Der Weg zur Spitze

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Bernadette McDonald

DE R W E G Z U R SPITZE

Die Geschichte des slowenischen Alpinismus



Bernadette McDonald

Der Weg zur Spitze Die Geschichte des slowenischen Alpinismus

Aus dem Englischen Ăźbersetzt von Robert Steiner

AS Verlag


Die Originalausgabe ist 2015 in englischer Sprache unter dem Titel «Alpine Warriors» von Bernadette McDonald bei Rocky Mountain Books, Kanada, erschienen. Copyright © 2015 Bernadette McDonald

www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2017 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag & Grafik, Urs Bolz, Zürich Lektorat: Daniel Anker, Bern Korrektorat: Carla Ritter-Just, Müllheim Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-66-4 Der AS Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.


Inhalt

Einleitung · 6

E I NS

Z W E I

Triglav im Winter · 27

DR E I

Eine Lektion in Sachen Geduld · 47

V IE R

Freunde wie diese · 85

F Ü N F

SECH S

SIE BE N

Träume wagen · 17

Das erste Todesopfer · 105 Everest-Westgrat · 127 Der größte Sieg · 177

AC H T

Dhaulagiri – eine Obsession · 195

N EU N

Verglühte Sterne · 207

Z E H N

Der Einzelgänger · 219

E L F

Die nächste Welle · 229

Z WÖ L F

DR E I Z E H N

Gewaltige Veränderungen · 243 Ein fantastischer Gipfel · 283

V IE R Z E H N

Die drei Musketiere · 297

F Ü N FZ E H N

Alleinflug · 311

SECH Z E H N

Krieg und Leid · 329

SIE BZ E H N

Dhaulagiri Echtzeit · 343

AC H T Z E H N

Kanadisches Abenteuer · 373

N EU NZ E H N

Tod in den Bergen · 387

Z WA N Z I G

Das Vermächtnis · 399

Anhang Dank . 422

Anmerkungen . 425 Ausgewählte Literatur und Quellenangaben . 430


Einleitung

Wer an ein Ziel gelangen will wird leer bleiben, nachdem er es erreicht hat. Wer aber den Weg gefunden hat, wird das Ziel immer in sich tragen. Nejc Zaplotnik, Pot 1

In den Schneeresten eines spätsommerlichen Wettersturzes wühlte ich nach dem Sicherungsseil, das an dem schmalen Band angebracht war, welches zum Gipfel des Triglav (2864 m) führte, des höchsten Berges Sloweniens. Mit vorsichtigen Schritten näherte ich mich dem Aljažev stolp, jener winzigen metallenen Notunterkunft auf dem Gipfel. Das Türmchen aus Blech ist ein bescheidenes Bauwerk und dennoch für alle Slowenen ein Symbol ihrer territorialen Souveränität. In der Tat hatte der Priester Aljaž den Gipfel des Triglav im Jahre 1895 für einen Florin gekauft, als Antwort auf die ausländische Unterdrückung, wie um zu sagen: «Wir sind die Herren unseres Landes.» Als ich den Gipfel erreichte, traute ich meinen Augen nicht. Dutzende Menschen waren in der Nähe des Türmchens versammelt, sie lachten und plauderten, aßen ihre Brotzeit und feierten ihre Besteigung. Junge Studenten warfen Schneebälle und machten Grimassen für Fotos. Eine etwas ältere Frau, flankiert von ihren beiden Bergführern, weinte still. Ein strahlendes Lächeln erhellte das Gesicht eines Mannes, der weder Arme noch Beine hatte. Ich sprach eine Gruppe junger Bergsteiger an. «Ist heute eine Art Nationalfeiertag?», fragte ich. «Nein, gar nicht, es ist ein ganz normales Wochenende», antwortete eine auffallend athletische Frau. 6


«Aber warum sind denn dann so viele Leute hier oben?», fragte ich. «Weil es Wochenende ist und wir Zeit haben», antwortete sie mit einem geduldigen Lächeln. «Wir sind Slowenen und dies ist der Triglav. Ihn zu besteigen ist unsere Pflicht. Jeder Slowene muss ihn wenigstens einmal besteigen.» Ich blickte hinüber zur weinenden Frau, die vielleicht erleichtert war, den Gipfel erreicht zu haben, oder möglicherweise Angst vor dem Abstieg hatte. Dann blickte ich wieder hinüber zum Mann ohne Arme und Beine. Seine Freunde mussten ihn wohl sehr gern haben, sie hatten ihn bei so ungünstigen Wetterverhältnissen zweitausend Höhenmeter bis hier herauf getragen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie sich auf dem Gipfel ihres Triglav fühlten – dem Nationalsymbol Sloweniens. Und ich staunte über den Charakter einer Nation, die der Meinung ist, ihre Bürger müssten ihren höchsten Berg besteigen, um wirklich Slowenen zu sein. In den nächsten paar Jahren vertiefte ich mich in diese vielfältige, komplexe, widersprüchliche und oft kontroverse Welt der slowenischen Bergsteiger, die zu den besten Alpinisten der Welt gehören. Manchmal unterhielten wir uns bei ein paar Gläschen guten lokalen Weins; manchmal kletterte ich mit ihnen. Diese Alpinisten hatten einige der weltweit eindrucksvollsten Besteigungen gemacht: die Südwand des Makalu, die Südwand des Lhotse, den direkten Westgrat des Everest, die Südwand des Dhaulagiri und noch viele andere. Den Namen Edmund Hillary kennt jeder, aber viele große slowenische Bergsteiger – und auch einige aus dem benachbarten Kroatien und Bosnien – sind nahezu unbekannt, obwohl ihre bemerkenswerten Erfolge fünfundzwanzig Jahre lang die tragende Säule des Himalayabergsteigens bildeten, in einer goldenen Ära des Alpinismus ab der Mitte der 1970er-Jahre. Diese stürmische und aufregende Periode kühner Besteigungen war kein Zufall. Die Alpinisten dieser Zeit waren mit einer legendären Führungsriege gesegnet, von einer unbeugsamen Entschlossenheit durchdrungen, durch nationale Trainingsprogramme gefördert und von einem Geist der Solidarität inspiriert, der sie dazu antrieb, die Alpingeschichte um etliche Routen von Weltrang zu erweitern. 7



K APITEL EINS

Tr äume

wagen


D

as Schiff glitt unter der sengenden Äquatorsonne über die spiegelglatte See. Eine leichte Brise kühlte die Alpinisten,

die an Seilen hochkletterten, an Deck Runden drehten und an allen nur denkbaren Stellen Klimmzüge machten. Die Mannschaft beobachtete sie verblüfft, diese Horde von «Affen» – die in Wirklichkeit jugoslawische Bergsteiger auf ihrem Weg nach Karachi waren. In der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien gab es nur eine Möglichkeit, in den Himalaya zu gelangen, nämlich als Mitglied einer nationalen Expedition, und diese Kletterer hatten hart trainiert, um einen Platz im Expeditionsteam zu ergattern. Sie taten alles, um ihre Kondition auf der zweiwöchigen Seefahrt nicht zu verlieren. Jugoslawiens erster Versuch, in der Arena des Himalayabergsteigens mitzumischen, war eine für 1956 geplante Expedition zum Manaslu. Der Plan wurde schon bald wieder fallen gelassen, hauptsächlich, weil die Regierung die Fördermittel gekürzt hatte. Vier Jahre später, im Jahre 1960, hatte man den 7816 Meter hohen Nanda Devi ins Visier genommen, einer der schönsten Berge Indiens und sein zweithöchster. Aber der Plan, den Fuß auf die «Göttin der Freude» zu setzen, sollte ebenfalls nicht verwirklicht werden. Während das hauptsächlich aus slowenischen Alpinisten bestehende Team den Indischen Ozean durchquerte, kam über Funk die Nachricht, dass die indische Regierung ihr Permit für den Nanda Devi widerrufen hatte und ihnen als Ersatz dessen Nachbarn, den Trisul, anbot. Natürlich waren die Bergsteiger enttäuscht, aber nicht lange. Die erste jugoslawische Expedition in den Himalaya war entschlossen, sich zu beweisen, und der Trisul sollte dafür das Testobjekt sein. Die drei Gipfel des Trisul bilden die südwestliche Ecke des Gipfelkranzes, der den Nanda-Devi-Nationalpark umschließt. Der Trisul I, mit 7120 Metern der höchste des Trios, war 1907 von Norden her vom Engländer Tom Longstaff mit den Führern Alexis und Henri Brocherel aus Courmayeur und dem Gurkha Karbir zum ersten Mal bestiegen worden. Und nun, 53 Jahre nach der Erstbesteigung, waren die Jugoslawen im Anmarsch. Aber das bescheidene Team von sieben Himalayaneulingen hatte nicht die Absicht, Longstaffs Spuren zu folgen.

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Sie wollten den Berg von der schwierigeren Südseite her erkunden und eine neue Route versuchen. Noch aber waren sie auf hoher See und hielten sich mit Training fit. Unter ihnen war ein junger Mann aus Ljubljana, der Hauptstadt der nördlichsten Republik Jugoslawiens, Slowenien. Aleš Kunaver wurde am 23. Juni 1935 geboren. Er kam aus einer gebildeten Familie. Seine aus Wien gebürtige Mutter war eine hervorragende Pianistin und sein Vater Pavel Geografielehrer und Astronom; er galt in Slowenien als einer der besten Karstforscher seiner Zeit. Aber Pavel war kein wirklichkeitsfremder Akademiker. Er war auch Bergsteiger, und man schrieb ihm zu, der erste slowenische Alpinist gewesen zu sein, der einen Haken in den Fels geschlagen hatte (obwohl sich später herausstellte, dass es eher eine hölzerne Wäscheklammer als ein eiserner Haken gewesen war). Aleš war ein guter, wenn auch etwas unkonventioneller Schüler. Er gab seine Hausaufgaben in Französisch nie rechtzeitig ab, konnte die Sprache aber fließend sprechen. Er war auch äußerst erfinderisch. Wenn er ein Werkzeug brauchte, so fabrizierte er es sich. Wenn er eine Windjacke brauchte, dann nähte er sich eine. Wenn er einen Haken brauchte, so schmiedete er sich einen, denn zu dieser Zeit war in den Geschäften Sloweniens keine Sportausrüstung – und auch sonst fast nichts – erhältlich. Selbst das sehr beschränkte Angebot an Nahrungsmitteln musste man über Lebensmittelmarken beziehen. Den Sommer verbrachte Aleš immer mit seiner Familie in einer kleinen Hütte im Vrata-Tal unter der Nordwand des Triglav. Es war von vornherein klar, dass er die Wand eines Tages durchsteigen würde. Seinen ersten Vorstoß unternahm er als Dreizehnjähriger. Während Aleš mit seinen Freunden oben in der steilen Wand kletterte, beobachtete Vater Pavel von tief unten jede Bewegung durch das Fernglas. Nejc Zaplotnik verstand Aleš’ Begeisterung für die vertikale Welt. Er schrieb in Pot: «Mein Einstieg in den Alpinismus war sehr romantisch. Berge waren meine Heimat, hier fühlte ich mich sicher und es war nur hier, wo ich mich als Herr der Lage fühlte. Im Tal . . . musste ich Dinge tun, die man von mir verlangte und erwartete, aber die Ber19


ge waren so grenzenlos wie meine Träume. Meine einzige Begrenzung war mein Körper.»4 Als Aleš’ Interesse am Klettern größer wurde, trat er der Sektion Ljubljana des slowenischen Alpenvereins bei. Dort war auch Dušica Zlobec Mitglied, eine neunzehnjährige Studentin aus Ljubljana. Ihre scharfe Intelligenz konnte man am direkten Blick ihrer tiefbraunen Augen erkennen. Als sie sich kennenlernten, war der gut aussehende Aleš mit seinem fein geschnittenen Gesicht schon Ausbilder und Obmann der Sektion. Es war Silvester 1954, und sie hielten sich in der Tamar-Schutzhütte auf. In der Sektion war es Tradition, auf den Gipfel des Jalovec zu kraxeln, um das neue Jahr zu begrüßen. Sie brachen um etwa neun Uhr abends auf und verweilten sechs oder sieben Stunden am Gipfel. Für Dušica brachte dieser Silvesterabend mehrere «erste Male»: Sie war zum ersten Mal bei Nacht in den Bergen, bestieg zum ersten Mal einen Berg im Winter und war zum ersten Mal verliebt. Der Aufstieg zum Gipfel verlief über ein Couloir, in dem sie vor Angst zitterte. «Als Aleš kam, fühlte ich mich so sicher. Ich spürte, dass er mich beschützen würde. Er sagte gar nichts, ging nur immer hinter mir her, um mir das Gefühl der Sicherheit zu geben.» Sie gab später zu, dass es Liebe auf den ersten Blick war. Sie heirateten und bekamen drei Kinder. In diesen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren in ganz Slowenien nur noch etwa ein Dutzend Kletterer aktiv. Die meisten anderen hatten sich den Widerstandskämpfern gegen das Naziregime angeschlossen – der Befreiungsfront bzw. ihrem bewaffneten Zweig, den Partisanen – und waren entweder im Gefängnis gelandet oder umgekommen. Die «Union Internationale des Associations d’Alpinisme» (UIAA) hatte das Klettern mit einer Skala von Schwierigkeitsgraden klassifiziert, wobei der Grad VI damals als höchste Schwierigkeit galt. Jeder, der in Slowenien diesen Grad beherrschte, war berühmt. Aleš war einer von ihnen. Das Liebesverhältnis des Slowenen mit den Bergen trug ebenfalls zu seinem Ruhm bei. «Ich glaube, es gab keine Nation auf der Welt, welche die Berge so liebte wie wir», erinnerte sich Dušica. 20


In diesen Nachkriegsjahren hatten die Kletterer aus ganz Jugoslawien mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, um überhaupt zu einem Berg im Ausland zu reisen. Das politische Verhältnis zwischen Jugoslawien und der UdSSR begann sich abzukühlen, und das bedeutete das Aus für den Zugang zum Kaukasus und zum Pamir. Das Hauptaugenmerk richtete sich nun auf die Dolomiten und die Westalpen, aber die Kletterer benötigten für die westeuropäischen Länder immer noch Visa. Um die zu erhalten, mussten sie erst einmal im fernen Belgrad, der Hauptstadt Jugoslawiens, vorsprechen. Ihr zweites Problem war das Geld. Weil sie keinen Zugang zu Fremdwährungen hatten, mussten viele jugoslawische Kletterer auf diesen frühen Reisen in die Alpen richtig Hunger leiden. Aleš war einer von ihnen. Sein Trost: Wie Nejc später hatte er sich den Bergen voll und ganz verschrieben. Aus Pot: Die Berge haben mir gegeben, was die Menschen in den Städten längst verloren haben . . . Über tausende von Jahren mussten die Menschen sich der Natur anpassen, aus der sie Kraft und Leben schöpften. Nun aber wurde von ihnen plötzlich erwartet, dass sie tagein, tagaus ein ruhiges, sesshaftes, banales Leben lebten. Wir vergessen, dass wir trotz aller Maschinen und Gebäude immer noch nur ein Teil der Natur sind. In meinem Inneren trug ich das Leben und Sterben von Menschen aus Jahrtausenden. Aber sie drückten mich nicht nieder. Sie gaben mir eine Kraft, die ich gar nicht zur Gänze ausschöpfen konnte. Ein Feuer brannte in mir und ich wusste nur zwei Wege des Entkommens: es entweder weiter zu schüren oder mich von ihm verbrennen zu lassen.5

Aleš’ Träume reichten über die Julischen Alpen hinaus. Sogar bis über die französischen Alpen. Er wollte zum Himalaya, und 1960 erhielt er seine Chance.

*** Bei der Trisul-Expedition war alles neu. Die Alpinisten mussten ihre gesamte Ausrüstung selbst herstellen, die Materialien auftrei21


Links oben: Tone

Rechts oben: Ge-

Rechts unten:

Sazonov bei der Winter-

mälde des Künstlers

Nejc Zaplotnik als

erstdurchsteigung

und Alpinisten

junger Mann. Nejc

des Čop-Pfeilers in der

Danilo Cedilnik.

Zaplotnik collection

Triglav-Nordwand, 1968.

Archiv Danilo Cedilnik

Archiv Aleš Kunaver

Rechte Seite: Nejc

Rechts Mitte: Viki Grošelj

Zaplotnik trainiert mit

Links unten: Nejc

auf einem seiner ersten

seinem Sohn. Archiv

Zaplotnik als kleiner

Kletterausflüge am

Nejc Zaplotnik

Junge mit seinem

Turnc. Er war damals

Bruder (rechts) und

13 Jahre alt.

seiner Schwester.

Archiv Danilo Cedilnik

Archiv Nejc Zaplotnik




Linke Seite: Nejc

Unten links: Stane Belak

Unten rechts:

Zaplotnik (rechts)

(Šrauf) mit Edelweiß,

Marjan Manfreda am

als junger Mann, der

der Blume, mit der er

Makalu, 1975.

gerade das Klettern

um seine spätere Frau

Archiv Aleš Kunaver

lernt. Man beachte

Jožica warb.

den Sitzgurt.

Archiv Stane Belak

Archiv Andrej Štremfelj

Unten Mitte: Stane

Oben: In der Süd-

Belak (Šrauf) am

wand des Makalu auf

Makalu, 1975, bevor er

7500 Metern.

mit Marjan Manfreda

Archiv Viki Grošelj

die Erstdurchsteigung der Südwand machte. Archiv Aleš Kunaver



KAPITEL VIER

F reunde

wie diese


A

ls das Tageslicht schwächer wurde und die bittere Kälte der Nacht herankroch, suchten Stane Belak (Šrauf) und Marjan

Manfreda in ihrem Zelt auf Camp V Unterschlupf. Es war der 5. Oktober 1975. Die beiden waren oben in der Südwand des Makalu, auf

einer Höhe von achttausend Metern; durstig wie Kamele in der Wüste. Šrauf schmolz mit dem Kocher Schnee und Marjan bastelte an den Sauerstoffflaschen herum. Vier Flaschen, von denen jede sechs Kilo wog, waren mit großer Mühe auf dieses höchste Lager heraufgeschleppt worden. Jede war mit zwei Reduzierventilen, einer Gummivorrichtung zum Regulieren sowie mit einer Maske und Schläuchen versehen – ein kompliziertes System, das für ihren Versuch am Berg von entscheidender Bedeutung war. Šrauf starrte gerade, in Tagträumen versunken, auf den zischenden Kocher und erschrak, als Marjan verkündete: «Diese Flasche ist leer!»35 Er fummelte an den anderen Flaschen herum und überprüfte die Anzeigen. Sie gaben ein schwaches zischendes Geräusch von sich, als ob Sauerstoff entweichen würde. Er war sich nicht ganz sicher, wo das Problem lag. War es die Flasche? Das Ventil? Frustriert machte er seinem Ärger Luft: «Ich kann es fast nicht glauben . . . dass das wahr ist. Ist das das Ende? Müssen wir hier umkehren, so kurz unter dem Gipfel? Nicht weil wir am Ende unserer Kräfte sind, sondern wegen einer technischen Panne? Nein, das wäre zu grausam!»36 Šrauf und Marjan drehten und wackelten an den Ventilen und zogen sie nach, aber sie konnten die Undichtigkeit nicht beseitigen. Sie hatten nun nur noch drei Flaschen und ein funktionierendes Ventil. Zu viel Sauerstoff für einen Mann, aber nicht genug für zwei. Plötzlich schien der Gipfel weit entfernt. Šrauf packte das Funkgerät und bat das Basislager, auf seine dringende, mit heiserer Stimme vorgebrachte Botschaft zu antworten. Aber die einzigen Geräusche waren der Wind und die atmosphärischen Störungen. Das Funkgerät an Šraufs Ohr gepresst, verbrachten sie eine lange Nacht. Gegen Morgen legte sich der Wind, und sie warteten in der gespenstischen Ruhe auf das erste blasse Licht. Šrauf rief das Base Camp zur festgesetzten Zeit an und überbrachte Aleš die schlechte Nachricht. Aleš’ Antwort war kurz und eindeutig: «Einer von euch sollte mit voller Ausrüstung 86


zum Gipfel gehen; der andere mit den anderen Flaschen nachkommen, so weit er es schaffen kann.»37 Nun standen sie vor der schwierigsten Frage der ganzen Expedition – vielleicht ihres ganzen Lebens. Nach einer kurzen Diskussion bot Marjan an, auf seine eigene Gipfelchance zu verzichten. Er würde mit Šrauf so lange mitklettern, wie er es ohne Unterstützung durch Sauerstoff vermochte, und die zusätzlichen Flaschen tragen, damit Šrauf sie weiter oben am Berg verwenden konnte. Šrauf war von Marjans Großzügigkeit überwältigt. Aber er hielt seine Gefühle zurück. Er wusste, dass es für ihn nun kein Zurück gab. Er musste den Gipfel unbedingt erreichen. Für das Team. Für Marjan.

*** Ein Jahr nach ihrer Rückkehr vom Makalu im Jahre 1972 hatte sich die Sichtweise des Teams hinsichtlich ihres Misserfolges, den Gipfel zu erreichen, gewandelt. Aleš betrachtete ihren Versuch von der philosophischen Seite: «Da gab es nicht nur einen Gipfel, es waren mehrere . . . Die Wand war durchsetzt von unseren eigenen persönlichen Gipfeln . . . Wir gaben unser Bestes angesichts der Steilheit, des Windes, des Schnees und der Zeit, und insgesamt hatten wir ein großes Projekt verwirklicht, das die Kenner im Kreis der Alpinisten überraschte.»38 Es hatte sie mehr als nur überrascht. Nach ihrem Versuch von 1972 hatten sich zwei Expeditionen an die Südwand gewagt: Reinhold Messner als Mitglied eines hochkarätigen österreichischen Teams und ein amerikanisch-deutsches Team. Keines erreichte den höchsten Punkt von 1972. Die Teams äußerten sogar einige Zweifel über die Behauptungen der Slowenen, aber als ihre Ausrüstungsgegenstände knapp unterhalb der Ausstiegsschlucht gefunden wurden, waren die Nörgler zum Schweigen gebracht. Nun, drei Jahre später, waren die Slowenen wieder hier. Die Südwand, die in den letzten Tagen des Rückzugs 1972 komplett von Schnee und Nebel verdeckt gewesen war, kam wieder in Sicht, genauso großartig und komplex und verlockend wie vordem. Aleš hatte ein Team von 21 Mann zusammengestellt, zu dem auch einige Veteranen von 1972 gehörten – solche, die sich schon in der Wand bewährt hat87


Oben: 15. April 1983. Nejc Zaplotnik feiert im Base Camp am Manaslu seinen 31. Geburtstag. Es sollte sein letzter sein. Von links nach rechts: Boris Siriščević, Ivo Kaliterna, Ante Bučan, Igor Žuljan, Nejc Zaplotnik, Gordan Franić und Vinko Maroević. Archiv Viki Grošelj

Unten: Nejc Zaplotnik arbeitet im Base Camp am Manaslu an seinem nächsten Buch, 1983. Archiv Viki Grošelj

Rechte Seite, oben: Gefährten tragen den toten Nejc Zaplotnik zu seiner letzten Ruhestätte am Fuß des Manaslu. 1983. Archiv Stipe Božić

Rechte Seite, unten: 1996 kehrte Viki Grošelj mit der Familie Zaplotnik zum Wandfuß der Manaslu-Südwand zurück, um Nejc Zaplotniks letzte Ruhestätte xzu besuchen. Von links nach rechts: Nejc jr., Mojca (seine Witwe), Luka und Jaka. Archiv Viki Grošelj



«Der Weg zur Spitze» nimmt den Leser mit in die dramatische Zeit des slowenischen Alpinismus, und zwar aus der Sicht Nejc Zaplotniks, der einer der größten Alpinisten und Schriftsteller des Landes war. Sein Buch «Pot» (Der Weg) war und ist ein slowenischer Klassiker: nicht nur für Alpinisten, sondern auch für Nicht-Bergsteiger. Seine Worte und sein Geist bilden einen Faden, der das ganze Buch durchzieht und die Tür zur Seele dieser Bergsteiger öffnet.

ISBN 978-3-906055-28-2 ISBN: 978-3-906055-66-4

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