Italien: Von einem Lager ins nächste - Der Staat macht Roma zu Nomaden

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Italien

Von einem Lager ins N채chste Der Staat macht Roma zu Nomaden


Impressum © Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V. Juni 2010 V.i.S.d.P. Sara Fremberg Gestaltung: Rüdiger Fandler, Berlin Druck: Humburg, Berlin Art.Nr. 41010 Titelfoto: Rumänische Roma im Lager Centocelle (Rom), September 2009 Sämtliche Rechte an den in dieser Broschüre abgebildeten Fotos liegen bei Amnesty International.


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Von einem Lager ins Nächste Der Wohncontainer der Familie Albaz im Lager Tor de Cenci (Rom), September 2009

Die Regierung von Rom hat den Notstand aus­gerufen, den „Nomadennotstand“. Tausende von Roma werden auf diese Weise per Gesetz diskriminiert und sollen aus dem Stadtbild verschwinden – mit Hilfe des so genannten Nomadenplans. Dieser sieht die rechtswidrige Zwangs­ räumung zahlreicher städtischer Roma-Lager vor. Die meisten der betroffenen Roma sollen in Großlager in die Außenbezirke der Stadt umgesiedelt werden. Andere erhalten keinen Platz und werden obdachlos.


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„Ich möchte ein ZUHause und eine Arbeit. Das ist alles.“ Ismet Abaz, ein Rom aus Mazedonien, der seit 1991 mit seiner Familie in Italien lebt

DISKRIMINIERt und von der Gesellschaft ausgeschlossen Schätzungen zufolge leben in Rom und Umgebung 12.000 bis 15.000 Roma. Etwa 3.000 von ihnen sind italienische Sinti, deren Vorfahren bereits im Mittelalter nach Italien kamen. Seit den 1960er Jahren leben hier außerdem viele Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ein Großteil von ihnen besitzt ­inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis, ihre Kinder haben die italienische Staatsbürgerschaft. In den vergangenen zehn Jahren kamen viele Roma aus den neuen EU-Mitglieds­ ländern hinzu – insbesondere aus Rumänien. Die Mehrheit der in Rom lebenden Roma ist in Lagern untergebracht. Manche dieser Lagersiedlungen gelten als „genehmigt“ und werden von den lokalen Behörden instand gehalten. Andere werden „geduldet“ und in unterschiedlichem Maße kommunal unterstützt. Meistens jedoch handelt es sich um informelle Siedlungen aus provisorisch er­richteten Hütten. Einige Roma erklärten gegenüber Amnesty International, sie fänden das Leben in einem Lager annehmbar, vorausgesetzt die Unter­

künfte seien solide und der Schutz vor Zwangs­räumungen garantiert. Doch die meisten der von Amnesty International befragten Roma ziehen es vor, in Wohnungen oder Häusern zu wohnen. Nur wenige Tausend der Roma in Rom wohnen jedoch tatsächlich in Häusern, denn es ist für sie nahezu unmöglich, an Wohnungen und Häuser des regulären Wohnungsmarktes zu kommen. Auf dem Arbeitsmarkt werden sie vielfach diskriminiert, nur wenige können eine dauerhafte Anstellung finden. Doch erst eine sichere Arbeit versetzt sie in die Lage, regelmäßig Miete zahlen zu können. Solange Roma jedoch in Lagern leben – ohne offizielle Adresse oder mit einer Adresse, die auf ihren Status schließen lässt – bleibt es für sie schwierig, Arbeit zu finden. Ein Teufelskreis. Der Ausschluss der meisten Roma vom regulären Arbeits- und Wohnungsmarkt drängt sie wortwörtlich an den Rand der Gesellschaft –­ in Lager in abgeschiedenen Gebieten. Dadurch werden Lebensbedingungen geschaffen, die die vorhandenen Vorurteile gegen die Roma nur noch verstärken und ihrer Diskriminierung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft weiter Vorschub leisten.


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Hütten im Lager Centocelle (Rom), das im November 2009 abgerissen wurde

Wann ist eine Zwangsräumung rechtswidrig? Internationale Normen beschreiben eine rechtswidrige Zwangsräumung als eine gegen den Willen der Betroffenen stattfindende Vertreibung aus ihren Wohnungen oder von ihrem Land, ohne dass ein ge­eigneter rechtlicher oder anderer Schutz vorhanden ist. Das bedeutet: Kein Mensch darf ohne weiteres aus seinem Haus, seiner Wohnung oder von seinem Land vertrieben werden. Eine Zwangsräumung ist nur unter strengen rechtlichen Auflagen zulässig, und niemand darf dadurch der Obdachlosigkeit preisgegeben werden. Als Ersatz muss ein angemessener Wohnraum gestellt werden, in dem menschenwürdiges Wohnen und Leben möglich ist. Trotzdem werden immer mehr Menschen aus

ihren Häusern und von ihrem Land vertrieben, oft mit brutaler Gewalt. Die Betroffenen werden vorher vielfach nicht darüber informiert und von der unangekündigten Zerstörung ihres Wohnraums überrascht. Somit haben sie im Vorfeld keine Möglichkeit, sich mit rechtlichen Mitteln dagegen zu wehren. Der Schutz vor einer rechtswidrigen Zwangsräumung gilt auch für Slumbewohner, obwohl sie oft keine Mietverträge oder formellen Rechte an dem Land haben, auf dem sie wohnen. Auch ihre Wohnungen, Hütten und andere Unterkünfte müssen geschützt und dürfen vom Staat nicht einfach zerstört werden. Eine rechtswidrige Zwangsräumung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, oft werden dabei auch andere Menschenrechte verletzt wie das Recht auf Eigentum oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit.


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Eine Siedlung von Roma in Sesto San Giovanni (bei Mailand), März 2009

mit notstandsverordnungen gegen die roma Als Reaktion auf die Probleme, die sich aus der fortlaufenden Diskriminierung der Roma und den damit verbundenen Auswirkungen auf das Zusammenleben mit der Mehrheitsgesellschaft ergeben, erklärte die Regierung in Rom den so genannten Nomadennotstand für die Regionen Kampanien, Latium, Lombardei, Venezien und Piemont. Unter Bezugnahme auf ein Gesetz von 1992 zur Bekämpfung von Naturkatastrophen erließ der italienische Ministerrat am 21. Mai 2008 ein Dekret, das den Präfekten dieser Regionen Sondervollmachten zur Bekämpfung des „Nomadennotstands“ einräumt.

Auch wenn diese Sonderbefugnisse gegen Nomaden aller Nationalitäten angewandt werden können, so treffen sie in erster Linie die in Italien lebenden Roma – obwohl die meisten niemals Nomaden gewesen sind, auch nicht in ihren Herkunftsländern. In diesem Zusammenhang von einem Notstand zu sprechen ist falsch und hat auch schwerwiegende Folgen: Wenn alle Roma als Nomaden behandelt werden, werden auch alle Maßnahmen zu ihrer Unterbringung immer nur solche für Nomaden sein. Die Präfekten können unter dem Deckmantel des Notstands diskriminierende Maßnahmen anordnen und ergreifen lassen.


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Der „Nomadennotstand“ wurde ausgerufen, um vermeintlichen Sicherheitsrisiken entgegenzutreten – darunter der angeblichen Bedrohung durch die Anwesenheit der RomaGemeinschaften. Seit 2007 wurden deshalb mit mehreren „Sicherheitsvereinbarungen“ und anderen Dekreten Befugnisse des Innenministeriums auf die genannten regionalen Behörden übertragen. Eine weitere Ausdehnung dieser Sonderbefugnisse ist jederzeit zu befürchten. Vorläufiger Endpunkt einer Reihe von diskriminierenden Erlassen und Maßnahmen, die die italienische Regierung in die Wege geleitet hat und die zur Stigmatisierung der im Land lebenden Roma beitragen, ist der so genannte Nomadenplan. Er wurde am 31. Juli 2009 von Vertretern der Gemeinde Rom und dem Präfekten von Latium (Rom) verabschiedet, um den „Nomadennotstand“ in der Hauptstadt zu bekämpfen. Die Bestimmungen und Ziele des „Nomadenplans“ haben nur die Belange der Mehrheitsgesellschaft im Blick – ohne Rücksicht auf die Rechte der Roma. Ein umfassendes Konzept zur Lösung der ursächlichen Probleme und zur Beendigung der Menschenrechtsverletzungen, denen die Roma ausgesetzt sind, gibt es nicht.

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6.000 Roma in 13 Lager Einer offiziellen Zählung zufolge leben in der italienischen Hauptstadt etwa 7.200 Roma: 2.200 von ihnen in „genehmigten“ Lagern, 2.750 in „geduldeten“ und weitere 2.200 in „nicht genehmigten“ Lagern. Amnesty geht von wesentlich höheren Zahlen aus. Dem „Nomadenplan“ zufolge sollen nun 6.000 dieser Roma in 13 so genannte Dörfer umgesiedelt werden. Bei diesen handelt es sich aber tatsächlich um Großlager. Vorgesehen ist, dass sieben bereits bestehende „genehmigte“ Lager entweder in ihrer jetzigen Form erhalten bleiben oder vergrößert werden. Drei der „geduldeten“ Lager sollen umstrukturiert und ein „Übergangslager“ sowie zwei neue, weit abgelegene Großlager gebaut werden. Mit der geplanten Umsetzung des „Nomaden­ plans“ verstößt Italien gegen ver­schiedene internationale Menschenrechtsabkommen, in denen es sich verpflichtet hat, selbst keine rechtswidrigen Zwangsräumungen durchzuführen und auch keine Durchführung durch Dritte zuzulassen. Auch seine Verpflichtung, ein­­zelne Bevölkerungsgruppen vor Diskriminierung zu schützen und ihr Recht auf angemessene Unterkunft (Recht auf Wohnen) zu wahren, verletzt Italien durch den „Nomadenplan“.


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„Es gab Leute, die Molotowcocktails auf uns warfen, weil sie nicht wollten, dass wir so dicht an ihren Wohngebieten lebten.“ Saltana Ahmetovich (Nino)

ungewiss bleibt, wer einen Platz erhält Bislang wissen die Betroffenen nicht einmal, ob sie nach der Räumung einen Platz in einem der 13 Lager erhalten. In offiziellen Schriftstücken ist lediglich die Rede von „denen, die ein Recht haben, einen Platz zu bekommen“, ohne zu definieren, was dieses Recht begründet oder was mit den Roma geschehen wird, denen dieses Recht nicht zugestanden wird. Die mit der Durchführung der Umsiedlung ­betrauten Behörden haben Amnesty International mitgeteilt, dass bei der Entscheidung über die Aufnahme in die „Dörfer“ das polizeiliche Führungszeugnis und der legale Aufenthalt in Italien eine Rolle spielen. Wer in der Vergangenheit an strafbaren Handlungen beteiligt gewesen ist, bekäme nach der Zwangsräumung keinen Platz in den neuen Lagern. Ob dabei nur an eine Verurteilung gedacht wird oder schon eine Anklage Grund genug wäre, jemanden der Obdachlosigkeit auszusetzen, war nicht zu klären. Entscheidend ist jedoch, dass dieses Kriterium an sich gegen das Recht auf Wohnen verstößt. Das Recht auf Wohnen ist ein universelles Menschenrecht, das nicht vom früheren Verhalten einer Person

abhängig gemacht werden darf. Durch die Anwendung eines solchen Auswahlkriteriums würde Italien seine Verpflichtungen verletzen, jeder Person das Recht auf Wohnen zuzugestehen und sie vor Diskriminierung zu schützen. Unter den 1.200 Menschen, für die keine Umsiedlung vorgesehen ist, befinden sich möglicherweise Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus, das heißt ohne eine rechtliche Grundlage für ihren Aufenthalt in Italien. Auch sie haben nach Meinung der Behörden kein Anrecht auf einen Platz in den Lagern. Die Behörden verstoßen hier erneut gegen das Recht auf Wohnen, indem sie rechtswidrige Zwangsräumungen als Strafmaßnahme durchführen oder als Druckmittel benutzen, um das Verlassen des Landes zu erzwingen. Der „Nomadenplan“ ignoriert die Wünsche vieler Roma nach einer Unterbringung in regulären Wohnungen. Er sieht nur zwei Alternativen vor: Umzug in ein anderes Lager oder Obdachlosigkeit. Abgesehen von wenigen Ausnahmen wurden die von Zwangsräumung bedrohten Roma weder in die Planung der Umsiedlungen ein­ bezogen noch frühzeitig über das Vorhaben informiert.


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KEIN ZUGANG ZUM SOZIALEN WOHNUNGSMARKT

Unterkünfte von Roma im Lager Tor de Cenci (Rom), September 2009

Bleibt den Roma bereits der Zugang zum freien Wohnungsmarkt verwehrt, so sind sie auch vom sozialen Wohnungsbau faktisch ausgeschlossen. Anrecht auf eine Sozialwohnung hat nur, wer zuvor eine Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt zwangsweise räumen musste. Wer immer in einer lagerartigen Siedlung gelebt hat, egal ob „genehmigt“ oder „geduldet“, besitzt nach ihrer Räumung keinen Anspruch auf Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus.

Was ist das Recht auf angemessene Unterkunft (Recht auf Wohnen)? Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte definiert das Recht auf angemessene Unterkunft als das Recht, an einem Ort in Sicherheit, Frieden und Würde zu leben. Als ein Menschenrecht steht es allen Menschen – unabhängig von Einkommen, sozialem Status und anderen Kriterien – gleichermaßen zu. Für die Angemessenheit einer Unterkunft gibt es mehrere Kriterien. Dazu gehören unter anderem: ein Mindestmaß an Sicherheit – Das bedeutet z.B. rechtlichen Schutz gegen Zwangsräumungen, Schikanen und andere Bedrohungen.

ein Mindestmaß an Infrastruktur – Dazu gehört z. B. die Bereitstellung von sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Nahrungsmitteln. Bezahlbarkeit – Das bedeutet, dass den Menschen genug Geld zur Finanzierung weiterer Grundbedürfnisse übrig bleiben muss. Bewohnbarkeit – Hiermit sind z. B. eine ausreichende Größe und der Schutz vor Wettereinflüssen und anderen Bedrohungen gemeint. Erreichbarkeit – Dies bezieht sich z. B. auf den Arbeitsplatz, medizinische Einrichtungen und Schulen.


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Leben am Rande der Gesellschaft: Roma-Lager in Sesto San Giovanni bei Mailand, M채rz 2009


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María und Marius mit ihrer Tochter im Lager Centocelle (Rom), September 2009 – zwei Monate später wurde ihr Zuhause zerstört.


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„Ich möchte an einem schöneren Ort leben – einem Ort, an dem auch jeder andere Mensch leben würde.“ María Dumitru

Die Lebensrealität der Roma Wie besorgniserregend die vorgesehene Umsetzung des „Nomadenplans“ tatsächlich ist, darüber kann niemand besser Auskunft geben als die Roma selbst. Hier einige Stimmen:

María Dumitru und Marius Alexandru María Dumitru und Marius Alexandru sind beide 28 Jahre alt und Roma rumänischer Herkunft. Sie haben drei kleine Kinder. Seit ihrer Ankunft in Italien 2004 wurden sie bereits fünf Mal Opfer von Zwangsräumungen, ohne dass ihnen eine alternative Unterkunft angeboten worden wäre. Zuletzt waren sie am 11. November 2009 von der rechtswidrigen Zwangsräumung der inoffiziellen Siedlung Centocelle in Rom betroffen. Jetzt leben sie unweit davon in einer Baracke. „Wir sind nach Italien gekommen, um etwas Geld zu verdienen, aber das ist uns noch immer nicht gelungen“, sagt María. „Zuerst wohnten wir im Lager Ponticelli in Neapel. Doch nach einer Weile vertrieb uns die Polizei von dort. Sie drohten, meine Kinder in ein

Waisenhaus zu bringen, wenn sie mich noch einmal in dieser Gegend sähen.“ Ähnliche Erfahrungen machte die Familie in Caivano (Neapel) und im Lager Cristoforo Colombo (Rom). „Die Polizei hat alles zerstört“, erzählt Marius. Anfang 2008 zog er mit seiner Familie in das Lager Centocelle. Im April desselben Jahres wurden sie vertrieben, kamen aber sofort zurück. Nach der jüngsten Zwangsräumung sagt Marius: „Wir werden jetzt auf der Straße schlafen. Was sollen wir sonst tun? In fünf Jahren sind wir in sieben verschiedenen Lagern gewesen. Es ist schwer, sehr schwer.“ „Ich schäme mich ein bisschen, weil mein Mann Eisen und Kupfer aus dem Müll sammelt und verkauft“, erzählt María. „Er verdient damit ein wenig Geld. So können wir Lebensmittel kaufen. Er holt auch Kleidung aus dem Müll, weil wir kein Geld haben, welche im Laden zu kaufen. Nur ihm verdanken wir, dass wir überhaupt etwas zu essen haben. Wenn er nicht wäre, würden wir auf der Straße leben. (...) Wenn er etwas verkauft, essen wir. Wenn es kein Eisen gibt, essen wir nicht. (...) Wir müssen auch für die Schule bezahlen. Wenn


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„Sie sollen mir ja nicht den Mond vom Himmel holen.“ Saltana Ahmetovich (Nino)

der ­Lehrer uns aufträgt, Hefte oder Füller zu kaufen … landen wir leicht bei 5 Euro, die wir aufbringen müssen.“„Ich würde gern das arbeiten, was ich kann“, sagt Marius. Beide hatten noch nie vom „Nomadenplan“ gehört. Als María durch Amnesty von dem Plan erfährt, sagt sie: „Das ist kein guter Plan. Wir wollen nicht umziehen und unsere Kinder auf eine andere Schule schicken. Ionut ist mit sieben Jahren das älteste von drei Kindern. Er geht zur Schule. Florin ist erst zwei und Andrea Ionica ist vier Jahre alt. Sie geht bald in den Kindergarten. Sie ist schon angemeldet, aber es gibt eine Warteliste.“

Saltana Ahmetovich (NINO) Saltana Ahmetovich (Nino) ist italienischer Rom und 30 Jahre alt. Er ist in Italien geboren und hat zeit seines Lebens in Lagern gelebt. Seine aus Montenegro stammenden Eltern kamen 1969 nach Italien und lebten zuerst in Mailand. Dann zogen sie nach Neapel und schließlich nach Rom, denn dort ließ sich der größte Teil seiner Familie nieder. Seit 1996 lebt Nino in einem Wohnwagen in La Monachina, einem „geduldeten“ Lager im Westen der Stadt.

María erzählt: „Andrea Ionica sieht jeden Morgen, wie die anderen Kinder zur Schule gehen, und sagt dann immer, sie wolle auch dahin. Wir möchten nicht irgendwo hinziehen, wo die Schule weit weg ist. Der Lehrer meint, wir sollten Ionut nicht auf eine andere Schule schicken, da er hier Freunde hat und sich wohlfühlt.“

Nino erinnert sich. „Wir wohnten im Lager Battistini, doch dort drohte man, uns bei lebendigem Leib zu verbrennen. Es gab Leute, die Molotowcocktails auf uns warfen, weil sie nicht wollten, dass wir so dicht an ihren Wohngebieten lebten. Dann kamen Polizei und Feuerwehr und sagten uns, wir sollten zu unseren Verwandten nach La Monachina ziehen. Die Polizei kam immer wieder und vertrieb uns, weil wir uns auf Gemeindeland aufhielten. Dann brachten sie uns in ein anderes Lager.“

„Wir haben früh Kinder bekommen“, sagt María. „Das sollen meine Kinder anders machen. Sie sollen zur Schule gehen und dann eine Arbeit finden. Ich möchte, dass sie es besser haben als ich.“

„Als wir nach La Monachina kamen, hatten wir nichts. Ich baute zusammen mit meinem Schwager und einem Freund ein Haus für meine Mutter, meine Schwester und meine Nichte. Alle drei Jahre müssen wir es abreißen


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Nino und seine Familie im Lager La Monachina (Rom), September 2009

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„Wir träumen davon, dass unsere Kinder in einem richtigen Haus leben, dass man sie nicht mehr Zigeuner nennt und sie behandelt wie alle anderen.“ Elpida Abaz

und neu bauen, weil es verrottet.“ Nino hat bereits verschiedene Jobs gehabt und sich bisher vergeblich bemüht, etwas Dauerhaftes zu finden. „Zuerst habe ich in einer Kirche geputzt. Ich habe diese Arbeit aufgegeben und dann eine ältere Person betreut. Bis zu ihrem Tod. Danach verkaufte ich Pflanzen und Eisen. Von September 2008 bis November 2009 hielt ich einen Park hier in der Nähe sauber. An diese Arbeit kam ich durch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm der Regierung. Das ist aber inzwischen ausgelaufen. Jetzt verkaufe ich Eisen, doch damit verdiene ich nicht genug. Wovon soll ich leben? Was soll ich tun?“

„Ich würde gern eine Wohnung mieten, aber wovon? Ich habe mich gar nicht erst um eine Sozialwohnung beworben. Es wäre zwecklos. Wenn ich sage: ‚Ich heiße Saltana Ahmetovich und wohne in La Monachina’, gibt mir die Stadtverwaltung niemals eine Wohnung. Ich habe um Strom gebeten, nicht einmal den wollten sie anschließen.“ Als Nino durch Amnesty vom „Nomadenplan“ erfährt und davon, dass La Monachina nicht zu den „geduldeten“ Lagern zählt, die nach einer Umstrukturierung weiter bestehen sollen, antwortet er: „Warum wird dieses Lager nicht aufgebessert? Wir sind Italiener. Ich wähle. Ich will nicht länger so wohnen. Ich will endlich eine Wohnung. Ich will ein Badezimmer. Ich will eine Heizung. Sie sollen mir ja nicht den Mond vom Himmel holen.“

Ismet Abaz und Elpida Abaz

Ninos Wohnwagen im Lager La Monachina (Rom), September 2009

Ismet Abaz, 34 Jahre, und Elpida Abaz, 33 Jahre alt, sind Roma aus Mazedonien und 1991 nach Italien gekommen. Beide haben eine Aufenthaltserlaubnis. Sie haben vier Kinder und haben bereits in zahlreichen Lagern gewohnt. Nach der Räumung des letzten Lagers brachte die Polizei sie im Jahr


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Ismet und Elpida Abaz mit zwei ihrer Kinder im Lager Tor de Cenci (Rom), September 2009

2000 in das Lager Tor de Cenci. Dies ist ein „genehmigtes“ Lager im Südwesten von Rom, das kürzlich von der Stadtverwaltung zu einem „geduldeten“ Lager herabgestuft wurde. Seit sieben Jahren arbeitet Ismet als Fahrer für ein Schulprojekt für Roma-Kinder einer italienischen Nichtregierungsorganisation. Ismet sagt: „Es ist eine Schande, dass wir immer noch in einem Lager und in solchen Verhältnissen leben. Unsere Kinder werden älter, wir möchten nicht weiter unter solchen Bedingungen in einem Container wohnen. Ich habe versucht, in Viterbo Arbeit zu finden, doch dort gab es wenig Arbeit. Also fuhr ich hin und her. Ich habe auch in Parma Waren auf einem Markt entladen. Meine erste Daueranstellung habe ich hier in Rom gefunden, bei dem Schulprojekt, aber das sind nur drei

Stunden täglich. Davon kann ich nicht leben. Also arbeite ich immer, wenn ich etwas finde. Ich arbeite gern.“ Ismet verdient nicht genug Geld, um eine Wohnung zu mieten, und er hat keinen Anspruch auf eine Sozialwohnung. „Wir möchten nicht, dass unsere Kinder durch die schlechten Lebensbedingungen im Lager krank werden. Alle unsere Kinder gehen zur Schule. Aber ihre Klassenkameraden wollen nicht zu uns kommen, und unsere Kinder schämen sich, sie hierher einzuladen.“ Ismet hat Gerüchte gehört, dass die Regierung vorhabe, alle in ein größeres Lager zu verlegen. „Sie werden uns mit Menschen zusammenstecken, die wir nicht kennen. Das ist falsch. Dann schlafe ich lieber auf der Straße.“ Was er sich wünscht? „Ich möchte ein Zuhause und eine Arbeit. Das ist alles.“


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Amnesty International betrachtet den „Nomadenplan“ als diskriminierende Maßnahme gegenüber den Bewohnern der betroffenen Roma-Siedlungen. Er setzt sie schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen aus und darf daher in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung nicht umgesetzt werden. Amnesty international FORDERT DEN „SONDERBEAUFTRAGTEN FÜR DEN NOMADENNOTSTAND“ AUF, den Plan sofort auszusetzen und mit den betroffenen Roma in einen umfassenden Dialog zu den Umsiedlungsvorhaben zu treten, damit ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden. sicherzustellen, dass das Recht der Roma auf angemessenes Wohnen in einem überarbeiteten Plan tatsächlich gewährleistet ist. sicherzustellen, dass Zwangsräumungen und Umsiedlungen nur als letztes Mittel und nur in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards durchgeführt werden. einen Plan für die Integration der Roma auf dem Stadtgebiet von Rom zu entwickeln.

Werden Sie aktiv! Unterstützen Sie unsere Forderungen: www.amnesty.de / roma-wohnen


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Mit Menschenrechten gegen Armut Menschen in Armut sind besonders oft von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Wer nicht lesen und schreiben kann, kennt seine Rechte nicht gut genug und ist staat­ licher Willkür ausgesetzt. Wer ständig schikaniert wird, fühlt sich ohnmächtig. Wer nie gefragt wird, verliert seine Stimme. Gerade Menschen in Armut sind darauf angewiesen, dass der Staat ihre Rechte respektiert. Menschenwürdige Lebensbedin­ gungen, medizinische Versorgung, Zugang zu Bildung – Rechte, die viele Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern verweigern. Wo Regierungen sich der Verantwortung entziehen, herrscht ein Kreislauf aus Armut und Menschenrechtsverletzungen, der schwer zu durchbrechen ist: Armut ist in vielen Fällen eine Folge von Menschenrechtsverletzungen und wird durch Menschenrechtsverletzungen verfestigt. In der Kampagne „Mit Menschenrechten gegen Armut“ dokumentiert Amnesty International schwere Menschenrechtsverletzungen an Menschen in Armut. Dazu gehören menschenunwürdige Wohnbedingungen und rechtswidrige Zwangsräumungen, Müttersterblichkeit nach vermeidbaren Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt, aber auch die gesundheitsgefährdende Verschmutzung der Umwelt durch Unternehmen.

Amnesty International wendet sich an die verantwortlichen Regierungen und Unternehmen, protestiert gegen das Unrecht, fordert konkrete Verbesserungen und gibt Menschen in Armut eine Stimme: Mit Menschenrechten gegen Armut. Und mit Ihrem Einsatz. www.amnesty.de / armut

Wohnen. In Würde. Rechtswidrige Zwangsräumungen sind ein schwerer Verstoß gegen die Menschen­rechte: Menschen verlieren binnen Stunden ihr Zuhause, Hütten und Häuser werden dem Erdboden gleichgemacht – ohne Begründung, ohne Alternativen, ohne Rechtsgrundlage. Die spärliche Lebensgrundlage von Menschen in Armut wird mit einem Handstreich vernichtet. Sie wollen nicht tatenlos zusehen? Dann beteiligen Sie sich an unserem Aktionsnetz STOPPT ZWANGSRÄUMUNGEN. Sie erhalten aktuelle Eilaktionen und weitere Aktions­ aufrufe und können sich konkret und schnell für Menschen, die von einer Zwangsräumung bedroht sind, einsetzen. www.amnesty.de / wohnen


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