Der innere Berg

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HervĂŠ Barmasse

Der innere Berg Zum Matterhorn und darĂźber hinaus



Hervé Barmasse

Der innere Berg Zum Matterhorn und darüber hinaus

Aus dem Italienischen übersetzt von Emanuel Balsiger

AS Verlag


www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2017 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag & Grafik, Urs Bolz, Zürich Lektorat: Daniel Anker, Bern Korrektorat: Ellen Elfriede Schneider, Pratteln Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-64-0 Für die italienische Originalausgabe: Copyright © 2015, Gius. Laterza & Figli, All rights reserved Der AS Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.


Ohne Demut Diese Anmassung: ich habe noch so viel zu sagen . . . Dieser Ehrgeiz: ich muss eine Geschichte erzählen . . . Dieser Stolz: ich fühle mich voller neuer Ideen . . . Und das Bewusstsein: sie sind nur in mir drin. Und der unbedingte Wille: ich muss sie allen mitteilen . . . Aber vielleicht bin ich euch näher, wenn ich von meinen Ängsten rede, den geplatzten Träumen, von meinen Projekten und Hemmungen . . . Aber vielleicht bin ich nur einer, der sich vormacht, unbescheiden, anders zu sein als die anderen . . . Massimo Troisi

Massimo Troisi (1953–1994) war ein italienischer Schauspieler, Regisseur und Autor. Sein bekanntester Film ist «Il postino» aus dem Jahre 1994; darin spielt er den privaten Briefträger Mario Ruoppolo für den Dichter Pablo Neruda. Einen Tag nach Drehschluss starb der herzkranke Troisi an einem Infarkt.


K A PITEL EINS Von der Cima Jafferau sehe ich den Himmel über der Dauphiné, die Gletscher der Ecrins, und ich erkenne auch das Hotel in Bardonecchia, in dem ich übernachtet habe. Eines von vielen, der übliche Stopp auf einer Durchreise, aber mein Blick ist ganz auf die Rennstrecke gerichtet. Ich bin hypnotisiert von den roten und blauen Stangen, den Toren des Super-G. Da muss ich durch, meine zwei Meter fünfzehn langen Ski auf der Ideallinie führen, die Kurven so fertigfahren, dass ich die nächste ohne Bremser einleiten kann. In einem Speedrennen hast du keine Zeit zu überlegen und Angst zu haben. Mut, Instinkt, Technik und physische Kraft sind die Ingredienzen eines Spitzenabfahrers, aber der Schlüssel zum Erfolg ist die Wahl der Linie: Triffst du sie, gewinnst du, wenn nicht, bist du draussen. Man nennt mich «La Slitta» (den «Gleiter»), weil ich das Talent habe, die Ski laufen zu lassen, kompakt zu bleiben und die Kanten weich aufzusetzen, auch bei über hundert Stundenkilometern. Wo die anderen hart auf die Kanten stehen und dabei bremsen und wertvolle Zehntel liegen lassen, gleite ich über den Schnee, ohne dass die Ski rutschen. Man nennt es Skifahren. Es ist Palmsonntag 1994. Jemand streut Olivenzweige auf den Kirchplatz und die Leute fühlen sich besser dabei. Im Frieden mit sich selbst und der Welt. Ich nicht. Im Rennen muss ich aggressiv sein, fokussiert, schonungslos. Sobald sich das Starttor öffnet, habe ich keine Freunde und Mannschaftskameraden mehr, sondern nur noch Gegner, die es zu schlagen gilt. «Am Start: Barmasse», quäkt es aus dem Lautsprecher.

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Ein letzter Blick auf die Piste, noch ein bisschen Stretching und dann zwei tiefe Atemzüge. Ich schliesse die Augen und fahre in Gedanken die Ideallinie, die mir den Sieg einbringen wird. Das Herz hämmert ungeduldig unter der Windjacke, das Adrenalin schiesst durch den Körper, höchste Konzentration, ich öffne die Augen wieder, und Bruno, mein Trainer, kommt knurrend auf mich zu: «Denk dran, es zählt nur das Podest, dahinter kommt noch die Ledermedaille und dann nichts mehr. Du weisst, was du zu tun hast: Fahr wie die Sau!» Gestern Abend hatten wir eine Diskussion. Er versteht mich immer besser. Ich habe noch nicht begriffen, ob er mich mag oder ob er mich von Berufs wegen unterstützt. Immerhin macht er sich einen Spass daraus, mich zu foppen, und zwar ständig. Er liebt es, uns zu provozieren, um zu sehen, aus welchem Holz wir geschnitzt sind, ob wir nur zum Sportler taugen oder zum Champion. Die meisten von uns hassen ihn, ich respektiere ihn. So hat man mir das zu Hause beigebracht. Schon von klein auf war ich pummelig, alles andere als sportlich. Ich spielte, lachte, ass und fing mit Spielen wieder von vorne an. Man sagte, ich sei ungeschickt gewesen: Ich fiel von der Sitzbank, verschwand unter dem Tisch, ich bewegte mich auf meine eigene Art. Als ich zehn war, versuchten es die Eltern mit Schwimmen, aber das Schwimmbad passte mir nicht. Der Sport war ein abstraktes Konzept, und ich spürte noch den Drang, mich mit Schlamm zu beschmieren, mich im Gras zu wälzen und in die Gerüche des Waldes einzutauchen. Und dann, in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, fuhren die Kinder auf «American Outdoor» ab. Der einzige Sport, den ich als meines Schweisses würdig erachtete, war das Skateboarden. Ein für uns perfekter Sonntag begann mit dem Abspielen der VHS-Kassette «Trick and Tipps» von Tony Hawk, und dann ab auf die Piazza del Mercato, um wieder und wieder «Hollie», «Flip» und «Grind and Grab» zu üben. Wir waren zwar Kinder der Berge, aber in der Fantasie waren wir auf den Strassen von San Francisco, mit dünnen Armen, die Mütze 9


K A P I T E L DR EI Das Matterhorn verführt und stösst ab, bezaubert und verzaubert. Das Matterhorn ist König. Es drückt sich aus, ohne ein Wort auszusprechen, und behütet seine Untertanen, ohne vom Thron zu steigen. Es zieht die Blicke auf sich wie die Cheops-Pyramide und sieht dich heranwachsen, ohne zu urteilen. Vielleicht deswegen schrieb der französische Bergführer Gaston Rébuffat, dass ein Mensch, der vor dem Matterhorn stehe, nie ein gewöhnlicher Mensch sei. Ah, das Matterhorn! Die Hirten konnten es noch ignorieren, als sie vor 200 Jahren mit ihrem Vieh zu den Alpen hinaufstiegen, und die blumenübersäten Wiesen waren das Höchste, das sie bewohnen, sich vorstellen und wünschen konnten. Das Einzige, was nützlich und sinnvoll war. Die Berge unserer Vorfahren waren das sanfte Grasland von Cheneil, die Produktionsorte von Milch und Fontina, oder die Erdrutschen und Lawinen ausgesetzten Weiden unter den Grandes Murailles und das Meer aus Gras zwischen La Salette und Motta di Pleté, das man durchquert, wenn man in den Colle delle Cime Bianche aufsteigt. Am Ende des 18. Jahrhunderts existierte das Matterhorn erst in der Legende des Riesen Gargantua, des neugierigen Titanen von Valtournenche, der den Felsgrat erstiegen hatte, um zu sehen, was den Berg hervorbrachte und der zwischen seinen Beinen das Dreieck des Monte Silvius, des Waldbergs, vorfand. Il Selvino oder Cervino, oder wie wir Einheimischen ihn nennen: la Gran Becca. Dann kamen die Visionäre, richteten ihren Blick nach oben und sahen in dieser unbegreiflichen Anhäufung von Fels, Schnee und Eis eine Herausforderung: das Bergsteigen. 28


Die Ersten, die im 19. Jahrhundert das Matterhorn bewunderten und angingen, waren ein paar junge Leute aus Valtournenche, die 1857 einen ersten Versuch unternahmen, die Gran Becca zu ersteigen. Zu ihnen gehörte Jean-Antoine Carrel, der in den Jahren danach zusammen mit dem Engländer Edward Whymper zum unbestrittenen Protagonisten der Eroberung dieses Berges werden sollte. Whymper war ein furchtloser junger Mann aus London, der die Alpen für seinen Verleger Thomas Longmaan zeichnete, Carrel war der bärtige Jäger aus Valtournenche, der in den Schlachten von Novara und Solferino für die Unabhängigkeit mitgekämpft hatte und deshalb den Übernamen «il Bersagliere» (der Scharfschütze) trug. Whymper träumte davon, berühmt zu werden wie die grossen britischen Entdecker, Carrel hoffte, ein paar Lire zu verdienen, um seine Frau und die vielen Kinder zu ernähren. Der Engländer kletterte für sich, er war ein gesunder Egoist, ein Sportler. Carrel kletterte für sein Tal und das italienische Vaterland. Der Engländer schrieb aufrichtig über ihn: Carrel war der beste Felskletterer, den ich je im Einsatz gesehen habe. Er war der Einzige, der stur die Niederlage nicht akzeptieren wollte, der Einzige, der immer wieder glaubte, dass der Berg allen anderslautenden Stimmen zum Trotz letztlich doch besteigbar war und dass es möglich sei, ihn von der Seite seines Heimattals zu besteigen. Manchmal vergessen wir es, aber das Matterhorn ist das Mass unserer Kleinheit. Wir werden geboren, wachsen und sterben, während der Berg gigantisch, ungerührt und unsterblich bleibt. Auch ich bin unter dem Matterhorn gross geworden, oder vielmehr: Das Matterhorn ist in mir gross geworden. Beim Essen, bei den Familienmahlzeiten, beim Kaffee oder bei einer Geburtstagsfeier, immer waren das Matterhorn und die Geschichte seiner Besteigung das ewige Thema. Seine Präsenz erfüllte unser Haus und meine Fantasie. Als einziges Spielzeug akzeptierte ich Karabiner, Seil, Haken und den Kram meines Vaters, Bergführer am Matterhorn. Und wenn ich meinen Grossvater Gino aufsuchte, seinen Vater, ebenfalls Bergführer am Matterhorn, fand ich weitere Seile, Karabiner, Haken und Pickel. 29


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Legenden zu den Farbtafeln

1. Die 1350 Meter hohe Westwand

9. Während meiner ersten Solo-

des Matterhorns. Der Grat rechts von

begehung der Matterhorn-Südwand.

ihr zwischen Schatten und Sonne ist der

In diesem Abschnitt habe ich un-

Liongrat, über den die Normalroute

beabsichtigt die Variante eröffnet,

von Italien verläuft.

die heute die grösste Schwierigkeit

2. Pummelig, aber entschlossen. Niemand hätte erwartet, dass ich Bergsteiger würde. 3. Abfahrt, die Königsdisziplin des alpinen Skirennsports.

der von mir begangenen Route «Direttissima» darstellt. 10. Lorenzo Lanfranchi kämpft mit dem Wind auf dem Cerro San Lorenzo, den wir zusammen mit Matteo Bernasconi und Giovanni Ongaro erreichten,

4. Feuerland, 1956. Mein Grossvater

nachdem wir die Route «Caffè Cortado»

Luigi (Gino) auf dem Weg zum Monte

eröffnet hatten.

Italia. Als es noch schwieriger war, den Fuss des Berges überhaupt zu erreichen, als ihn zu besteigen. 5. Das Haus von Jean-Antoine Carrel im Dorfteil Cretaz in Valtournenche war auch das Haus der Barmasse, eine

11. Patagonien, 2006. Die gewaltige, fast tausend Meter hohe Granitwand des Cerro Piergiorgio. 12. Patagonien, 2007. Bei der Eröffnung der neuen Route am Cerro Piergiorgio.

Bergführerfamilie vom Urgrossvater

13. Patagonien, 2008. Ich helfe Giovanni

bis zur vierten Generation, die ich nun

Ongaro beim Abstieg aus dem Couloir

repräsentiere.

am Fuss des Cerro Piergiorgio. Die Arme

6. Meine erste Winterbesteigung des Matterhorns (im Alter von 19 Jahren). Von da an begann ich die Berge mit den Augen eines Kletterers und nicht mehr mit jenen eines Skifahrers zu betrachten. 7. Pakistan, 2005. «Red keinen Unsinn, Hervé, es ist Sommer und wir sind im Karakorum», hätte mir Massimo gesagt. 8. Die Matterhorn-Südwand, Schauplatz

sind am Körper fixiert; im Gesicht ist sein Schmerz lesbar. Es ist ein dramatischer Moment und gleichzeitig ein Ausdruck von tiefer Freundschaft. 14. Pakistan, 2008. Nach diesem Bild, das ich von Simone Moro im Nachmittagslicht des ersten Tags am Beka Brakai Chhok schoss, durchlitten wir ein Biwak unter freiem Himmel, das wir beide nie mehr vergessen werden.

praktisch aller meiner Erstbegehungen an diesem Berg.

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K A P I T E L SECHSZEHN Als ich aus Patagonien zurückkehrte, quälte mich ein starker Schmerz im rechten Knie. Es schwoll an und schmerzte nach jeder Besteigung des Matterhorns stechend, und in den letzten Wochen schmerzte es sogar beim normalen Gehen. Ich wusste, dass es früher oder später so kommen musste. Nach dem Unfall in Jafferau hatten mich die Ärzte vorgewarnt, dass der fehlende Meniskus den Knorpel abnützen könnte, bis er ganz kaputtging. Ein Satz, der, begleitet vom Schmerz in gewissen Momenten, auch einem optimistischen Geist wie mir stark zusetzt. Auf die Ärzte zu hören, hätte bedeutet, mich zu fühlen wie ein Athlet mit einem Ablaufdatum wie bei Lebensmitteln. Und in einigen Momenten fühlte ich mich tatsächlich so. Ich beschloss, Dr. Marco Patacchini aufzusuchen, den beratenden Arzt der italienischen Rugby Nationalmannschaft. Wenn er diese Muskelprotze wieder hinkriegte, müsste er doch auch bei mir Erfolg haben. Bevor er die Untersuchung begann, wollte er, dass ich ihm die Geschichte meines Unfalls erzähle, vom Aufprall auf den Pfosten über die Talfahrt mit dem Sessellift, die ersten Untersuchungen, die Operationen, die Reha bis zu meiner Befindlichkeit im Alltag. «Ich bin Orthopäde, Wunder kann ich nicht vollbringen. Legen Sie sich auf den Untersuchungstisch», sagte er zu mir und blinzelte mir zu. Es ist nicht die erste Kontrolluntersuchung, der ich mich nach dem Unfall unterziehe, und der Ablauf ist fast immer der gleiche. Test des Kreuzbandes . . . «Ich denke, in der Schweiz wurde gute Arbeit geleistet. Es scheint wieder zu halten.» Maximale Streckung und Beugung . . . 124


«Das linke Knie ist in Ordnung, das rechte sehr schlecht. Es fehlen mindestens fünf Grad in der Streckung und fünfzehn in der Beugung.» Test der Elastizität der Seitenbänder. . . «Gibt das linke Bein nicht nach, wenn du es mit deinem Gewicht belastest?» «Doch, oft.» «Das habe ich mir gedacht. Der Grund ist die fehlende Patellasehne.» Und noch ein paar neuro-propriozeptive Tests . . . «Das stellte ich mir schlimmer vor.» Und schliesslich die Kontrolle der Muskulatur, gefolgt vom Fazit: «Die Operationen wurden perfekt durchgeführt, das Problem deiner Knie, abgesehen davon, dass dir eine Sehne fehlt, ist die Arthrose als Folge der chirurgischen Eingriffe von damals. Kurzfristig ist die Wahrscheinlichkeit, dass Osteophyten und Kallus das Beugen und Strecken vollständig blockieren, nicht auszuschliessen; sie sind ja ohnehin schon stark eingeschränkt.» «Knie eines Achtzigjährigen», erinnere ich mich an die Diagnose anderer Ärzte. «Und ich bin sicher, dass der jetzt auftretende starke Schmerz ein Loch im Knorpel zur Ursache hat, aber um sicher zu sein, machen wir eine Untersuchung bei Dr. Muraro.» Wir machen also eine Computertomografie, und sie bestätigt seine Diagnose. Als Lösung des Problems schlägt mir Marco Patacchini die Mikrofrakturierung nach Steadman vor, eine Methode der Knorpelbehandlung, die der amerikanische Orthopäde Richard Steadman entwickelt hatte. Er erklärt mir, dass es darum geht, genau dort den Knochen anzubohren, wo der Knorpel fehlt und so das Wachstum eines vernarbenden Gewebes zu provozieren, das etwa die gleiche Funktion erfüllt wie der Knorpel. «Wie lange muss ich mich stillhalten?», frage ich und denke dabei an den Cerro Piergiorgio. 125


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K A P I T E L A C H T U N D Z WA N Z I G Bonatti schrieb: «Mit fünfunddreissig Jahren ist man noch jung. Aber eine Seite der Alpinismusgeschichte war umgedreht, und ich stand auf dieser Seite. Mir standen in diesem Alter zwei Lösungen offen: mich wiederholen – was mich nicht interessierte – oder mein Abenteuer andernorts weiterführen. Einige Menschen scheinen nicht zu verstehen, dass das Leben ein Weg ist, eine Entwicklung, Wachstum. Ich denke, das Wichtigste ist zuhören können, der eigenen Neugierde und der eigenen Fantasie in jeder Phase des Lebens folgen können. Und das habe ich gemacht.» Der Mann des Montblanc, der den Berg liebevoll sein zweites Zuhause nannte, beschliesst, dass er am Matterhorn seine Aktivität als Extremkletterer beenden will. Eine unvergleichliche Karriere, voller Erfolge, Tragödien und Auseinandersetzungen. Mehr als andere Bergsteiger repräsentierte Bonatti mit seinen Unternehmungen in den Vorstellungen der Leute den Abenteurer, den Erforscher der physischen und mentalen Grenzen des Menschen, der sich mit den schwierigsten Bergen mass. Seine Gesten, seine Worte, sein Alpinismus, die Interpretation der grossen Klettereien und des Lebens liessen – und lassen weiterhin – Träume entstehen. Zu seinen grossen Unternehmungen gehört die Erstdurchsteigung der Ostwand des Grand Capucin von 1951; zu den grössten Enttäuschungen der K2, der Achttausender der Italiener, der nur dank seiner Opfer und seiner Entschlossenheit 1954 erstiegen werden konnte, auch wenn die offizielle Version zunächst seine Rolle abwertete und ihm dann vorwarf, seinen persönlichen Erfolg gesucht zu haben. Eine Unge228


rechtigkeit, welche den Jungen aus Bergamo für immer prägte und der 57 Jahre warten musste, bis seine Leistung richtig anerkannt wurde. Ohne Bonatti, ohne seine Unterstützung, ohne jenes Biwak zusammen mit dem Träger Mahdi auf einer Schneeterrasse auf über 8000 Metern, um Sauerstoff zu Achille Compagnoni und Lino Lacedelli hinaufzubringen, wäre die Erstbesteigung des K2 nicht gelungen. Verraten von Menschen und nicht vom Berg, begann er von Neuem auf seine Weise, indem er den Südwestpfeiler des Petit Dru im Montblanc-Massiv im Alleingang erstmals erkletterte. Und danach, wie ein sich wiederholender Zyklus, andere grosse Unternehmungen und andere grosse Enttäuschungen, darunter 1958 die Erstbesteigung des Gasherbrum IV (7925 m) in Pakistan mit Carlo Mauri; die Tragödie von 1961 am Frêney-Zentralpfeiler am Montblanc, wo ihm vorgeworfen wurde, einmal mehr ungerechtfertigterweise, für den Tod von vier Bergsteigern verantwortlich zu sein, und schliesslich 1965, die neue Direktroute durch die Nordwand des Matterhorns. Dieser Berg sah ihn schon im Winter 1953 als Protagonisten, zusammen mit Roberto Bignami, bei der Eröffnung einer Variante der Route über die Überhänge am Furggengrat, die 1942 vom grossen Luigi Carrel vorgezeichnet worden war. Ein Foto seines Begleiters zeigt ihn lächelnd auf dem Gipfel, das Hanfseil um die Taille geschlungen, mit einem unendlich langen Holzpickel in der Hand, wie man sie nach dem Zweiten Weltkrieg benutzte. Aber die berühmteste Aufnahme, die Walter Bonatti für immer mit dem Matterhorn verbindet, ist ein unscharfes Foto vom Februar 1965, auf dem er nahe am Kreuz steht. Von jetzt an ist er eine berühmte Persönlichkeit und, steht er im Scheinwerferlicht. Auf dem Gipfel grüsst er mit der Hand das Flugzeug, das ihn bei seiner grossen bergsteigerischen Unternehmung aus der Luft beobachtet hatte. Mit einer neuen Route, im Winter, solo, in der Nordwand, beendete der beliebteste Bergsteiger nach dem Krieg seine Karriere als Extremkletterer.

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Hervé Barmasse ist Extremkletterer und Abenteurer. Im Alter von 16 Jahren gibt er nach einem fürchterlichen Sturz den Skirennsport auf, und er muss sich neu erfinden. Auf der Sonnenseite des Matterhorns wächst er vom Kind zum Mann heran. Nach jeder Reise, nach jeder Besteigung eines unbestiegenen Gipfels irgendwo auf der Welt kehrt er zurück zu seinem Berg, erklettert er ihn zu jeder Jahreszeit und legt neue Routen.

ISBN 978-3-906055-28-2 ISBN: 978-3-906055-64-0


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