Faszination Bergwiesen

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Faszination

BergWiesen

Die sch枚nsten Wiesenlandschaften der Schweiz

Roland Gerth 路 Emil Zopfi





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BergWiesen

Die sch枚nsten Wiesenlandschaften der Schweiz

Fotos 路 Roland Gerth Texte 路 Emil Zopfi

AS Verlag


Bergwiesen – das farbenprächtige Kleid der Alpen Emil Zopfi

Wildheu. Es war noch Nacht, als mich meine Cousine weckte. «Auf geht’s ins Wildheu!» Ich war neun Jahre alt, und der Weg den Berg hinauf war weit. Der Bauer und der Knecht waren schon früher aufgebrochen. Hoch oben an den steilen Flanken des Ortstocks bei Braunwald hatten die Männer einen breiten Streifen des feinen Berggrases gemäht, nebenan werkten andere Bauern aus dem Dorf. Meine Cousine und ich verzetteten das Gras. Nach dem Mittagsimbiss war es schon dürr, wir konnten es zusammenrechen. Die Männer banden das Heu in Netzen zu grossen Bündeln, schulterten sie, trugen sie vorsichtig Fuss vor Fuss setzend den Steilhang hinab zu einem Drahtseil. Holzklötze mit einem Schlitz dienten als Aufhängung, man gab den Bündeln einen Stoss, und sie sausten hinab auf eine Alp. Mit Eisenrollen schwebten sie dann an einem zweiten, weniger steilen Heuseil direkt zum Hof. Wildheuen war harte Arbeit, doch es war sehr lustvoll, an einem sonnigen Tag hoch am Berg das duftende Heu einzubringen. Ganze Familien aus dem Dorf halfen mit, man scherzte untereinander, die jungen Leute neckten sich, die Burschen zeigten ihre braungebrannten, muskelbepackten Körper, man zählte, wie viele Burden der oder jener geschafft hatte. Wildheu war das bessere Futter als jenes, das man unten beim Hof einbrachte. Der Grossvater meiner Frau, ein armer Bergbauer, pflegte nach altem Brauch das beste Heu bis Weihnachten aufzubewahren und am Heiligen Abend zu verfüttern. Denn in jener Nacht können die Tiere sprechen und ihren Meister loben oder sich über ihn beklagen. Wildheuen ist heute nur noch von geringer wirtschaftlicher Bedeutung, doch wird es von Freiwilligen oder Bergbauern da und dort weiter gepflegt, damit dieser schöne Brauch nicht verloren geht und die Bergwiesen nicht verganden. Bei regelmässiger Nutzung sind Wildheuflächen von grossem Artenreichtum. Durch das Mähen und das Säubern der Wiesen von Geröll wird das Risiko von Erdrutschen und Gleitschneeschäden vermindert. Darum fördert zum Beispiel der Kanton Uri das Wildheuen mit einem besonderen Programm. Am Rophaien über dem Urnersee gibt es einen Wildheu-Lehrpfad.

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Lebensgrundlage. Eine Glarner Sage erzählt von den Sennen einer Alp, die lieber ins Tal hinunterstiegen zum Tanz als hoch hinauf am Berg, wo die besten Kräuter wuchsen. Mit diesem Futter, «Mutteri» genannt, gaben die Kühe so viel Milch, dass die Sennen dreimal im Tag melken mussten. Das war ihnen zu anstrengend. «Wänn nu der Gugger das Gras nähm!», riefen sie aus. Und wie das in den Sagen so geht, das gute Gras verdorrte, und es wuchs nur noch schlechtes, sogenanntes «Fideri». Mit «Mutteri» ist die Alpen-Mutterwurz gemeint, ein aromatischer Doldenblütler, reich an Eiweiss und Fett, nicht nur bestes Viehfutter, sondern auch Küchenkraut und Käsegewürz. Die Wurzeln werden für Schnäpse und Liköre verwendet. Bergwiesen und Alpweiden waren für unsere Vorfahren die wichtigste Lebensgrundlage. Sie lieferten das Viehfutter für die Milch-, Käse-, Butter- und Fleischproduktion, aber noch viel mehr. Essbare Blätter, Blüten und Wurzeln sorgten für vitaminreiche Nahrung. Feines Wildgemüse, ähnlich dem Spinat, kochte man aus den jungen Blättern von Alpenkratzdisteln oder Brennesseln. Die Triebe von Wiesen-Bocksbart geben ein spargelähnliches Gemüse, seine Wurzeln schmecken wie Schwarzwurzeln. Aus Löwenzahnblättern, Klee, Margriten und vielen anderen Wildpflanzen machen Liebhaber heute noch Salat. Der Bärlauch ist in jüngster Zeit als trendige Delikatesse wiederentdeckt worden. Meine Mutter, eine Bergbauerntochter, kochte Honig aus den Blüten des Löwenzahns. Im Sommer zog die ganze Familie mit Kesseln ausgerüstet auf die Mettmenalp im Glarnerland und sammelte Heidelbeeren für Konfitüre. Der Grossvater meiner Frau gab seinen Enkeln die Böden von Silberdisteln zum Knabbern. Er nannte diese Delikatesse «Mahdäpfel». Naturapotheke. Bergwiesen mit ihrem Reichtum an Pflanzen waren nicht nur Speisekammer, sondern auch die Apotheke unserer Vorfahren. Schon seit Jahrhunderten wussten sie um die Heilkräfte der Pflanzen. Naturforscher und Ärzte wie Paracelsus (1493–1541) oder der Zürcher Conrad Gessner (1516–1565) verwendeten Heilpflanzen, von deren Wirkung sie von Kundigen aus dem Volk oder aus eigener Praxis erfahren hatten. Im Gessner-Garten im Alten Botanischen


Garten in Zürich zeigen etwa fünfzig Kräuter und Sträucher mit zeitgenössischen Texten, wozu Heilpflanzen im 16. Jahrhundert Verwendung fanden. Wacholder: Der Rauch davon verjagt die Schlangen und den vergifften Dufft. Derhalben wo die Pestilentz regiert, sol man stätz von Weckholder Holtz Rauch machen in allen Gemachen darinnen man wonet. Wald-Erdbeere: Die Brüe davon im Mund gehalten bekrefftigt und befestigt das Zanfleysch, heylet die Mundfeule und vertreibt den Bösen Geschmack des Mundes. Paracelsus suchte in der Umgebung der Kranken nach der passenden Heilpflanze, er sagte: «Wo die Krankheit, da das Heilmittel.» Ein leidenschaftlicher Botaniker und Arzt war Johannes Hegetschweiler (1789–1839), der in Stäfa am Zürichsee praktizierte und auf Expeditionen beim Versuch, den Tödi von Norden zu besteigen, ausgiebig botanische Forschungen betrieb. Er stiess mit seinen Führern in damals noch selten betretene Höhen vor. Im August 1819 wunderte er sich, auf 2500 Meter über Meer an einem Felssporn des Tödi über dem Bifertengletscher eine vielfältige Pflanzenwelt vorzufinden. «Weil rings bereits alles Leben erstorben, könnte man dieses Horn das grüne nennen.» Auf dem Grünhorn baute der Schweizer Alpen-Club 1863 seine erste Schutzhütte. Hegetschweiler wurde nach der liberalen Wende 1830 erster Zürcher Regierungsrat der Landschaft und gründete den ersten Botanischen Garten der Universität Zürich auf dem alten Bollwerk «zur Katz». Sein grosses Werk Die Flora der Schweiz erschien nach seinem Tod, er verstarb nach einem Attentat im «Züriputsch» vom 6. September 1839.

Die Homöopathie bedient sich seit ihrem Begründer Samuel Hahnemann (1755–1843) der botanischen Apotheke. Aus Eisenhut oder Tollkirsche werden auch heute noch homöopathische Grundsubstanzen für fiebersenkende Mittel gewonnen. In meiner Jugend auf dem Land stand in fast jedem Haushalt Das Grosse Kräuterheilbuch des Kräuterpfarrers Johann Künzle (1857–1945). Der aus der Nähe von St. Gallen stammende katholische Geistliche war ein grosser Förderer von Alternativmedizin und Pflanzenheilkunde. Ich erinnere mich, dass wir Warzen mit dem Saft von Wolfsmilch oder Fetthenne bekämpften. Zu den Hausmitteln mit selbst gesuchten Pflanzen gehörten Salbei-, Spitzwegerich- oder Kamillentee. Eine altbekannte Heilpflanze ist der Gelbe Enzian, aus dessen Wurzeln heute noch Enzianschnaps gebrannt wird. Nebst Rausch- und Genussmittel ist der «Enzian» als Stärkungsmittel und Arznei bei Magen-, Milz oder Leberbeschwerden bekannt. Die Pflanze ist geschützt, doch gibt es Bewilligungen zum Stechen der Wurzeln. Bergpflanzen werden oft geheimnisvolle Kräfte zugeschrieben. Eine Frau aus Einsiedeln erzählte uns, dass sie und ihre Schwester in der Johannisnacht, der Nacht vor dem 24. Juni, drei Arnikablüten unters Kopfkissen legten. Sie glaubten, im Traum würde ihnen dann ihr Zukünftiger erscheinen. Die Arnika, auch Johannisblume, Wolfsbanner oder Donnerblume genannt, wird mit vielerlei Zauberkräften in Verbindung gebracht. Unter anderem soll sie vor Hexen und Blitzschlag schützen.

Heilkraft. Sagen berichten von der Heilkraft der Bergpflanzen. Als einst in Graubünden die Pest grassierte, entlockten die Leute einem Wildmännlein das Geheimnis, dass «Eberwürza und Bibernell» gegen den Schwarzen Tod helfe, also Golddistel und die Doldenblütler Bibernellen oder Pimpernellen. Aus anderen Gegenden stammt der Reim «Baldrian und Bibernell, hält die Pestilenz zur Stell». Nicht gegen die Pest, aber gegen Katarrh und Entzündungen in Mund und Rachen soll Gurgeln mit Bibernellentee helfen.

Menschenwerk. Bergwiesen und Alpweiden unter der Waldgrenze sind im Laufe der Geschichte durch Eingriffe der Menschen in die Natur entstanden. Seit fünftausend Jahren betreiben sie Ackerbau und Viehzucht, dazu haben sie Wälder gerodet, um Kultur- und Weideland zu gewinnen. Überall unter der Waldgrenze würden sich sonst Wälder ausbreiten. Selbst Gebirgspässe wären bewaldet, etwa Gotthard, Bernina und Simplon. Durch Rodungen sank zum Teil die Waldgrenze um bis zu zweihundert Meter.

Alpen-Kratzdisteln stossen durch eine dünne Neuschneeschicht am Schottensee auf 2335 Meter über Meer nördlich des Pizolgipfels im St. Galler Oberland. Blühende Pippau umgeben einen mit Thymian bewachsenen Felsbrocken im Moorgebiet des Thurtalerstofel bei der Selamatt nördlich der Churfirsten.

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Der Lisengrat vom S채ntisgipfel zum Rotsteinpass ist eine klassische, etwas ausgesetzte Alpsteinwanderung. Sie f체hrt durch ein botanisches Paradies, hier im Vordergrund gelbes Greiskraut und Wiesen-Storchenschnabel.

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Links: Im Herbst bilden die Blätter kriechender Weiden einen warmen Teppich von Rot-, Gelbund Brauntönen – hier im Kontrast zu den bizarren Felszacken von Il Jalet, einem kleinen Gipfel westlich des Ofenpasses. Rechte Seite: Wie ein verzaubertes Liebespaar. Edelweiss auf Mot Tavrü über dem Val S-charl auf 2420 Meter über Meer. Auf dem grasigen Gratrücken zum Piz Tavrü verläuft die Grenze des Schweizerischen Nationalparks.

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Links: Auf einer Lichtung im Bödmerenwald am Pragelpass zwischen Glarus und Schwyz wachsen Trollblumen auf dem sumpfigen Grund. In dem Karstgebiet hat sich seit der letzten Eiszeit ein subalpiner Urwald entwickelt mit Moorbirken, Bergföhren, Buchen und bis zu 500 Jahre alten Fichten. Seit 1983 steht der Wald unter dem Schutz der Stiftung Urwaldreservat Bödmeren. Rechte Seite: Der untergehende Mond berührt die Spitze des Blüembergs über dem Muotatal. Hinter der mit Eisenhutblättrigem Hahnenfuss durchsetzten Wiese steht «schwarz und schweigend» der Bödmerenwald am Pragelpass.

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Links: Geschützt in einer Karstspalte blüht ein Blauer Eisenhut bei der Suls-Lobhornhütte auf 1950 Meter über Meer hoch über dem Lauterbrunnental. Das Panorama von Eiger, Mönch und Jungfrau stiehlt der einsamen Blume die Show. Rechte Seite: Über dem hinteren Lauterbrunnental ragt der Gipfel der Jungfrau in den Himmel, rechts davon die düsteren Nordwände von Äbeni Flue, Mittaghorn und Grosshorn. Der warme Teppich der herbstlichen Heidelbeersträucher lädt zum Träumen ein.

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Der Autor

Seen, Flüsse, Wasserfälle und Gletscher prägen die Bergwelt der Schweiz. Die Kraft der Natur hat die einzigartige Vielfalt der Alpengewässer geformt und faszinierende Landschaften geschaffen. Versteckte, geheimnisvolle, verträumte – aber auch wilde und atemberaubende Orte, dominiert von einem Element: Wasser.

Der Fotograf Roland Gerth führt uns mit seinen Bildern auf eine Reise durch die wilde und geheimnisvolle Welt der Schweizer Bergwälder. Dabei wird uns deren Schönheit und deren Bedeutung als Schutz vor Naturgefahren, als Lebensraum für Pflanzen und Tiere von grosser Artenvielfalt sowie als Oase der Ruhe und Besinnung für den Menschen bewusst.

Roland Gerth, Emil Zopfi Faszination Bergwasser – Die schönsten Wasserlandschaften der Schweiz 128 Seiten, 100 Abb. vierfarbig 30 x 24 cm, Hardcover ISBN 978-3-906055-17-6

Roland Gerth, Emil Zopfi Faszination Bergwälder – Die schönsten Waldlandschaften der Schweiz 128 Seiten, 106 Abb. vierfarbig 30 x 24 cm, Hardcover ISBN 978-3-906055-35-0

Rechte Seite: Trockenmauern zum Einzäunen von Grundbesitz wie hier in der Combe des Amburnex sind typisch für Hochjuraweiden. Sie bilden Lebensräume für Reptilien und Insekten. Die alte Kulturtechnik des Baus von Trockenmauern wird heute zum Teil wieder gepflegt,

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meist von Freiwilligen unter Anleitung von Fachleuten. Vor der Mauer Knabenkraut und Trollblumen. Folgende Doppelseite: Teich in einem Moorgebiet auf dem Heinzenberg oberhalb von Thusis am Hinterrhein.

Roland Gerth, geboren 1955 in St. Gallen. Aufgewachsen in Thal am Bodensee, wo er nach einigen Wanderjahren heute wieder lebt. Ausbildung zum Primarlehrer, nebenbei erarbeitete er sich ein fotografisches Know-how, welches er auf einer 17-monatigen Reise durch Südund Nordamerika weiter verfeinerte. 1988 begann er, seine Bilder den Buch- und Kalenderverlagen in Deutsch­land und der Schweiz anzubieten. Mittlerweile wurden 33 Bücher und über 100 Autorenkalender mit seinen Fotos veröffentlicht. 2001 machte er sein Hobby zum Beruf und arbeitet seither als freischaffender Natur- und Reisefotograf. Seine Leidenschaft gilt spektakulären Naturland­­schaften, die er auf allen Kontinenten, aber auch in seiner Heimat aufspürt und in speziellem Licht festzuhalten versteht.

Foto: Marco Volken

Der Fotograf

Foto: Nathalie Gerth

Aus dieser Reihe

Emil Zopfi, geboren 1943, studierte Elektrotechnik und arbeitete als Entwicklungsingenieur und Computerfachmann in der Industrie. 1977 erschien der Roman «Jede Minute kostet 33 Franken». Seither hat er mehrere Romane, Hörspiele und Kinderbücher verfasst – sowie Presseartikel, Reportagen, Kurzgeschichten und Kolumnen. Er lebt als freischaffender Schriftsteller in Zürich und ist passionierter Sportkletterer. Für seine Werke wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. von Stadt und Kanton Zürich, der Kulturstiftung Landis & Gyr, der Schweizerischen Schillerstiftung, mit dem Kulturpreis des Schweizer Alpen Clubs, dem King Albert I Mountain Award und dem Glarner Kulturpreis.

Dank Für Beratung und Unterstützung beim Bestimmen der Pflanzen für die Bücher BergWasser, BergWälder und den vorliegenden Band BergWiesen danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Botanischen Gartens der Universität Zürich aus dem Team von Gartenleiter Peter Enz, namentlich Barbara Bachmann, Bernhard Hirzel, Nadine Kofmehl und Elisabeth Schneeberger. Für tatkräftige Unterstützung und Anregungen danke ich meiner Frau Christa Zopfi.





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BergWiesen

Ob Krokus, Wollgras, Alpenrose oder Eisenhut: Bergwiesen sind Lebensräume für eine Vielfalt von Pflanzen und Tieren – aber auch seit Jahrhunderten von Bergbewohnern genutzte Kulturlandschaften. Der bekannte Landschaftsfotograf Roland Gerth hat Bergwiesen der ganzen Schweiz in faszinierenden Bildern festgehalten.

ISBN 978-3-906055-42-8


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