r.) empfängt ihn.


K A P I T E L 16

E in W under und ein T raum


B

onington und Burke erwachten, als das erste Morgenlicht durch die Wände ihrer Schneehöhle schimmerte. Das Tosen

des Windes klang stärker denn je. Bonington schrieb später, er wäre überzeugt gewesen, dass die Bergsteiger in der Wand in solch einem wilden Sturm wenig Überlebenschancen hätten. Aber er und Burke waren machtlos. Sie konnten ihnen nur helfen, indem sie zur Kleinen Scheidegg abstiegen, um mehr Ausrüstung zu holen und eine Rettungsmannschaft auf die Beine zu stellen. Diese könnte mit Glück

am Nachmittag in der Westflanke sein. Bonington hoffte, dass es nicht zu spät wäre. Unten auf der Kleinen Scheidegg fürchtete ich genauso wie Bonington um die Bergsteiger. Ich versuchte gerade zu kalkulieren, wie lange es dauern würde, bis er und Burke zur Kleinen Scheidegg abgestiegen waren, als es an meiner Tür klopfte. Es war Toni Hiebeler, der mir sagte, dass er, Golikow, Rosenzopf und Schnaidt planten, über die Westflanke aufzusteigen, um den Bergsteigern in der Wand zu Hilfe zu kommen. Hiebeler teilte mir auch mit, dass Haag nicht mitkommen könne, da er unter einem entzündeten Zahn litt. Er fragte, ob Kor sich ihnen anschließen würde. Es war 6 Uhr, und mein erster Gedanke war, Bonington zu kontaktieren. Zu meiner Erleichterung meldete er sich auf meinen Funkspruch, und ich sagte ihm, dass eine Rettungsmannschaft auf dem Weg sein würde. Bonington antwortete, dass er und Burke in diesem Fall an Ort und Stelle blieben und eine genügend große Schneehöhle graben würden, um Bergsteiger wie Retter zu beherbergen. Ich fragte Bonington, ob er noch etwas benötige. Er schaffte es noch zu sagen, «Ja, wir hätten gerne . . .», bevor seine Stimme zu einem verzerrten Knistern wurde. Unsere Funkgeräte waren einmal mehr ausgefallen. Ich erinnerte mich, dass Frey mit Lehne kommuniziert hatte, indem er ihn bat, die Sprechtaste zu drücken, um Ja oder Nein zu signalisieren. Ich probierte das gleiche mit Bonington – und es funktionierte. Dann versuchte ich, seinen Bedarf vorherzusagen und zählte eine Liste möglicher Ausrüstungsgegenstände für den Notfall auf. Ich bat ihn, zur Antwort mit «Ja» die Taste dreimal zu drücken, für «Nein» zweimal. So erfuhr ich, dass er Gaskartuschen, Handschu358


he und Schneebrillen benötigte; er brauchte dagegen keine weiteren Seile und konnte die Information übermitteln, dass er und Burke planten, weiter höher in der Westflanke eine neue Schneehöhle zu graben. Kor fand ich in Boningtons Schlafzimmer. Ich fragte ihn, ob er sich der Rettungsmannschaft anschließen wolle. Er meinte aber, falls es nicht absolut notwendig wäre, würde er es vorziehen, an Harlins Beerdigung teilzunehmen. Sie fand an diesem Nachmittag in Leysin statt. Er suchte nach einem Hemd und fand eines unter Boningtons Kleidern. Allerdings passte es ihm kaum, da es viel zu klein war. Er fragte, ob ich einen Schlips hätte, und ich holte ihm den, den ich mir von Harlin für das Begräbnis von Hilti von Allmen acht Tage zuvor ausgeborgt hatte. Ich ging hinab ins Foyer des Hotels, wo ich Haag traf, der nach Bohrhaken, Bohrmeißel und einigen Kochtöpfen für das Rettungsteam suchte. Kor lieferte die Haken und den Bohrer, doch wir fanden nur einen verbeulten Teekessel ohne Deckel. Haag hatte Gaskartuschen, ich fand einige Handschuhe in Boningtons Zimmer und kaufte ein paar Skibrillen im Skiladen neben dem Hotel. Die Rettungsmannschaft saß bereits im Zug zur Station Eigergletscher, und ich reichte ihnen die Skibrillen durch das Fenster. Als der Zug abfuhr, rief ich Hiebeler zu, dass Bonington und Burke planten, ein Biwak in Gipfelnähe einzurichten. Inzwischen bereiteten sich Bonington und Burke vor, ihre Schneehöhle zu verlassen. Nach einem Kampf mit ihrer steifgefrorenen Überbekleidung stiegen sie die Westflanke hinauf, wobei sie sich gegen die Wucht des Windes stemmten. An diesem Tag wurden auf der Wetterstation am benachbarten Jungfraujoch Stürme von 120 Stundenkilometern gemessen. Als sie in die Nordwand hineinsahen, konnten sie kein Lebenszeichen ausmachen, nur wirbelnde Wolken aus Eis und Schnee. Sie fanden eine geeignete Stelle für eine neue Schneehöhle und begannen zu graben. Später an diesem Morgen wanderte ich hinauf zum Stöckli. Dabei kämpfte ich mich durch den Wind, der heftiger denn je schien. Angesichts meines nicht richtig funktionierenden Funkgeräts hielt ich 359


Im Februar 1966 trafen zwei Bergsteigerteams am Fuss der EigerNordwand ein. Ziel: die Wand auf einer neuen Direktroute zu durchsteigen. Das eine Team unter der Leitung des Amerikaners John Harlin – das andere acht vergleichsweise unbekannte Kletterer aus Deutschland. Harlin plante einen schnellen Aufstieg im Alpinstil, während die Deutschen die Wand langsam und beharrlich durchsteigen wollten. Ein Wettrennen begann.

ISBN 978-3-906055-28-2 ISBN: 978-3-906055-43-5


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