Amnesty Journal Februar/März 2013: "Jede dritte Frau"

Page 1

WWW.amnestY.De/JouRnal

Das magazin fÜR Die menschenRechte

4,80 euRo

amnestY JouRnal

02/03

2013 febRuaR/ mäRz

JeDe DRitte fRau WiRD oPfeR von geWalt

histoRische chance in new York startet die nächste verhandlungsrunde für einen vertrag zur kontrolle des internationalen Waffenhandels

Die macht Des volkes Patti smith über krieg, Religion und Pussy Riot



Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

Foto: Mark Bollhorst / Amnesty

eDitoRial

in unseRem leben ist vieles gut geRegelt ‌ ‌ wie zum Beispiel der Handel mit Bananen oder Dinosaurierknochen. Der Handel mit Waffen ist es nicht. Dabei sind die Zahlen erschĂźtternd: Jede Minute stirbt ein Mensch durch Waffengewalt – das sind eine halbe Million Menschen im Jahr. In New York kĂśnnte deswegen bald eine wegweisende Entscheidung fallen. Im März treffen sich dort die UNO-Mitgliedsstaaten, um erneut Ăźber einen Vertrag zur Kontrolle des Waffenhandels (Arms Trade Treaty – ATT) zu beraten. Es gibt eine historische Chance, dass diesmal ein Abkommen unterzeichnet wird (siehe Seite 38). DafĂźr ist der Druck der Zivilgesellschaft weiter nĂśtig. Sie kĂśnnen dazu beitragen. Ganz einfach, indem Sie die beigefĂźgte Petition an US-Präsident Obama unterzeichnen oder sich online beteiligen (www.amnesty.de/haendehoch). Welche fatalen Folgen der unkontrollierte Waffenhandel mit sich bringt, beschreibt auch unser Titelthema Ăźber Gewalt gegen Frauen. Denn diese geraten in bewaffneten Konikten häuďŹ g zwischen die Fronten und sind danach selbst in ihren eigenen vier Wänden nicht sicher. ZurĂźckkehrende Soldaten, oftmals traumatisiert und zur Brutalität ÂťerzogenÂŤ, tragen die Gewalt in die Familien hinein, wie die Beiträge Ăźber die Demokratische Republik Kongo (Seite 20) oder den Drogenkrieg in Mexiko (Seite 25) beschreiben. Ein starker ATT kann auch Gewalt gegen Frauen verhindern. Alle Texte kĂśnnen Sie Ăźbrigens ebenso auf unserer App lesen – und noch vieles mehr. Neben den Artikeln und Fotos aus der Print-Ausgabe ďŹ nden Sie dort zusätzlich Bilder, Videos und Audiodateien. Wenn Sie wollen, kĂśnnen Sie sich einige Texte vorlesen lassen. Sie kĂśnnen die neue Amnesty Journal-App kostenlos im App Store unter ÂťAmnesty MagÂŤ herunterladen oder sich unter www.amnesty.de/app darĂźber informieren. Zuletzt noch eine Nachricht in eigener Sache. Beim International Corporate edia Award, einem der grĂśĂ&#x;ten Wettbewerbe fĂźr Zeitschriften in Europa, wurde M das Amnesty Journal mit einem Bronzepreis in der Kategorie Kundenzeitschriften ausgezeichnet. Nach dem Preis in Gold fĂźr vorbildliches Konzept und Design im vergangenen Jahr ist das Journal das erste Magazin, das in diesem Wettbewerb zum zweiten Mal in Folge ausgezeichnet wurde. Wir freuen uns Ăźber den Preis und nehmen ihn als Ansporn, weiter an der journalistischen und gestalterischen Qualität des Amnesty Journals zu arbeiten.

eDitoRial

3


inhalt

20

28

Titelfoto: Carina, 51, Schweden, zeigt Fotos von Verletzungen, die ihr Ehemann ihr zugefĂźgt hat. ÂťMeine Tochter lebt bei ihm, obwohl sie gesehen hat, wie er mich geschlagen hat. Das macht mich traurig.ÂŤ Foto: Linda Forsell / Kontinent / laif

thema 18 Schlechte Traditionen Von Gunda Opfer

20 Der gefährlichste Ort der Welt In der Demokratischen Republik Kongo wird sexuelle Gewalt systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Doch um das Problem zu lÜsen, muss man sich mit den Tätern befassen. Von Simone Schlindwein

25 Die ersten Opfer

RubRiken 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Porträt: Vidulfo Rosales Sierra 15 Kolumne: Heike Kleffner 61 Rezensionen: Bßcher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen

In der mexikanischen Stadt Ciudad Juårez nehmen die TÜtungsdelikte gegen Frauen weiter zu. Mit dafßr verantwortlich ist die massenhafte Verbreitung von Schusswaffen in einem mittlerweile kriegsähnlichen Konflikt. Von Wolf-Dieter Vogel

28 Der Feind im eigenen Haus Die Angst, nachts auf der StraĂ&#x;e von einem Fremden Ăźberfallen und misshandelt zu werden, ist weit verbreitet. Doch tatsächlich werden Frauen meist in ihren eigenen vier Wänden zum Opfer von Gewalt.

32 Auf Messers Schneide Die VerstĂźmmelung weiblicher Genitalien ist in Ă„gypten gesetzlich verboten. Doch seit dem Sturz des Mubarak-Regimes fordern Islamisten eine Legalisierung der Praktik. Von Rebekka Rust

66 Aktiv fĂźr Amnesty 67 Wolfgang Grenz Ăźber Papier

Fotos oben: Linda Forsell / Kontinent / laif (2) | Ulrich Baumgarten / Getty Images | Kristy Sparow / Getty Images

4

amnestY JouRnal | 02-03/2013


38

52

beRichte

kultuR

38 Im zweiten Anlauf

52 Die Macht des Volkes

In der UNO beginnen neue Verhandlungen fĂźr einen Waffenkontrollvertrag. Deutschland unterstĂźtzt das Abkommen, steigert aber seine RĂźstungsexporte in Krisenregionen. Von Mathias John

40 Total global Die deutsche RĂźstungsindustrie setzt ganz auf den internationalen Markt. Sie verkauft nicht nur Waffen, sondern auch Know-how. Von Hauke Friederichs

44 Die verratene Revolution In Syrien demonstrierten 2011 friedliche Aktivisten. Doch ihre Vision eines neuen Syriens geht im blutigen Krieg unter, während islamistische Gruppierungen stärker zu werden drohen. Von Gabriele Del Grande

46 Endlich in Sicherheit Weltweit sind 43 Millionen Menschen auf der Flucht. Auch Abubaker Osman musste fliehen. Nun hat er im Rahmen des Resettlement-Programms der UNO in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Von Sara Fremberg

48 Willkßrjustiz in Mosambik In Mosambiks Gefängnissen sind Tausende inhaftiert, ohne fßr ein Verbrechen verurteilt worden zu sein. Sie wurden willkßrlich verhaftet und werden manchmal ßber Jahre festgehalten. Von Ulrich Fehling

Die amerikanische Musikerin und Lyrikerin Patti Smith hat dem Amnesty Journal eines ihrer seltenen Interviews gegeben. Ein Gespräch ßber Politik, Religion, Krieg, Meinungsfreiheit und Pussy Riot.

56 Der Grenzverletzer Der kasachische Theaterregisseur Bolat Atabajew probt derzeit an der KĂślner Theaterakademie. In seinem Heimatland droht ihm Haft wegen ÂťAnstiftung zur sozialen UnruheÂŤ. Von Marcus Bensmann

58 Teilen, herrschen und dazulernen Der US-Journalist William J. Dobson untersucht in seinem neuen Buch Diktatur 2.0 eine Reihe autoritär regierter Staaten. Ihre Fähigkeit zur Anpassung ist enorm, doch die Angst vor der eigenen BevÜlkerung bleibt. Von Maik SÜhler

60 Pflichtlektßre fßr Sarrazin Den falschen Zahlen und Einschätzungen rechts populistischer Autoren setzt Doug Saunders wissenschaftliche Studien ßber muslimische Einwanderer entgegen. Von Maik SÜhler

63 Und jetzt alle: Nein! In seinem spektakulären Film No! erzählt egisseur Pablo Larraín vom Ende der chilenischen R Diktatur. Von Jßrgen Kiontke

49 Aufklärung ausgeschlossen Vor acht Jahren verbrannte Oury Jalloh in einer Zelle im Dessauer Polizeirevier. Das Landgericht Magdeburg hat nun den damals diensthabenden Polizisten verurteilt. Doch wie das Feuer entstanden ist, bleibt weiterhin unklar. Von Ralf Rebmann

inhalt

5


gRiechenlanD

ägYPten

RusslanD

Griechenland missachtet weiterhin in grober Weise die Rechte von Asylsuchenden und Migranten. Das zeigt ein neuer Bericht von Amnesty International. Flüchtlingen wird es nahezu unmöglich gemacht, einen Asylantrag zu stellen. Wem es nicht gelingt, einen Antrag zu stellen, muss damit rechnen, bei Polizeirazzien festgenommen zu werden und in einer der überfüllten Hafteinrichtungen zu landen. Dort herrschen zumeist katastrophale Zustände. Ein weiteres Problem sind rassistisch motivierte Angriffe, die in Griechenland inzwischen fast täglich vorkommen.

Dem ägyptischen Journalisten und Blogger Mohamed Sabry droht der Prozess vor einem Militärgericht. Ägyptische Soldaten nahmen Sabry am 4. Januar an der Grenze zum Gazastreifen fest. Ihm wird vorgeworfen, militärisches Sperrgebiet betreten und dort gefilmt zu haben. Nach Artikel 198 der neuen ägyptischen Verfassung können auch Zivilisten vor Militärgerichte gestellt werden. Der Artikel wurde auf Drängen der Armee in letzter Minute in den Verfassungstext aufgenommen. Amnesty International lehnt Militärgerichtsprozesse gegen Zivilisten ab, da diese kein faires Verfahren garantieren.

Der Usbeke Yusup Kasymakhunov ist am 14. Dezember im Raum Moskau »verschwunden«. Menschenrechtler vermuten, dass ihn der usbekische Geheimdienst in seine Heimat entführt haben könnte, wo ihm Isolationshaft und Folter drohen. Kasymakhunov kam 1995 nach Russland und wurde dort 2004 zu acht Jahren Haft verurteilt. Man warf ihm vor, an Aktivitäten der islamistischen Partei Hizb ut-Tahrir beteiligt gewesen zu sein. Die Partei gilt in Russland wie in Usbekistan als terroristische Vereinigung. Nachdem er am 10. Dezember aus der Haft entlassen worden war, beklagte er, dass ihn Unbekannte auf Schritt und Tritt beschatteten. Kurz darauf war er verschwunden.

Ausgewählte Ereignisse vom 29. November 2012 bis 4. Januar 2013.

iRan aRgentinien In Buenos Aires hat Ende 2012 der bisher größte Prozess gegen Angehörige der argentinischen Militärjunta begonnen. In dem auf zwei Jahre angelegten Verfahren stehen 68 Personen wegen 789 schwerer Verbrechen unter Anklage. Erstmals müssen sich auch acht Piloten der sogenannten »Todesflüge« vor Gericht verantworten. Während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 wurden Hunderte Regimegegner lebendig aus Flugzeugen über dem Atlantik oder dem Río de la Plata abgeworfen. Das Gericht will rund 900 Zeugen anhören.

6

Die inhaftierte iranische Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh hat am 4. Dezember ihren Hungerstreik beendet, nachdem die Behörden zugesichert hatten, das gegen ihre 13-jährige Tochter verhängte Reiseverbot aufzuheben. Sotoudeh hatte 49 Tage lang ausschließlich Salz- und Zuckerwasser zu sich genommen. Ihre Gesundheit ist durch den langen Hungerstreik stark angegriffen, sie leidet unter Sehausfällen, Schwindel und niedrigem Blutdruck. Die Anwältin war wegen ihrer Menschenrechtsarbeit im September 2010 verhaftet und anschließend zu sechs Jahren Gefängnis und einem zehnjährigen Berufsverbot verurteilt worden.

china Der renommierte uigurische Schriftsteller Nurmemet Yasin ist, wie erst jetzt bekannt wurde, bereits 2011 in einem chinesischen Gefängnis gestorben. Sein Tod lässt erkennen, wie schlecht die Haftbedingungen in chinesischen Gefängnissen sind. Yasin war 2005 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, nachdem er die Geschichte »Die wilde Taube« veröffentlicht hatte. Die Ich-Erzählung handelt von einer jungen Taube, die von Menschen gefangen genommen wird und daraufhin Selbstmord begeht – weil sie es nicht erträgt, in Gefangenschaft zu leben.

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Foto: Tobias Gerber / laif

eRfolge

Blutiges Erbe. Im Jahr 2006 endete in Nepal der Bßrgerkrieg. Bis heute fällt es dem Land schwer, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten.

Wichtiges signal im kamPf gegen folteR In seiner Heimat blieb er unbehelligt, nun wird ihm im Ausland der Prozess gemacht: Ein Offizier der nepalesischen Armee muss sich in GroĂ&#x;britannien wegen Folter vor Gericht verantworten. Der 46-jährige Kumar Lama wurde am 3. Januar im SĂźdosten Englands verhaftet, wo er mit seiner Familie die Weihnachtsferien verbrachte. Vor seiner Inhaftierung diente Kumar Lama in der UNO-Friedenstruppe im SĂźdsudan. Ihm wird vorgeworfen, im Jahr 2005 während des BĂźrgerkriegs in Nepal zwei Gefangene in einer Kaserne schwer misshandelt zu haben. Amnesty International begrĂźĂ&#x;te seine Verhaftung. ÂťDies ist ein ungemein wichtiges SignalÂŤ, sagte Amnesty-Expertin Polly Truscott. ÂťGroĂ&#x;britannien scheint seinen internationalen Verpflichtungen im Kampf gegen Folter nachzukommen. Leider demonstriert der Fall aber auch, dass die nepalesische Justiz versagt hat. Nepal hat bislang keine ernsthaften Schritte unter-

gRossbRitannien

uno ächtet genitalveRstĂœmmelung

veReinte nationen Die UNO hat die weibliche GenitalverstĂźmmelung offiziell geächtet. Ein Ausschuss der UNO-Vollversammlung verabschiedete Ende November einstimmig eine Resolution, die alle Mitgliedsstaaten aufruft, Mädchen und Frauen vor dieser Form der Gewalt zu schĂźtzen. Die Beschneidung der weiblichen Geschlechtsorgane ist vor allem im Westen und Nordosten Afrikas weit verbreitet. In Ländern wie Ă„gypten, Somalia oder Guinea sind mehr als neunzig Prozent der Frauen betroffen. Nach Angaben von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, sind insgesamt etwa 140 Millionen Frauen weltweit be-

eRfolge

nommen, um die Verbrechen des Bßrgerkriegs umfassend aufzuklären und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Von 1996 bis 2006 kämpften in dem sßdasiatischen Land maoistische Rebellen gegen die Truppen der Monarchie. Die Kämpfe forderten mehr als 16.000 Todesopfer, beide Konfliktparteien machten sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig. Der Bßrgerkrieg endete im Jahr 2006 mit einem Friedensabkommen, zwei Jahre später wurde die Monarchie abgeschafft und die Republik ausgerufen. Doch die Hoffnung, die neue politische Fßhrung wßrde die Vergangenheit juristisch aufarbeiten, wurde enttäuscht. Amnesty erhält zudem Beschwerden, dass AngehÜrige der nepalesischen Sicherheitskräfte weiterhin Folter anwenden. Die Menschenrechtsorganisation hat die BehÜrden wiederholt aufgefordert, Straftäter nicht länger zu schßtzen und dafßr zu sorgen, dass den Opfern Gerechtigkeit zuteil wird.

schnitten, täglich kommen rund 8.000 hinzu. Der Eingriff ist meist mit immensen Schmerzen verbunden und fßhrt nicht selten zu tÜdlichen Infektionen. Im Jahr 2011 beschloss die Afrikanische Union, in der UNO ein weltweites Verbot der Beschneidung auf den Weg zu bringen. Amnesty International bezeichnete die nun verabschiedete Resolution als wichtigen Etappensieg im globalen Kampf gegen weibliche Genitalverstßmmelung. Seit Jahren setzt sich die Menschenrechtsorganisation mit Lobbyarbeit und Informationskampagnen dafßr ein, die archaische Praxis weltweit zu ächten. (Siehe auch Seite 32)

7


Foto: Karl-Josef Hildenbrand / dpa / picture alliance

Entfßhrungsopfer al-Masri. Jahrelang hatte er um seine Glaubwßrdigkeit gekämpft, nun wurde ihm Entschädigung zugesprochen.

DeR sPäte sieg Des khaliD al-masRi Es ist ein historischer Richterspruch: Der Europäische Gerichtshof fĂźr Menschenrechte hat Mazedonien verurteilt, Schmerzensgeld an das CIA-EntfĂźhrungsopfer Khalid al-Masri zu zahlen. Als er in Ulm den Reisebus betrat, konnte der Gebrauchtwagenhändler noch nicht ahnen, dass diese Reise sein Leben fĂźr immer verändern wĂźrde. Er wollte sich Ăźber Silvester doch nur einen billigen Kurzurlaub auf dem Balkan gĂśnnen. Es kam anders. In Mazedonien wurde er aus dem Bus gezerrt und wochenlang im Hotel festgehalten. Dann erschienen maskierte Männer, die ihn vergewaltigten und ins ferne Afghanistan verschleppten. Khalid al-Masris Geschichte klingt unglaublich – so unglaublich, dass sie immer wieder bezweifelt wurde. Nun hat sich der Europäische Gerichtshof fĂźr Menschenrechte mit dem Fall beschäftigt und die Geschichte bestätigt: Agenten der CIA haben den gebĂźrtigen Libanesen, der seit 1994 den deutschen Pass besitzt, im Januar 2004 entfĂźhrt, weil sie ihn irrtĂźmlicherweise fĂźr einen Terroristen hielten. Da Mazedonien in die Verschleppung verstrickt war, haben die StraĂ&#x;burger Richter den Balkanstaat im Dezember 2012 verurteilt, 60.000 Euro Schmerzensgeld an al-Masri zu zahlen. Amnesty nannte das Urteil einen ÂťMeilensteinÂŤ. Erstmals wurde ein Staat juristisch belangt, weil er die CIA bei ihren EntfĂźhrungsflĂźgen unterstĂźtzte. Warum al-Masri ins Visier des US-Geheimdienstes geriet, ist bis heute nicht restlos geklärt. WomĂśglich verwechselten ihn die Agenten mit einem mutmaĂ&#x;lichen Terroristen, der ebenfalls al-Masri heiĂ&#x;t. Vielleicht machte er sich auch nur verdächtig, weil er in Neu-Ulm eine islamistische Moschee besucht hatte. Sicher ist: Es war die Hochphase der Terroristenfahndung, als mazedonische Sicherheitskräfte al-Masri am Silvestertag 2003

8

verhafteten und drei Wochen lang in einem Hotelzimmer in Skopje ins KreuzverhĂśr nahmen. AnschlieĂ&#x;end wurde er einem US-Team Ăźberstellt, das ihn sexuell misshandelte, mit einer Spritze betäubte und nach Afghanistan flog. Dort warf man ihn in eine Betonzelle, verhĂśrte und folterte ihn monatelang – er verlor fast 20 Kilogramm Gewicht. Als seine Peiniger bemerkten, dass er unschuldig war, wurde er nach 149 Tagen Haft nach Albanien verfrachtet und auf einem Waldweg ausgesetzt. Der Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof war al-Masris letzte Chance, Recht zu erlangen. Neun Jahre lang hatte er vor deutschen, mazedonischen und US-amerikanischen Gerichten Entschädigung gefordert. Doch seine Klagen wurden abgeschmettert. Dass Mazedonien nun verurteilt wurde, mag fĂźr alMasri ein später Trost sein. Doch seine eigentlichen Häscher werden sich wohl niemals vor Gericht verantworten mĂźssen. Al-Masri fehlte im Gerichtssaal, als die StraĂ&#x;burger Richter ihr Urteil verlasen. Er sitzt seit mehr als zwei Jahren in einer Gefängniszelle im Allgäu. Nach seiner EntfĂźhrung fand al-Masri nicht mehr in sein altes Leben zurĂźck. Er wurde vom Opfer zum Wiederholungstäter: Anfang 2007 verprĂźgelte er einen FahrprĂźfer, kurz darauf zĂźndete er nachts eine Metro-Filiale an. Er erhielt eine Bewährungsstrafe, schlug den Neu-Ulmer OberbĂźrgermeister nieder – und landete hinter Gittern. Nach Ansicht der Gerichtsgutachter wurde al-Masri durch die Folter schwer traumatisiert und wird deswegen von AggressionsschĂźben Ăźberwältigt. Al-Masri musste nach seiner Verschleppung zwei Jahre lang warten, bis ihm eine Krankenkasse eine Trauma-Therapie genehmigte. Sieben Anträge waren zuvor abgelehnt worden. Text: Ramin M. Nowzad

amnestY JouRnal | 02-03/2013


einsatz mit eRfolg Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

amPutationen nicht vollstReckt

sauDi-aRabien Ein grausames Urteil wurde umgewandelt: Sechs jungen saudischen Beduinen sollte die rechte Hand und der linke FuĂ&#x; amputiert werden. Nun wurde bekannt, dass der saudische KĂśnig bereits im September die Urteile in mehrjährige Haftstrafen umgewandelt hat. Die Männer waren 2011 in Riad wegen Raubes verurteilt worden, ohne dass sie vor Gericht von einem Anwalt vertreten wurden. Alle Beschuldigten gaben an, ihre Geständnisse seien mit Schlägen erpresst worden. Amnesty hatte den saudischen KĂśnig Abdullah wiederholt aufgefordert, die Amputationsurteile gegen die sechs jungen Männer aufzuheben. Ein AngehĂśriger eines der Verurteilten bedankte sich bei Amnesty fĂźr die moralische UnterstĂźtzung und die Appelle, die zugunsten der Männer geschrieben wurden.

fRieDensbRäute in fReiheit

Âťsieg fĂœR Die meinungsfReiheitÂŤ

Sie setzten sich fĂźr einen jungen Wehrdienstverweigerer ein, der wegen ÂťBefehlsverweigerungÂŤ vor Gericht stand, und landeten deshalb selbst vor Gericht. Der junge Aktivist Halil Savda und drei weitere Personen waren in der TĂźrkei angeklagt, weil sie mit ihrem friedlichen Protest die Öffentlichkeit vom Militärdienst entfremdetÂŤ hätten – eine Straftat nach tĂźrkischem Recht. Anfang Dezember fällten die Richter in der Stadt Eski Ĺ&#x;ehir das Urteil: Freispruch. Das Gericht begrĂźndete sein Urteil damit, dass eine demokratische Gesellschaft auch Meinungen zulassen mĂźsse, die andere schockierten oder verstĂśrten. Amnesty bezeichnete den Richterspruch als einen ÂťSieg fĂźr die MeinungsfreiheitÂŤ. In der TĂźrkei ist der Militärdienst fĂźr alle männlichen BĂźrger zwischen 20 und 42 Jahren verpflichtend, es gibt keinen alternativen Zivildienst. Wehrdienstverweigerer werden von tĂźrkischen Gerichten regelmäĂ&#x;ig zu Haftstrafen verurteilt. tĂœRkei

DissiDent aus haft entlassen

kuba Der Regierungskritiker Antonio Rodiles ist am 26. November 2012 nach 19 Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Die VorwĂźrfe gegen ihn wegen ÂťWiderstandes gegen StaatsbediensteteÂŤ wurden fallengelassen. Er muss jedoch eine ÂťVerwaltungsgebĂźhrÂŤ von 800 Pesos zahlen – das entspricht zwei durchschnittlichen Monatsgehältern auf Kuba. Zudem wurde er davor gewarnt, seinen friedlichen Aktivismus fortzusetzen. Rodiles ist Koordinator einer zivil gesellschaftlichen Initiative, die von der kubanischen Regierung die Ratifizierung internationaler Menschenrechtsverträge fordert. Amnesty hatte sich mit einer Eilaktion fĂźr ihn eingesetzt.

enDlich in äRztlicheR behanDlung

JoRDanien Adnan al-Howeish ist am 19. Dezember 2012 gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem man ihm ßber einen Monat lang eine fachärztliche Versorgung verweigert hatte. Der Jordanier war am 17. November festgenommen worden, als er an einer friedlichen Demonstration teilnahm, die eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage im Land gefordert hatte. Bei der Protestveranstaltung wurde er von einem Stein getroffen und dabei sehr schwer am linken Auge verletzt. Zeugenberichten zufolge warfen vermummte Unterstßtzer der Regierung mit Steinen auf die Protestierenden. Obwohl der behandelnde Arzt empfahl, al-Howeish in eine Spezialklinik zu ßberweisen, um seine Augenverletzung zu behandeln, wurde der Jordanier im Gefängnis festgehalten.

Fotos: privat, Michael Sawyer

sYRien Vier junge Aktivistinnen, die in Brautkleidern friedlich gegen den BĂźrgerkrieg in Syrien demonstriert hatten, sind seit dem 9. Januar wieder auf freiem FuĂ&#x;. Die ÂťFriedensbräuteÂŤ waren im vergangenen November in einem Basar in Damaskus festgenommen worden, nachdem sie

Transparente entrollt hatten, auf denen sie ein Ende der Gewalt forderten. Amnesty setzte sich mit einer Eilaktion fĂźr die Frauen ein. Ein Gefangenenaustausch brachte ihnen nun die Freiheit. Das syrische Regime sicherte zu, mehr als 2.100 Gefangene freizulassen. Im Gegenzug haben Rebellen 48 Iraner entlassen, die sie im vergangenen August entfĂźhrt hatten. Die Rebellen hatten ihren Geiseln vorgeworfen, iranische Elitesoldaten zu sein. Die FĂźhrung in Teheran hatte hingegen stets versichert, dass es sich bei den Geiseln um schiitische Pilger handle.

Gegen Geiseln ausgetauscht. Die syrischen Friedensbräute.

eRfolge

Vom Gericht freigesprochen. Anti-Militärdienst-Aktivist Halil Savda.

9


PanoRama

Foto: Juan Pablo Gutierrez

kanaDa: PRotest DeR inDigenen

Ihr Widerstand ist laut und bunt: Mit Trommeln, Trachten und Tänzen demonstrieren die Ureinwohner Kanadas seit Wochen fĂźr ihre politischen Rechte. ÂťIdle No MoreÂŤ (ÂťWir halten nicht mehr still!ÂŤ) nennt sich die landesweite Protest bewegung, die vor allem Ăźber soziale Medien wie Facebook und Twitter koordiniert wird. Die zumeist jungen Aktivisten blockieren Bahngleise und StraĂ&#x;enkreuzungen, verabreden sich zu Flash-Mobs, organisieren Demonstrationen und treten sogar in den Hungerstreik, um die Ă–ffentlichkeit auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. AusgelĂśst wurde die Protestbewegung durch Pläne der konservativen Regierung Kanadas, die gesetzlich verbĂźrgten Mitbestimmungsrechte der indigenen BevĂślkerung zu unterlaufen. Die Indigenen kämpfen vor allem um Mitsprache bei groĂ&#x;en Bauprojekten – wie der Verlegung von Ă–lpipelines – auf ihrem angestammten Land.

10

amnestY JouRnal | 02-03/2013

,


%

fRankReich: zWangsRäumungen von Roma-sieDlungen

Tausende Roma werden in Frankreich jedes Jahr Opfer illegaler Zwangsräumungen. Dies zeigt ein neuer Bericht von Amnesty International. In Frankreich leben schätzungsweise 15.000 Roma in ärmlichen, provisorisch errichteten Siedlungen. Die franzĂśsische Polizei räumt diese Camps immer wieder, ohne die Bewohner vorzuwarnen. In der Regel werden die HĂźtten anschlieĂ&#x;end mit Planierraupen und Bulldozern abgerissen. Die BehĂśrden begrĂźnden ihr Vorgehen mit den schlechten sanitären Zuständen in den Lagern, die ein Gesundheitsrisiko darstellen. Tatsächlich leben die Roma in ihren Siedlungen meist ohne Abwasserleitungen und MĂźllabfuhr. Doch mit den Zwangsräumungen wird das Problem nicht gelĂśst, sondern verschärft: Da die franzĂśsischen BehĂśrden den Betroffenen keine ErsatzunterkĂźnfte zur VerfĂźgung stellen, bleibt den zwangsgeräumten Roma meist keine andere Wahl, als auf der StraĂ&#x;e zu leben.

Foto: Susanne Ure / Amnesty

PanoRama

11


16

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Thema: Gewalt gegen Frauen

Es ist einer der grĂśĂ&#x;ten Menschenrechtsskandale unserer Zeit – und doch ganz alltäglich: Jeden Tag werden Millionen Frauen Ăźberall auf der Welt zu Opfern von Gewalt. Sie werden verprĂźgelt, vergewaltigt und versklavt, gedemĂźtigt, gequält und getĂśtet. Es passiert auf Schlachtfeldern und in Schlafzimmern, es trifft Kinder ebenso wie Erwachsene. Weltweit ist jede dritte Frau betroffen.

Nur, 17, Ă„gypten. Ihr Ehemann ging mit einem Messer auf sie los. Sie zeigte ihn nicht an. Foto: Linda Forsell / Kontinent / laif

17


Emerance, 20, DR Kongo. Emerance war 14 Jahre alt, als Soldaten das Haus ihrer Familie in der Demokratischen Republik Kongo stürmten. Sie vergewaltigten ihre Mutter und erschossen ihre beiden Brüder. Auch ihr Vater kam ums Leben. Emerance wurde in ein Militärlager verschleppt, wo man sie regelmäßig vergewaltigte. Als ihr nach acht Monaten die Flucht gelang, bemerkte sie, dass sie in der Gefangenschaft schwanger geworden war. »Meine Tochter ist mein ganzer Stolz«, sagt sie heute. »Sie hilft mir dabei, das Grauen zu vergessen.«

20

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Der gefährlichste Ort der Welt In der Demokratischen Republik Kongo wird sexuelle Gewalt systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Doch um das Problem zu lösen, muss man sich mit den Tätern befassen: Die jungen Rebellen werden dazu gezwungen – auf Befehlsverweigerung steht die Todesstrafe. Von Simone Schlindwein

Foto: Linda Forsell / Kontinent / laif

F

rauen wie Mapendo, Love, Nyota oder Emerance trifft man in der Demokratischen Republik Kongo nicht nur in den wenigen Frauenkliniken an. Frauen wie Mapendo, Love, Nyota und Emerance findet man an jedem Gemüsestand, an jeder Wasserstelle, auf jedem Maisfeld – ja beinahe in jedem Haushalt. Wer lange genug zuhört, muss feststellen, dass fast jede Frau im Kongo eine Geschichte sexueller Gewalt erzählen kann. Vor allem im Ostkongo, wo seit fast 18 Jahren ein brutaler Krieg tobt – auch ein Krieg der Männer gegen die Frauen. Ein bekanntes Beispiel sind die Massenvergewaltigungen in der Region Walikale im Jahr 2010. Luvungi heißt ein kleines Dorf, tief im undurchdringlichen Dschungel des Ostkongo gelegen. Lehmhütten mit Strohdächern schmiegen sich an die Hänge. Dahinter ragt der Regenwald empor. Von dort kamen die Rebellen. Es war dunkel, nach 23 Uhr an jenem 30. Juli 2010. Wie Schatten drangen die Gestalten in das Dorf ein. 387 Menschen wurden in vier Tagen in Luvungi und den umliegenden 13 Dörfern vergewaltigt – 300 Frauen, 55 Mädchen, 23 Männer und neun Jungen. Das jüngste Opfer war zwei Jahre alt, das älteste 79. Fast alle wurden mehrfach misshandelt und sind

thema

|

geWalt gegen fRauen

bis heute schwer traumatisiert. Eine der Frauen will dennoch darüber sprechen – das ist mutig und tapfer. Wir nennen sie Marie. Die Mutter von fünf Kindern sitzt auf einem Holzstuhl in ihrer Lehmhütte ohne Fenster und erzählt stockend. Es war spät am Abend, erinnert sich Marie. Sie lag im Bett neben ihrem Mann. Plötzlich traten Männer die Tür ein. Sie trugen Uniformen und Waffen. »Wir sind gekommen, um uns um euch zu kümmern«, sagten sie. Sie zerrten Marie an den Haaren auf den Boden. Jeder der Männer verging sich an ihr. Ihr Mann musste zusehen. Sie vergewaltigten auch ihre zweijährige Tochter. Sie schrie und schrie. Sie blutete. »Viele sind an den Verletzungen gestorben«, sagt Marie. Einige wurden schwanger. So auch Maries 15-jährige Nachbarin. Marie steht auf und ruft nach dem Mädchen. Mit dickem Bauch kommt sie herein und setzt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf eine Couch. Von der Unterleibsinfektion habe sie sich nie erholt, gesteht das Mädchen. Sie wisse nicht, ob sie die Geburt überleben werde. Was in Luvungi geschah, das geschieht in den Wäldern des Ostkongo fast jeden Tag seit 18 Jahren. Als die ruandischen Hutu-Milizen nach dem Völkermord an den Tutsi 1994 in den Kongo flohen und sich dort als FDLR (Demokratische

21


Love, 22, DR Kongo. Sie war gerade einmal vier Jahre alt, als Tutsi-Soldaten ihren Vater ermordeten. Love schwor, Rache zu nehmen – und schloss sich in der Demokratischen Republik Kongo als Zehnjährige den Guerilla-Kämpfern an. Als Kindersoldatin sah sie viele Kriegsverbrechen. Und sie machte sich selbst schuldig. Mit fünfzehn Jahren erschoss sie ihren Kommandeur und flüchtete in ihr Heimatdorf. Doch ihre Familie weigerte sich, sie wieder aufzunehmen. Man hatte Angst vor ihr.

Kräfte zur Befreiung Ruandas) neu formierten, begann eine Gewaltspirale. Massenvergewaltigungen wie in Luvungi sind keine individuellen Attacken. Sie sind von langer Hand geplant, werden befohlen und ausgeführt. Sie sind Teil des Krieges, der zwischen den verschiedenen Milizen und der Armee geführt wird. Ermittlungen der UN-Mission im Kongo (Monusco) stellten später fest: In Luvungi hatte sich die FDLR mit lokalen kongolesischen Milizen zusammengeschlossen, um gemeinsam das ressourcenreiche Territorium im Dschungel zu kontrollieren. Einheiten der Regierungsarmee gingen mit groß angelegten Operationen gegen sie vor. Als die Regierungstruppen abgezogen wurden, übten die Rebellen Rache an der Bevölkerung: Sie beschuldigten die lokalen Bewohner, die Soldaten zu unterstützen. Sie bezichtigten die Frauen, ihnen Essen zu kochen und für sexuelle Dienste zur Verfügung zu stehen. Die systematischen Vergewaltigungen waren eine gezielte Bestrafungsaktion. Die Täter führten dabei Befehle ihrer Vorgesetzten aus. Dafür gibt es deutliche Hinweise: Nur rund einen Kilometer von Luvungi entfernt liegt Kembe. Aus diesem Dorf

22

stammt Oberstleutnant Mayele, der Vize-Kommandeur der lokalen kongolesischen Mayi-Mayi-Sheka-Miliz. In der langen Reihe kleiner Siedlungen entlang der holprigen Straße, die von Luvungi wegführt, wurden die Einwohner von 13 Dörfern systematisch vergewaltigt und ausgeraubt – nur Kembe, wo Mayeles Mutter, Frau und Töchter leben, verschonten die Kämpfer. In der Dunkelheit ihrer Lehmhütte in Luvungi erzählt Marie, ihr Ehemann sei davongelaufen: »Er konnte mir nicht mehr in die Augen sehen, weil er mich nicht beschützen konnte«, sagt sie. Das schwangere Mädchen klagt, sie würde in ihrer Situation niemals einen Mann finden. Sie fürchte, von ihrer Familie verstoßen zu werden, weil sie keinen Brautpreis mehr einbringen würde. Tatsächlich sind es die Frauen, die in dieser vom Krieg zerrütteten Gesellschaft das soziale Leben in den Dörfern aufrechterhalten: Sie bestellen die Felder, sie handeln mit den Ernteerträgen und erwerben damit Seife und andere Dinge des täglichen Bedarfs, sie erziehen die Kinder, sie kümmern sich um Alte und Kranke. Die UNO bezeichnet den Kongo als »Welt-Hauptstadt der Vergewaltigung« und spricht vom »gefährlichsten Land für

amnestY JouRnal | 02-03/2013


thema

|

geWalt gegen fRauen

Fotos: Linda Forsell / Kontinent / laif

Frauen«. Die Statistiken zeigen, dass die sexuelle Gewalt immer weiter zunimmt. Über eine halbe Million Frauen sollen seit Beginn des Krieges 1998 vergewaltigt worden sein. Jede dritte Frau im Ostkongo wurde Opfer sexueller Gewalt. 60 Prozent von ihnen wurden von bewaffneten Männern misshandelt. Das Land gilt als Beispiel für sexuelle Gewalt als Kriegswaffe. Doch gab es sexuelle Gewalt auch in anderen Kriegen, nicht zuletzt während des Zweiten Weltkriegs. Sie ist auch das Ergebnis der extremen Gewalterfahrung der Männer, die diese Kriege führen. Um dieses Phänomen zu verstehen, reicht es nicht, sich nur mit den Opfern zu beschäftigen. Zahlreiche Interviews mit Rebellen niedriger Dienstgrade zeigen: Die jungen Männer, die oft als Kindersoldaten gewaltsam zur Waffe gezwungen wurden, sind nicht nur Täter – sie bewegen sich selbst in einem Gewaltsystem. Sexuelle Demütigung und Missbrauch sind innerhalb der bewaffneten Gruppen des Ostkongos alltäglich: So demonstrieren Kommandeure die Macht über ihre Fußsoldaten, so werden Hierarchien gewaltsam etabliert, so wird undisziplinierten Kämpfern der Wille gebrochen, werden Vergehen bestraft. Sexualität ist für die jungen Soldaten, die in den Milizen aufwachsen,

Jede dritte Frau wurde seit Beginn des Krieges misshandelt. Mitarbeiter einer psychosozialen Einrichtung halten einen Vortrag über sexuelle Gewalt in einer Schule in SüdKivu. In der Region kommt es häufig zu Übergriffen, viele junge Frauen wurden vergewaltigt und haben sich dabei mit HIV infiziert.

23


von jeher mit Gewalt und Brutalität verbunden. Die sexuelle Demütigung legt die Grundlage dafür, selbst Vergewaltigungen zu verüben. Die Gewalt gegen Frauen stellt im Täter die gedemütigte Männlichkeit wieder her. UNO-Ermittlungen haben ergeben, dass Massenvergewaltigungen wie die in Luvungi von der Kommandohierarchie angeordnet wurden. In Rebellenorganisationen wie der FDLR steht auf Befehlsverweigerung die Todesstrafe. Im Grunde sind also die Kommandeure dieser Milizen die Verantwortlichen, auch wenn sie die Taten nicht selbst begehen. Die Vergewaltiger haben keine Wahl, sie werden selbst zum Opfer. Der systematische Einsatz sexueller Gewalt als Kriegswaffe hat in den vergangenen Jahrzehnten einen Dominoeffekt erzeugt: Im Dschungel, wo Regierungsarmee und Polizei fern sind, formieren sich stetig neue Milizen – lokale Selbstverteidigungsgruppen, die ihre Frauen und Töchter vor fremden Eindringlingen wie der ruandischen FDLR schützen wollen. Ein Beispiel dafür ist die Raia Mutomboki-Bewegung, die 2012 für die meisten und brutalsten Menschenrechtsverbrechen im Ostkongo verantwortlich war. »Raia Mutomboki« bedeutet übersetzt »das wütende Volk«. Der oberste Kommandeur dieser mit Macheten und Lanzen ausgerüsteten Kämpfer, Kikuny, hat in seinem bislang einzigen Interview zugegeben: »Wenn jemand deine Frau vergewaltigt, dann wirst du wütend – das ist, was wir sind!« Tief in Kongos Dschungel sitzt er, umringt von Schädeln – den Gebeinen abgeschlachteter Angehöriger: »Jetzt tun wir den Frauen der FDLR an, was sie unseren Frauen angetan haben. Wir kongolesischen Männer lassen uns nicht länger von den Ruandern demütigen«, brüllt er wütend. Die Massenmorde der Raia Mutomboki-Kämpfer sind Selbstjustiz infolge extremer Straflosigkeit – die grausame Folge der Gewaltspirale. Doch wie lassen sich all diese Kommandeure juristisch zur Verantwortung ziehen? Das Armeehauptquartier in Ostkongos Provinzhauptstadt Goma liegt inmitten eines Slums aus grünen windschiefen Zelten. Hier leben die Soldaten in Dreck und Elend. Das steinerne Gebäude des Militärgerichtshofs sticht hervor wie eine Festung. Im Garten wachsen mannshohe Marihuana-Pflanzen. Militärstaatsanwalt Oberst Marten Baseleba studiert an seinem Schreibtisch handgeschriebene Dokumente. Sein Laptop neben ihm hat keinen Strom. Daneben türmen sich vergilbte Bücher über Kriegsverbrechen und Aktenberge. Der alte Mann

24

liest in einem Dokument und runzelt die Stirn: Der Hauptangeklagte im Prozess wegen der Massenvergewaltigungen in Luvungi, Oberst Mayele, ist gerade in Untersuchungshaft gestorben, »Todesursache unbekannt«, liest Baseleba laut vor: »Damit können wir dieses Verfahren auch ad acta legen.« Schade. Das Verfahren war ein Hoffnungsschimmer. Es begann 2011 in der Distrikthauptstadt Walikale, nahe Luvungi. Militärrichter, Ankläger, Anwälte, Täter, Zeugen und Opfer waren anwesend. Darunter auch Marie. In aller Öffentlichkeit wagten die Frauen, gegen die Täter auszusagen. Ein Meilenstein, der jetzt doch keine Konsequenzen hat. In kaum einem Land sei es so schwer, Kriegsverbrechen aufzuklären, wie im Kongo, sagt Baseleba: »Wie soll ich denn dieser Rebellen habhaft werden?«, seufzt er und fügt leise hinzu: »Meine Soldaten vergewaltigen ja auch.« Dabei soll die Armee die Bevölkerung vor den Rebellen beschützen. Doch als die Regierungseinheiten im November 2012 die Schlacht um die Millionenstadt Goma gegen die Rebellen der M23 (Bewegung des 23. März) verloren, zogen sich die geschlagenen Truppen ungeordnet und demoralisiert in die Kleinstadt Minova, 40 Kilometer südlich von Goma, zurück. Die Offiziere hatten die Kommandohoheit verloren. Tagelang plünderten ihre Soldaten dort sturzbetrunken die Bevölkerung aus. Und sie vergewaltigten: 126 Frauen und Mädchen mussten im örtlichen Krankenhaus behandelt werden. Generalinspektor General Francois Olenga kam aus der Hauptstadt Kinshasa eingeflogen, »um für Ordnung zu sorgen«. Einer seiner Offiziere gab zu: »Unsere Einheiten verhalten sich schlimmer als jede Rebellengruppe derzeit.« Die Autorin ist Afrika-Korrespondentin und lebt in Goma, Ostkongo.

PoRtRätseRie »toDesuRsache: fRau« Weltweit ist jede dritte Frau einmal in ihrem Leben physischer, sexueller oder einer anderen Form von Gewalt ausgesetzt. Zwischen 2010 und 2012 haben die Autorinnen der Porträtserie »Todesursache: Frau« die Situation in zehn verschiedenen Ländern dokumentiert: in Ägypten, Brasilien, der Demokratischen Republik Kongo, Mexiko, Pakistan, Russland, Schweden, Spanien, Südafrika und den USA. Sie trafen sich mit Frauen, die Gewalt überlebt hatten, und mit Menschen, die auf eine Veränderung der Gesellschaft hinwirken wollen. »Todesursache: Frau« ist ein gemeinsames Projekt der Autorin Karin Alfredsson, der Fotografin Linda Forsell und der Journalistin Kerstin Weigl in Zusammenarbeit mit dem Schwedischen Verband der Frauenhäuser und Mädchenhäuser. Wir haben für das Amnesty Journal einige Porträts aus diesem Projekt für unsere Titelgeschichte ausgewählt, darunter Fälle häuslicher Gewalt. Die Familie und das Zuhause, für viele der Inbegriff von Frieden und Sicherheit, sind für Millionen Frauen ein Ort des Leidens. Die Porträts aus dem Ostkongo und Mexiko dokumentieren die Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Frauen – sie werden nicht nur Opfer von Schusswaffen, sondern auch von massenhaften Vergewaltigungen, die Teil der Kriegsstrategie sind. Eine ausführliche Dokumentation des Projekts findet sich im Internet unter www.causeofdeathwoman.com

amnestY JouRnal | 02-03/2013

Foto: Linda Forsell / Kontinent / laif

Massenvergewaltigungen sind keine individuellen Attacken. Sie sind von langer Hand geplant, werden befohlen und ausgeführt.


Friedhof der Namenlosen. Die Leichen der Frauen können in Ciudad Juárez häufig nicht identifiziert werden. Die Zahl der anonymen Gräber wächst.

Die ersten Opfer Während die Zahl der Morde in Mexiko insgesamt langsam zurückgeht, nehmen die Tötungsdelikte gegen Frauen in der Stadt Ciudad Juárez weiter zu. Mit dafür verantwortlich ist die massenhafte Verbreitung von Schusswaffen in einem mittlerweile kriegsähnlichen Konflikt. Von Wolf-Dieter Vogel

thema

|

geWalt gegen fRauen

25


Stadt der verschwundenen Töchter. Angehörige suchen mit Aushängen nach den vermissten Frauen.

E

s hätten die Schuhe ihrer Tochter sein können. »Aber sie kann sie nicht mehr benutzen«, sagt Enriqueta Enríquez, während sie mit anderen Aktivistinnen vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft in Ciudad Juárez steht und protestiert. Mehr als 300 rote Schuhe haben die Frauen am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, hier aufgestellt. Rot für das viele Blut, das in der nordmexikanischen Stadt geflossen ist; die Schuhe zur Erinnerung an die unzähligen Mädchen und Frauen, die in Ciudad Juárez dem sogenannten »Feminicidio« zum Opfer gefallen sind. Auch Adriana Sarmiento, die Tochter von Enriqueta Enríquez, wurde tot aufgefunden. Seither fordert die Mutter, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Doch bislang mit wenig Erfolg: »Es ist wie vor vier Jahren, als sie verschwunden ist. Die Behörden verspotten uns.« Niemand weiß genau, wie viele Frauen starben, seit das Töten Anfang der neunziger Jahre seinen Anfang nahm. Von insgesamt 915 ermordeten Frauen spricht Imelda Marrufo Nava vom Netzwerk »Mesa de Mujeres de Ciudad Juárez«, 320 wurden nach Amnesty-Informationen allein im Jahr 2011 getötet. Auch die vielen Sonderermittler, Spezialstaatsanwaltschaften und Ombudstellen, die nach internationalem Druck und aufgrund des Kampfs zivilgesellschaftlicher Organisationen eingerichtet wurden, konnten die Angriffe nicht eindämmen. Nach einem Bericht, der im Rahmen der UNO-Frauenrechtskonvention CEDAW erstellt wurde, starben 2010 so viele Frauen eines unnatürlichen Todes wie lange zuvor nicht mehr. Andere Quellen gehen davon aus, dass seit 2009 bis heute mehr Mädchen und Frauen ermordet wurden als in den gesamten 15 Jahren zuvor.

26

Was sind die Gründe für diese Zunahme? Eine Erklärung liegt nahe: In jedem Krieg sind Frauen die ersten Opfer, und nachdem Präsident Felipe Calderón 2008 im Kampf gegen die Drogenkartelle Tausende von Soldaten nach Ciudad Juárez schickte, ist die Stadt an der US-Grenze Schauplatz eines bewaffneten Konflikts, der kriegerische Ausmaße angenommen hat. Mindestens 10.500 Menschen wurden seither getötet. Allein im Jahr 2008 wurden in der Stadt mit ihren 1,3 Millionen Einwohnern mehr Zivilpersonen getötet als im gleichen Zeitraum in ganz Afghanistan. Viele Menschen kamen ums Leben, weil sie in den Kugelhagel zwischen Kriminellen und Armeeangehörigen geraten waren, andere, weil die Mörder sie schlicht verwechselt hatten. Im Schatten des sogenannten Drogenkriegs sterben auch Menschen, die den Kartellen, lokalen Machthabern oder Sicherheitskräften schon lange ein Dorn im Auge sind. So etwa Susana Chávez, Marisela Escobedo und Josefina Reyes, die sich gegen Frauenmorde, Straflosigkeit und ungerechte Verhältnisse zur Wehr gesetzt hatten. Bis heute weiß man nicht, wer die Aktivistinnen umgebracht hat. Unbekannt sind auch die Mörder von Adriana Sarmiento und andere Täter, die für den »Feminicidio« verantwortlich sind. 95 Prozent aller Fälle bleiben ungesühnt, kritisiert das Netzwerk »Mesa de Mujeres«. Durch die Straflosigkeit fühlen sich die Täter zu weiteren Morden ermutigt. Doch nicht nur Straflosigkeit, sondern auch die ständig präsente Gewalt senken die Hemmschwelle für tödliche Angriffe. Der Krieg brachte viele Schusswaffen in die Stadt und je mehr Gewehre und Pistolen im Umlauf sind, desto selbstverständ-

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Fotos: Linda Forsell / Kontinent / laif

licher wird das Morden. Darunter leidet vor allem die weibliche Bevölkerung, stellt Barbara Frey fest, die UNO-Sonderberichterstatterin für die Prävention von Menschenrechtsverletzungen durch Kleinwaffen: »In einer männerdominierten Gesellschaft wird der Waffenbesitz damit begründet, dass die Männer die Frauen schützen müssen, doch werden die Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit Opfer von Gewalt, je mehr Waffen in der Familie oder im gesellschaftlichen Umfeld vorhanden sind.« Jüngste Untersuchungen der UNO, die in Zusammenarbeit mit der für Frauenpolitik zuständigen mexikanischen Regierungsbehörde Inmujer entstanden, bestätigen diese Einschätzung: Vor 2007 kamen in Mexiko kaum Frauen durch Schüsse ums Leben, 2010 waren hingegen bei 54 Prozent der Frauenmorde Gewehre und Pistolen im Spiel. Dies habe »zweifellos mit dem illegalen Waffenhandel und den Aktivitäten krimineller Organisationen zu tun«, so die Autoren der Studie. Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez und ihre Schwesterstadt El Paso auf US-amerikanischer Seite bilden eines der Zentren des organisierten Verbrechens. Seit langem herrschen hier zwei Mafia-Gruppen: das Juárez-Kartell und das SinaloaKartell. Bis Felipe Calderón die Armee mobilisierte, existierte ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte. Doch inzwischen führen die Kartelle einen offenen Krieg um die Kontrolle der illegalen Transportrouten und des kriminellen Marktes. Nach Schätzungen von US-Behörden passieren rund 70 Prozent des in die Vereinigten Staaten geschmuggelten Kokains hier die Grenze. Auch große Mengen Heroin, Marihuana und Methamphetamin erreichen die US-amerikanischen Konsumenten via El Paso. Zugleich importieren die Kartelle auf diesem Weg unzählige Schusswaffen, die sie in den USA erwerben und mit denen sie Krieg gegen ihre Konkurrenten, die Armee und die Zivilbevölkerung führen. Mindestens 68 Prozent der 100.000 Kleinwaffen, die Mexikos Sicherheitskräfte seit 2007 beschlagnahmt haben, stammen nach Recherchen der US-Behörde für Alkohol, Tabak, Feuerwaffen und Sprengstoff (ATF) aus den Vereinigten Staaten. Aber

auch Gewehre des deutschen Rüstungsproduzenten Heckler & Koch gerieten in die Hände von Kriminellen – im Mai vergangenen Jahres stellten mexikanische Polizisten in Ciudad Juárez nach einer Festnahme ein G36-Sturmgewehr sicher. Für mehr Aufmerksamkeit sorgten US-Waffen, die 2011 in einer Lagerhalle des Sinaloa-Kartells in El Paso gefunden wurden. Sie sollten im Rahmen einer verdeckten Operation der ATF illegal verkauft werden, um so die Köpfe der Mafia zu fassen. Doch kaum waren sie veräußert, verlor sich ihre Spur. Viele der etwa 2.000 Gewehre landeten direkt bei der Mafia. »Hinter unseren Toten stecken ihre Waffen«, kritisiert der mexikanische Aktivist und Dichter Javier Sicilia, der im Herbst 2012 mit Gleichgesinnten in einer Karawane durch die USA zog, um auf die Mitverantwortung des Nachbarlandes für den Krieg in seiner Heimat aufmerksam zu machen. Selbst der konservative Politiker Calderón setzte sich für restriktivere US-Gesetze ein. »Einer der Hauptfaktoren für die Stärke der Kriminellen ist der unbegrenzte Zugang zu Hochleistungswaffen, die frei und uneingeschränkt in den USA verkauft werden«, kritisierte er. Der beste Weg, um die Gewalt in Mexiko zu reduzieren, sei, »den unmenschlichen Verkauf von Waffen in unser Land zu beenden«. Für Enriqueta Enríquez und die anderen Frauen auf dem Platz vor der Staatsanwaltschaft in Ciudad Juárez kommt diese Erkenntnis zu spät. Und sie lenkt von Calderóns eigener Verantwortung während seiner Amtszeit von 2006 bis 2012 ab. Schließlich hatte er mit seiner militärischen Mobilmachung 2008 den Krieg angeheizt. Seit er im Sommer 2012 die Soldaten von den Straßen abziehen ließ, ist die Gesamtzahl der Morde zwar zurückgegangen. Geblieben jedoch ist der Terror gegen die weibliche Bevölkerung. Fast täglich wurde 2011 eine Frau oder ein Mädchen in der Stadt ums Leben gebracht – erdrosselt, erstochen oder erschossen. Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

Susana Sanchez, 36, Mexiko. Sie kämpfte gegen Gewalt an Frauen – und wurde selbst zum Opfer. Die feministische Schriftstellerin Susana Sanchez wurde mit 36 Jahren von drei Jugendlichen in ihrer Heimatstadt Ciudad Juárez erdrosselt. Die Mexikanerin prägte die Formel »Nicht eine Tote mehr!«, mit der Aktivisten gegen die Mordserie an Frauen in Ciudad Juárez protestieren. Seit den neunziger Jahren wurden in der mexikanischen Stadt an der Grenze zum USBundesstaat Texas, Hunderte Frauen vergewaltigt, gefoltert und ermordet.

thema

|

geWalt gegen fRauen

27


36

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Berichte

38 Arms Trade Treaty: Zweiter Anlauf 40 Deutschland: Steigende Rßstungsexporte 44 Syrien: Verratene Revolution 46 Porträt: Abubaker Ali Osman 48 Mosambik: Willkßrliche Justiz 49 Oury Jalloh: Urteil ohne Aufklärung

Historische Chance auf ein Abkommen zur Kontrolle des Waffenhandels. Skulptur vor dem UNO-Gebäude in New York. Foto: Ulrich Baumgarten / Getty Images

37


Die verratene Revolution In Homs, Aleppo und Damaskus gab es im Frühjahr 2011 kreative und gewaltfreie Demonstrationen. Die Aktivisten an der Spitze dieser pazifistischen Bewegung sind seither geflohen – zumindest jene, die Bashar al-Assads Repression überlebt haben. Im Exil füttern sie die sozialen Medien, komponieren Protestlieder und zeichnen Karikaturen. Ihre Ideen eines neuen Syriens aber gehen in einem blutigen Krieg unter, während islamistische Gruppierungen stärker zu werden drohen. Von Gabriele Del Grande

Foto: Max Becherer / The New York Times / Redux / laif

Es ist tiefe Nacht. Von der Terrasse eines alten Kairoer Hotels steigt der Apfelduft aus den Wasserpfeifen auf. Die Biergläser sind voll. An den Tischchen versuchen etwa zehn syrische Oppositionelle, die Leiden des Exils zu vergessen. Von Beruf sind sie Dichter, Webdesigner, Regisseur, Kaufmann, Arzt oder Musiker. Vor gut anderthalb Jahren gehörten sie in Homs, Aleppo und

Damaskus zur Spitze einer kreativen, gewaltlosen, säkularen Protestbewegung des Arabischen Frühlings. Ja, säkular, denn Khater und Khalaf sind Sunniten, Rita ist Alawitin, Maan Druse, Fadi Christ, Farzand ist Kurde und Wassim Atheist. Die wahnwitzige Repression durch das Regime hat ihr Schicksal verändert. Viele Gefährten der ersten Demonstrationen wurden im Gefängnis oder durch Bomben getötet. Die übrigen sind geflohen. Aus dem Exil versuchen sie nun, die Revolution wenigstens im Internet zu unterstützen, um Nachrichten und Ideen in Umlauf zu bringen. Dieselben Ideen, die ein Jahr lang die syrische Revolution nährten und heute zu sterben drohen, zusammen mit den Tausenden von Opfern eines grausamen Krieges. Vor mehr als achtzehn Monaten hätte keiner von ihnen geglaubt, dass die Revolution mit Waffen ausgetragen würde. Wassim war zu Beginn überzeugt, der Sturz des Regimes sei eine

»Die Explosionen übertönen unsere Stimmen.« In einem provisorischen Medienzentrum in Kairo sammeln Aktivisten Nachrichten aus Syrien.

44

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Frage von Wochen, wie zuvor in Tunesien und Ägypten. Als er im April 2011 verhaftet wurde, war seine einzige Sorge, dass er jenen historischen Augenblick nicht zusammen mit seinen Gefährten erleben würde. Sträflicher Optimismus, wie er rückblickend einräumt. Vor der Revolution besaß Wassim eine florierende Informatikfirma. Auf der Flucht hat er in Beirut und Istanbul seine ganzen Ersparnisse zur Unterstützung der gewaltlosen Bewegung eingesetzt. Heute ist er mittellos, in Kairo gestrandet. Zusammen mit einem ebenfalls geflohenen Mitglied der Studentenbewegung von Aleppo lebt er in einer kleinen Wohnung in Saad Zaghloul. Er schenkt sich ein Glas Raki ein, mit Wasser und ein paar Eiswürfeln verdünnt. Wassim will nichts davon hören, mit der Freien Syrischen Armee zu kämpfen. Er ist überzeugt, dass der Krieg ein Fehler war: »Der Krieg wird diktiert von den Golfstaaten und den Amerikanern, um Assad durch eine befreundete islamistische Regierung zu ersetzen und dadurch die Hisbollah und den Iran zu schwächen.« Dank Leuten wie den Oppositionellen auf der Terrasse des Kairoer Hotels erfährt die Außenwelt überhaupt etwas über die Geschehnisse in Syrien. Die ausländischen Medienschaffenden berichten nur über Aleppo. Es ist zu gefährlich, sich weiter ins Land hineinzuwagen. Dennoch gelangen täglich Tausende von Videos aus allen syrischen Kleinstädten und aus Damaskus und Aleppo ins Netz. Aufgenommen und auf Facebook geteilt von freiwilligen syrischen Reportern. Auch Wassim war ein paar Monate an der Informationsfront tätig. Doch das scheint ewig her. »Heute kann die Bürgerbewegung nicht mehr arbeiten. Wenn die Armee in einer Stadt ist, übertönen die Explosionen unsere Stimme. Es bleibt nur Facebook. Wir wollen dem Ausland zeigen, dass die syrische Revolution nicht nur Krieg ist. Dass dahinter ein Gedanke und Träume stecken.« Manche Ägypter fragen Wassim, wie sie nach Syrien kommen, um im Jihad zu kämpfen und die Sunniten zu verteidigen. »Sie meinen, dies sei ein Krieg zwischen Sunniten und Schiiten, sie verstehen nicht, dass dies eine Revolution ist. Weil die Betreiber von ›Al Jazeera‹ und ›Al Arabiya‹, Saudi-Arabien und Katar, einer klaren politischen Agenda folgen und die Nachrichten verzerrt wiedergeben«, beklagt er. Diese Agenda erschreckt ihn und die übrigen Aktivisten. Denn die Freie Syrische Armee wird nur von islamistischen Regierungen finanziert: Saudi-Arabien, Katar, Türkei. Und die USA unterstützen, wie schon in Ägypten, die Muslimbrüder. Die Freie Syrische Armee hat keine islamistische Ideologie, doch sie braucht dringend Geld und Waffen. »Sie haben libysche und tschetschenische Kämpfer nach Syrien geholt. Ihre radikalen Ideen machen uns Angst. Wir wollen keinen islamischen Staat. Noch sind sie eine Minderheit, doch sie sind eine Gefahr. Auch weil die internationale Presse nur von ihnen spricht und so die Revolution diskreditiert.«

beRichte

|

sYRien

Dasselbe tut das Regime mit seiner Propaganda. Geschickt schürt es die Angst. »Als das Video erschien, in dem Kämpfer der Freien Syrischen Armee von Feriana einigen Alawiten die Kehle durchschnitten, weil sie sie verdächtigten, den ShabbihaMilizen anzugehören, zeigte das Regime die Bilder im Fernsehen und sagte dazu: So werden die Terroristen die Alawiten und Christen abschlachten, wenn sie den Krieg gewinnen«, sagt Wassim. Aus Angst würden noch immer 25 Prozent der Syrer das Regime unterstützen. Weitere 50 Prozent stellen sich weder auf die eine noch auf die andere Seite. Sie hassen das Regime, doch haben sie Angst, es laut zu sagen. Oder sie sind entsetzt darüber, welchen Verlauf die Revolution genommen hat. Zu ihnen gehört Dr. Farzand. Er ist ein Arzt aus Aleppo, Kurde, um die 40, Vater von zwei Kindern. Vor einem Jahr demonstrierte er gegen das Regime. Nun hat er Syrien verlassen, um seine Familie in Sicherheit zu bringen. Er spricht mit Tränen in den Augen, wägt jedes Wort ab: »Vor einem Jahr hatten wir einen Traum: den Aufbau des Syriens der Zukunft. Wir sahen das Ende des Regimes nicht als Ziel, sondern als nötigen Schritt auf dem Weg zu Freiheit, Recht und Gerechtigkeit. Der Krieg hat all das zerstört. Ich will nicht, dass das Regime stürzt und dann ein anderes kommt. Ich will nicht, dass für den Sturz des Regimes das Blut Zehntausender Unschuldiger vergossen werden muss.« Die Absage der syrischen Pazifisten und Pazifistinnen an den Krieg ist keine Anklage gegen die Freie Syrische Armee, sondern entspringt der bitteren Erkenntnis, dass die beispiellose Brutalität des Regimes das Land in eine Gewaltspirale getrieben hat, von der niemand weiß, wo sie enden wird. Dem syrischen Volk ist nichts geblieben, als sich an die Waffen und an die Religion zu klammern. Nicht mehr für die Revolution. Nur noch, um das eigene Leben zu retten. Der Autor ist Journalist und Menschenrechtsaktivist und lebt in Italien.

»Vor einem Jahr hatten wir einen Traum: den Aufbau des Syriens der Zukunft. Der Krieg hat all das zerstört.« 45


Foto: Amnesty

Gefangene, die einfach »verloren« gehen. Polizeirevier in Maputo.

Willkürjustiz in Mosambik In Mosambiks Gefängnissen sind Tausende Menschen inhaftiert, ohne für ein Verbrechen verurteilt worden zu sein. Ein neuer Bericht von Amnesty International belegt, dass viele willkürlich verhaftet und manchmal über Jahre ohne Zugang zu einem Rechtsanwalt festgehalten werden. Von Ulrich Fehling Er wurde nie für ein Verbrechen verurteilt, stand nie vor Gericht. Offenbar wurde nicht einmal Anklage gegen ihn erhoben. Und doch saß Jose Capitine Cossa zwölf Jahre lang im Hochsicherheitsgefängnis von Machava in der mosambikanischen Provinz Maputo. Im September 2012 wurde er nach einem gemeinsamen Appell von Amnesty International und der Mosambikanischen Menschenrechtsliga freigelassen. Der Generalstaatsanwalt von Mosambik musste zugegeben, dass die Inhaftierung unrechtmäßig war. Besonders häufig werden ärmere Menschen in Mosambik willkürlich verhaftet. Die meisten von ihnen werden nicht darüber informiert, warum sie eingesperrt wurden. Auch werden sie oftmals nicht über ihre Rechte aufgeklärt. Da sich viele Inhaftierte keinen Anwalt leisten können, werden sie, wenn überhaupt, meist von unqualifizierten Rechtsbeiständen vertreten. Einige Häftlinge beklagen, dass die Polizei sie nach der Verhaftung misshandelt habe, um Geständnisse zu erzwingen. Mosambiks Willkürjustiz hat dazu geführt, dass Hunderte Gefangene im System einfach »verloren gegangen sind« und ohne Rechte im Gefängnis vegetieren müssen. In einigen Fällen sind die Akten der Gefangenen verloren gegangen oder enthalten gravierende Unstimmigkeiten. Nach mosambikanischem Recht sollen alle Festgenomme-

48

nen innerhalb von 48 Stunden einem Richter vorgeführt werden. Dieser muss darüber entscheiden, ob die Verhaftung rechtmäßig ist oder nicht. In sehr vielen Fällen geschieht das jedoch nicht innerhalb dieser Frist. Amnesty International fand in den Gefängnissen Häftlinge, die festgenommen worden waren, obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gab, dass sie ein Verbrechen begangen hatten. Einige dieser Häftlinge waren sogar Kinder, obwohl Minderjährige unter 16 Jahren nach mosambikanischem Recht nicht inhaftiert werden dürfen. Auch um die Haftbedingungen ist es schlecht bestellt. Die sanitären Einrichtungen und die medizinische Versorgung sind häufig mangelhaft. Zudem sind die Gefängnisse chronisch überbelegt. Im Provinzgefängnis von Nampula fand Amnesty 196 Gefangene, die in eine Zelle von vierzehn mal sechs Metern eingepfercht waren. Sie saßen mit den Schultern aneinandergelehnt und mit hochgezogenen Beinen, weil das die einzige Möglichkeit war, dass alle in den Raum hineinpassten. Im Juli 2012 schickte Amnesty International ein Memorandum an den Generalstaatsanwalt und forderte ihn auf, einen Blick auf einige besonders eklatante Fälle von Willkürjustiz zu werfen. Als Reaktion auf das Memorandum wurden vier Personen wegen unrechtmäßiger Verhaftung freigelassen – unter ihnen auch Jose Capitine Cossa. Ein Fall wurde vor Gericht gebracht, er endete mit Freispruch. Der Generalstaatsanwalt erklärte, dass er in neun Fällen keine Akten habe und dreizehn Häftlinge bis zu ihrem Prozess in verlängerter Untersuchungshaft bleiben müssten. Der Autor ist Sprecher der Mosambik-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International.

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Aufklärung ausgeschlossen Vor acht Jahren verbrannte Oury Jalloh in einer Zelle im Dessauer Polizeirevier. Das Landgericht Magdeburg hat den damals diensthabenden Polizisten nun zu einer Geldstrafe verurteilt. Wie das Feuer entstanden ist, bleibt weiterhin unklar. Von Ralf Rebmann

selbst angezündet hat«, sagte die Rechtsanwältin. Sie verwies auf die schwierige Beweislage: Unvollständige Videoaufnahmen, fehlende Einträge im elektronischen Journal des Reviers und widersprüchliche Zeugenaussagen würden die Aufklärung des Falles erschweren. So seien im Januar 2005 bereits »die Weichen dafür gelegt worden«, eine Aufklärung des Todesfalls von Oury Jalloh zu verhindern, so Heinecke. Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh bewertete das Urteil als »Farce«. Sie geht davon aus, dass Oury Jalloh ermordet wurde. Um dies beweisen zu können, sammelt die Initiative Spenden für ein unabhängiges Brandgutachten. »Von Anfang an hat sich das Gericht nur auf eine bestimmte Anklage bezogen«, sagte Eddie Bruce-Jones, Mitglied der Internationalen Unabhängigen Kommission Oury Jalloh aus London. »Wichtig ist die Frage, wie Oury Jalloh überhaupt zu Tode gekommen ist. Diese Frage wollte das Gericht aber nicht stellen.« Die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl sprach nach dem Urteil von einem »rechtsstaatlichen Desaster«. Amnesty International forderte unabhängige Untersuchungskommissionen, um rechtswidrige Polizeigewalt aufklären zu können. Die Magdeburger Richter haben nun einige Monate Zeit, um das schriftliche Urteil vorzulegen. Sowohl Vertreter der Nebenklage und der Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft haben Revision eingelegt. Wenn das schriftliche Urteil vorliegt, können die Prozessbeteiligten innerhalb eines Monats ihre Revision begründen. Danach wird sich der Bundesgerichtshof in Karlsruhe mit dem Urteil beschäftigen und entscheiden, ob erneut verhandelt werden muss oder nicht.

Foto: Ralf Rebmann

Der 7. Januar dürfte im Kalender der Dessauer Polizei rot markiert sein. Es ist der Todestag von Oury Jalloh. Und wie jedes Jahr demonstrierten auch am 7. Januar 2013 zahlreiche Unterstützer der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh vor dem Dessauer Polizeirevier. Unter dem Motto »Brecht das Schweigen« forderte die Initiative Aufklärung über die Ursachen seines Todes. Der Asylsuchende aus Sierra Leone verbrannte vor acht Jahren in der Ausnüchterungszelle des Reviers bei lebendigem Leib. Bis heute ist nicht geklärt, wie das Feuer entstehen konnte. Daran haben auch zwei Gerichtsprozesse vor den Landgerichten in Dessau und Magdeburg, zahlreiche Gutachten und die Anhörung Dutzender Zeugen nichts geändert. Im Dezember 2012 erging vor dem Landgericht Magdeburg das Urteil gegen den damaligen Dienstgruppenleiter. Wegen fahrlässiger Tötung wurde er zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro verurteilt. Er habe Oury Jalloh nur ungenügend überwachen lassen, obwohl er über dessen Zustand informiert gewesen sei, begründete die Vorsitzende Richterin Claudia Methling das Urteil. Oury Jalloh lag stark alkoholisiert und an Händen und Füßen angekettet auf einer feuerfesten Matratze in der Ausnüchterungszelle des Reviers. Der Angeklagte habe die Pflicht gehabt, »in Kenntnis dieser Zustände den Revierleiter zu informieren«, zumal an jenem Tag »Personalmangel« bestanden habe. Die Richterin bestätigte schließlich, was Vertreter der Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin. Nebenklage bereits seit Beginn des Verfahrens kritisierten: Es bestand keine gesetzliche Grundlage, um Oury Jalloh überhaupt auf das Revier mitzunehmen. Weiterhin ungeklärt bleibt außerdem die Ursache des Brandes. »Eine Entzündung durch einen technischen Defekt oder andere Personen ist ausgeschlossen«, sagte Methling in ihrem mündlichen Urteil. Das Gericht und die Staatsanwaltschaft vertreten die These, dass Oury Jalloh die Matratze selbst mit einem Feuerzeug angezündet hat. Methling räumte ein, dass es in der Vergangenheit Ermittlungsfehler gegeben habe, doch lägen keine Hinweise vor, dass »Beweismittel bewusst vernichtet wurden«. Die Vertreterin der Nebenklage, Gabriele Heinecke, kritisierte die Beweisführung des Gerichts. Einzelne Indizien wie Textilfasern am Feuerzeug, eine Pfütze auf dem Zellenboden sowie das Fehlen des Stresshormons Noradrenalin bei Oury Jalloh hätten erneut überprüft werden müssen. »Das Gericht hat mich nicht überzeugt, dass Oury Jalloh sich »Rechtsstaatliches Desaster.« Demonstration zum Todestag von Oury Jalloh. Dessau, 7. Januar 2013.

beRichte

|

mosambik

|

DeutschlanD

49


50

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Kultur

52 Interview: Patti Smith 56 Porträt: Bolat Atabajew 58 Rezension: ÂťDiktatur 2.0ÂŤ 60 BĂźcher: Von ÂťMythos ĂœberfremdungÂŤ bis ÂťKinshasa DreamsÂŤ 62 Film & Musik: Von ÂťNo!ÂŤ bis ÂťRupa and the April FishesÂŤ

Solidarität fĂźr Pussy Riot. Patti Smith, FĂŞte de L’HumanitĂŠ, La Courneuve, Frankreich 2012. Foto: Kristy Sparow / Getty Images

51


Der Grenzverletzer Der kasachische Theaterregisseur und Träger der Goethe-Medaille Bolat Atabajew probt derzeit an der Kölner Theaterakademie. In seinem Heimatland droht ihm Haft wegen »Anstiftung zur sozialen Unruhe«. Von Marcus Bensmann

B

olat Atabajew sieht sich nicht als Exilant. Doch musste der kasachische Theaterregisseur einen Aufenthalt im Westen verlängern, denn in seiner Heimat droht ihm eine erneute Verhaftung. Derzeit probt Atabajew mit Schülern der Theaterakademie in Köln das von ihm verfasste Stück »Schanaosen«. Es erzählt vom Streik der Erdölarbeiter in der westkasachischen Stadt Schanaosen im Jahr 2011, den die Mächtigen mehr als neun Monate lang ignorierten, bis es am 16. Dezember zur Eskalation kam – genau an dem Tag, an dem die ehemalige kasachische Sowjetrepublik den 20. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit feierte. Die Polizei schoss in die Menge, tötete mehr als ein Dutzend Personen und verletzte an die hundert Menschen. Nach diesem blutigen Freitag trat die kasachische Regierung unter dem autokratischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew eine noch nie da gewesene Repressionswelle los: Aktivisten, Gewerkschafter, Erdölarbeiter und Oppositionsführer, die sich für das Anliegen der Arbeiter engagiert hatten, wurden verhaftet. Medien, die über den Streik und die Niederschlagung berichtet hatten, wurden im Dezember per Gerichtsbescheid verboten. Die Wut der Machthaber richtete sich auch gegen den Theatermann aus Almaty, der im Sommer 2011 seine Bühne verlassen hatte und zu den Ölarbeitern in die Steppe gereist war. »Ich wollte wissen, was die Menschen bewegt«, sagt Atabajew. Damit

»Ich bin Regisseur, aber die Wirklichkeit macht mich zu einem Dissidenten.« 56

machte sich der Regisseur, der bereits mit regierungskritischen Stücken aufgefallen war, zum Staatsfeind. Bolat Atabajew spricht fließend Deutsch. 1952 geboren, wuchs er in der kasachischen Steppe in einer deutschen Nachbarschaft auf – Stalin hatte nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion Millionen Wolgadeutsche in die Einöde deportieren lassen. Nach dem Sprachstudium studierte er Theaterwissenschaften und gehörte zu den Mitbegründern des Deutschen Theaters in der kasachischen Sowjetrepublik. Schon als Kind bemerkte er die Ausgrenzung der Deutschen in der Sowjetunion. »Die Selbstbehauptung der deutschen Kultur lehrte mich Widerstandsgeist«, sagt der Kasache. Nach dem Zerfall der Sowjetunion knüpfte Atabajew enge Verbindungen zur deutschen Theaterszene. Er unterstützte Volker Schlöndorff bei dessen Film »Ulzhan« und arbeitete mit Roberto Ciulli ein Jahr lang am Theater an der Ruhr in Mülheim. »Von Ciulli habe ich gelernt, dass das Theater nicht die Wirklichkeit abbilden muss, sondern mit dieser spielt«, erklärt Atabajew, der für seine Arbeit sogar den kasachischen Staatspreis erhielt. Der Regisseur leitete in dem zentralasiatischen Staat verschiedene Theater und gründete die freie Schauspielgruppe »Aksarai«, die mit zeitkritischen Musicals internationale Beachtung fand. In einer Inszenierung von Schillers »Kabale und Liebe« zog er Verbindungen zu den Machtintrigen in Kasachstan. Staatliche Unterstützung für seine künstlerische Arbeit hat Atabajew nie erhalten. »Wir bekommen keine staatlichen Gelder, sondern leben von anonymen Spendern«, erklärt er. Als die Ölarbeiter 2011 in Westkasachstan streikten, zeigte Atabajews Schauspielgruppe in Almaty das Stück »Lawine«. Es handelt von einer Dorfgemeinschaft, die wegen Lawinengefahr neun Monate lang schweigen muss. Die Dorfpolizei wacht über das Verbot. Als in der Schweigezeit lautstark ein Kind auf die Welt kommt, wird offenbar, dass es keine Lawine gibt und die Angst davor eine Projektion der Macht ist. »›Lawine‹ ist die perfekte Parabel auf unsere Wirklichkeit«, sagt der Theatermann. Die kasachische Bevölkerung werde mit der Angst vor Terrorismus, sozialer Armut und möglichen Unruhen in Zaum gehalten. Es war jedoch nicht dieses Theaterstück, mit dem er den staatlichen Zorn auf sich zog. Präsident Nasarbajew regiert das Land seit 1989 zwar autoritär, lässt aber im Gegensatz zu den zentralasiatischen Nachbarstaaten Usbekistan und Turkmenistan gewisse Freiräume zu. Es gibt eine – wenn auch kleine – Opposition und auch kritische Medien. Diese Nachsicht hört jedoch auf, sobald eine rote Linie überschritten wird – und die war nach Ansicht der Behörden überschritten, als der Regisseur zu den Ölarbeitern reiste.

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Foto: Piero Chiussi

Der Künstler als Staatsfeind. Bolat Atabajew.

»Ich bin Regisseur, aber die Wirklichkeit macht mich zu einem Dissidenten«, sagt der Theatermann. Im Januar 2012 wurde er wegen »Anstiftung zur sozialen Unruhe« angeklagt – ausgerechnet an dem Tag, an dem das Goethe-Institut seine Auszeichnung mit der Goethe-Medaille verkündete. »Die haben Sinn für Humor«, gibt sich Atabajew sarkastisch. Der Theatermacher wurde nicht – wie andere Angeklagte – inhaftiert. Er durfte lediglich Almaty nicht verlassen und musste den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stehen. Die internationale Empörung sollte so wohl in Grenzen gehalten werden. Doch der Regisseur weigerte sich, zu kooperieren. »Ich wollte meine Verhaftung provozieren«, sagt Atabajew. Der Plan ging auf: Im Juni 2012 wurde der zuckerkranke Mann bei glühender Hitze in einem Gefängniswaggon Tausende Kilometer von Almaty unweit der chinesischen Grenze bis zur Westküste des Kaspischen Meeres in das Gefängnis nach Aktau verfrachtet. Als Reaktion auf die Verhaftung formierte sich eine breite Kampagne: Die Regisseure Schlöndorff, Ciulli und andere Künstler, das Goethe-Institut sowie Politiker aller Parteien forderten seine Freilassung. Die in den westlichen Medien längst vergessene Niederschlagung des Ölstreiks wurde erneut zum Thema. Die kasachische Regierung, die in Deutschland und anderen euro-

kultuR

|

bolat atabaJeW

päischen Ländern viel Geld für Imagekampagnen ausgibt, erlebte ein PR-Desaster. Zwei Wochen später ließ man den Regisseur wieder frei und er konnte zur Verleihung der Goethe-Medaille nach Weimar reisen. Die Anklage gegen den Künstler wurde wegen »tätiger Reue« aufgehoben. »Dabei habe ich nichts bereut«, versichert Atabajew. Die Freilassung überraschte den Theatermann. »Eigentlich wollte ich bis zum Prozess sitzen und diesen dann in eine Farce verwandeln«, erzählt er. Das Pardon währte jedoch nicht lange. Als Bolat Atabajew im Oktober erneut in Westeuropa unterwegs war, verkündete die kasachische Regierung eine Neueröffnung seines Verfahrens. Nur der Rat eines ehemaligen Mitgefangenen hielt Atabajew von einer Rückkehr nach Kasachstan ab. »Du musst nach Europa, wo die Kinder der Mächtigen den Reichtum verprassen. Dort musst du die Wahrheit über das Regime erzählen, im Gefängnis nützt du keinem«, habe dieser zu ihm gesagt. Seinen Auslandsaufenthalt will Bolat Atabajew nun nutzen. »Ich will Nasarbajews Image als Reformer in Europa zerstören«, sagt er. Danach kehre er zurück – notfalls auch ins Gefängnis. Der Autor berichtet als freier Korrespondent aus Zentralasien.

57


Tag fĂźr Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie ÂťverschwindenÂŤ. amnestY inteRnational verĂśffentlicht regelmäĂ&#x;ig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzu pran gern und zu beenden. Sie kĂśnnen mit Ihrem persĂśnlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, hĂśflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen BehĂśrden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an amnestY inteRnational.

amnestY inteRnational Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank fĂźr Sozialwirtschaft (BfS), KĂśln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank KĂśln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50 BIC: BFSWDE33XXX IBAN: DE23370205000008090100

64

Fotos: privat

bRiefe gegen Das veRgessen

äthioPien eskinDeR nega Am 13. Juli 2012 wurde der Journalist Eskinder Nega wegen Hochverrats und terroristischer Vergehen zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Er war im September 2011 festgenommen worden, nachdem er regierungskritische Artikel geschrieben und Reden gehalten hatte, in denen er das Recht auf freie MeinungsäuĂ&#x;erung in Ă„thiopien forderte. Dies ist bereits das achte Mal, dass Eskinder Nega aufgrund seiner Arbeit als Journalist festgenommen und strafrechtlich verfolgt wird. 2005 verhaftete man ihn zusammen mit seiner Frau Serkalem Fasil. Das Paar gehĂśrte zu 131 Journalisten, Aktivisten und Oppositionspolitikern, denen Landesverrat und andere Straftaten zur Last gelegt wurden. 2006 brachte Serkalem Fasil im Gefängnis ihren Sohn Nafkot zur Welt. Kurz vor seiner jĂźngsten Festnahme im September 2011 sprach Nega auf einer Veranstaltung einer Oppositionspartei Ăźber die Pressefreiheit und darĂźber, ob die Unruhen im Nahen Osten und Nordafrika auf Ă„thiopien Ăźbergreifen kĂśnnten. Einige Tage zuvor hatte er den Einsatz von Antiterrorgesetzen zur UnterdrĂźckung von Regierungskritikern moniert, die dann gegen ihn selbst eingesetzt wurden. 23 weitere Menschen wurden unter derselben und ähnlichen Anklagen zusammen mit Eskinder Nega vor Gericht gestellt. Bis auf zwei sprach man alle schuldig. Das Gerichtsverfahren wies schwerwiegende UnregelmäĂ&#x;igkeiten auf. Es gab FoltervorwĂźrfe von mindestens einem Angeklagten, die nicht untersucht wurden. Schon zu Beginn des Verfahrens erklärte der Ministerpräsident Ă„thiopiens die Angeklagten im Staatsfernsehen fĂźr schuldig und setzte damit das Gericht unter Druck, zu einem Schuldspruch zu kommen. Schreiben Sie bitte hĂśflich formulierte Briefe an den äthiopischen Ministerpräsidenten und weisen Sie darauf hin, dass Amnesty International Eskinder Nega als gewaltlosen politischen Gefangenen betrachtet. Fordern Sie seine umgehende und bedingungslose Freilassung. Dringen Sie darauf, dass die Regierung nicht länger Strafverfahren einsetzt, um Kritik zu unterbinden, und andere Formen der Schikane gegen Journalisten, AngehĂśrige der Opposition und Aktivisten der Zivilgesellschaft ebenfalls unterlässt. Gesetze, die die freie MeinungsäuĂ&#x;erung einschränken, mĂźssen reformiert werden. Schreiben Sie in gutem Amharisch, Englisch oder auf Deutsch an: Hailemariam Desalegn, Prime Minister P.O. Box 1031 Addis Ababa, Ă„THIOPIEN (Anrede: Dear Prime Minister / Sehr geehrter Herr Minister präsident; Standardbrief Luftpost: 0,75 Euro) Fax: 002 51 - 11 - 155 20 20 Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Demokratischen Bundesrepublik Ă„thiopien S. E. Herrn Fesseha Asghedom Tessema BoothstraĂ&#x;e 20 a, 12207 Berlin Fax: 030 - 772 06 24 E-Mail: Emb.ethiopia@t-online.de

amnestY JouRnal | 02-03/2013


tĂœRkei ahmet YilDiz Am 15. Juli 2008 verlieĂ&#x; Ahmet YÄąldÄąz seine Wohnung, um ein Eis zu kaufen. Kurz darauf hĂśrte sein Lebenspartner Ibrahim Can SchĂźsse. Als er hinunterlief, sah er, dass auf Ahmet YÄąldÄąz geschossen worden war. Die ErschieĂ&#x;ung von YÄąldÄąz wird weithin als TĂśtung aus GrĂźnden der ÂťFamilienehreÂŤ betrachtet. Bei vielen mutmaĂ&#x;lichen ÂťEhrenmordenÂŤ holt die Familie den Leichnam nicht zur Bestattung ab – so auch im Fall von Ahmet YÄąldÄąz. Nach drei Monaten wurde schlieĂ&#x;lich ein Haftbefehl gegen den einzigen Verdächtigen, den Vater von Ahmet YÄąldÄąz, ausgestellt. Er wurde jedoch bislang nicht festgenommen. Der Fall zeigt, dass die tĂźrkischen BehĂśrden nicht ausreichend gegen Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTI) vorgehen. Ibrahim Can teilte Amnesty International mit, dass YÄąldÄąz in den Monaten vor seiner Ermordung von seiner Familie und insbesondere von seinem Vater bedroht worden war. Im Oktober 2007 erstattete YÄąldÄąz Anzeige gegen seine Familie und bat die Staatsanwaltschaft im Istanbuler Stadtteil ĂœskĂźdar um Schutz. Statt etwas zu unternehmen, gab die Staatsanwaltschaft die Anzeige an einen benachbarten Bezirk weiter. Nach der Ermordung YÄąldÄąz’ stellte sich heraus, dass seine Anzeige nicht bearbeitet worden war. Zu Verbrechen gegen sexuelle Minderheiten werden in der TĂźrkei keine Daten erhoben. Doch Gruppen, die sich fĂźr deren Rechte einsetzen, verzeichneten allein zwischen Januar und Juli 2012 mindestens vier getĂśtete Transgender-Frauen und einen getĂśteten schwulen Mann. Im tĂźrkischen Recht gibt es noch immer kein explizites Verbot von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität. Schreiben Sie bitte hĂśflich formulierte Briefe an den tĂźrkischen Justizminister und legen sie Ahmet YÄąldÄąz’ Fall dar. Fordern Sie ihn auf, den einzigen Verdächtigen in einem fairen Verfahren vor Gericht zu stellen. Verlangen Sie eine Untersuchung bezĂźglich der unterlassenen SchutzmaĂ&#x;nahmen fĂźr Ahmet YÄąldÄąz. Dringen Sie darauf, endlich die Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle zu bekämpfen. Schreiben Sie in gutem TĂźrkisch oder auf Deutsch an: Justizminister Mr Sadullah Ergin Ministry of Justice Adalet BakanlÄąÄ&#x;Äą 06659 Ankara, TĂœRKEI (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Justizminister; Standardbrief Luftpost: 0,75 Euro) Fax: 0090 - 312 - 417 71 13 E-Mail: sadullahergin@adalet.gov.tr Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik TĂźrkei S. E. Herrn HĂźseyin Avni KarslioÄ&#x;lu TiergartenstraĂ&#x;e 19–21, 10785 Berlin Fax: 030 - 27 59 09 15 E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr oder turk.em.berlin@t-online.de

bRiefe gegen Das veRgessen

PhiliPPinen DaRius evangelista Margie Evangelista sah ihren Ehemann Darius Evangelista am 5. März 2010 zum letzten Mal. Er wurde am selben Tag wegen Diebstahls festgenommen. Sie hĂśrte nichts von ihm, bis ihr jemand am 17. August 2010 erzählte, ihn in den Nachrichten gesehen zu haben. Das Video zeigte einen nackten Mann, der sich vor Schmerzen wand, während ein Polizeibeamter auf ihn einschlug und immer wieder an einer Schnur zog, die an seinen Genitalien befestigt war, während weitere uniformierte Polizeibeamte zusahen. Als Margie Evangelista das Video sah, erkannte sie sofort ihren Mann und Vater ihrer drei Kinder. Einige Tage später erfuhr sie, dass MĂźllsucher einen Kopf gefunden hatten, der dem ihres Mannes ähnelte. Im Zuge der Untersuchungen der Menschenrechtskommission sagten drei Mitgefangene von Darius Evangelista aus, er sei nach seiner Festnahme in das BĂźro des Polizeichefs und anschlieĂ&#x;end schwer verletzt in die Zelle zurĂźckgebracht worden. Danach habe man ihn aus der Polizeiwache weggebracht. Ein Häftling hĂśrte einen Polizisten dabei sagen: ÂťSeht zu, dass ihr ihn loswerdet!ÂŤ Sie sahen Darius Evangelista nie wieder. Schreiben Sie bitte hĂśflich formulierte Briefe an den philippinischen Polizeipräsidenten, in denen Sie die sofortige und umfassende Untersuchung der Folter, des Verschwindens und der mĂśglichen auĂ&#x;ergerichtlichen Hinrichtung von Darius Evangelista fordern. DrĂźcken Sie Ihre Sorge darĂźber aus, dass einige Personen, deren Festnahme angeordnet wurde, da sie im Verdacht stehen, Darius Evangelista gefoltert zu haben, noch immer auf freiem FuĂ&#x; sind. Obwohl ein Gericht in Manila die Festnahme von sieben Polizisten angeordnet hat, steht sie bei vier Personen noch aus. Bitten Sie um Information, welche Schritte die Polizei einleiten mĂśchte, um sicherzustellen, dass alle Beteiligten an diesem Verbrechen zeitnah festgenommen werden. Schreiben Sie in gutem Filipino, Englisch oder auf Deutsch an: PDG Nicanor Bartolome PNP National Headquarters Camp General Crame Quezon City, 1100, PHILIPPINEN (Anrede: Dear Police Director General / Sehr geehrter Herr Polizeipräsident; Standardbrief Luftpost: 0,75 Euro) E-Mail Ăźber Kontaktformular: http://bit.ly/pnp-supportdesk Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Philippinen I.E. Frau Maria Cleofe Natividad UhlandstraĂ&#x;e 97, 10715 Berlin Fax: 030 - 873 25 51 E-Mail: info@philippine-embassy.de

65


Foto: Amnesty / Ralf Rebmann

aktiv fĂœR amnestY

Mit Kreativität und Engagement fßr die Menschenrechte. Die Gewinner mit Generalsekretär Wolfgang Grenz in Berlin.

aktionsWettbeWeRb ÂťDu kannstÂŤ Die drei Gewinnergruppen beim groĂ&#x;en Amnesty-Aktionswettbewerb ÂťDu kannstÂŤ haben im November ihre Preise entgegengenommen. 20 SchĂźlerinnen und SchĂźler aus Wiesbaden, Warendorf und Hagen trafen sich im Berliner Generalsekretariat von Amnesty International. Wolfgang Grenz, der Generalsekretär von Amnesty, ehrte die Preisträgerinnen und Preisträger persĂśnlich. Neben der Besichtigung der neuen Amnesty-Zentrale standen ein Besuch beim Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung Markus LĂśning und eine FĂźhrung durch die Gedenkstätte OberschĂśnhausen auf dem Programm.

ÂťDu kannst!ÂŤ war das Motto des groĂ&#x;en Aktionswettbewerbs, den Amnesty International Ende 2011 gemeinsam mit der Stiftung Lesen ausgeschrieben hatte. Er sollte Jugendlichen zeigen, dass es ganz einfach ist, sich mit Kreativität und Engagement fĂźr die Menschenrechte einzusetzen. Mit den Wettbewerbskategorien Video, Foto und Unterschriftenaktion hatten die Jugendlichen mehrere MĂśglichkeiten, fĂźr die Menschenrechte aktiv zu werden. Bundesweit beteiligten sich knapp 100 Gruppen. Die Siegerbeiträge sind unter www.amnesty-dukannst.de zu sehen.

Zum Tag der Menschenrechte veranstalteten Amnesty und der Deutsche Anwaltverein am 11. Dezember 2012 bereits zum dritten Mal einen Informationsabend, bei dem es um anwaltschaftliches Engagement fßr die Menschenrechte ging. In diesem Jahr standen die jßngsten Entwicklungen in Ungarn im Mittelpunkt. Nach einem Einfßhrungsvortrag von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger stellte der britische Rechtsanwalt Alex Wilks den im September verÜffentlichten Bericht der internationalen NGO IBAHRI vor, der sich kritisch mit jßngsten Entwicklungen im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz befasst. Rechtsanwalt Balåsz DÊnes, Geschäftsfßhrer der ungarischen Menschenrechtsorganisation HCLU, ging auf die dramatische Lage der Roma in Ungarn ein. Die Veranstaltung fand auch in Ungarn ein breites Echo; fßr Januar sind vertiefende Gespräche in der ungarischen Botschaft geplant.

66

Foto: Amnesty

anWaltschaft fĂœR menschenRechte

Dramatische Lage der Roma. Rechtsanwalt Alex Wilks auf dem Podium.

amnestY JouRnal | 02-03/2013


Zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember startete Amnesty International wie in den Jahren zuvor den weltweiten Briefmarathon: Tausende Menschen auf der ganzen Welt ßberhäufen die zuständigen BehÜrden mit Briefen, E-Mails und Faxen, um beispielsweise die Freilassung eines politischen Gefangenen oder die Begnadigung eines zum Tode Verurteilten zu fordern. Aus Deutschland wurden dieses Mal mehr als 50.000 Appelle verschickt. Amnesty International warb bundesweit mit Infoständen fßr die Aktion. Tolle Ergebnisse kamen zum Beispiel aus Frankfurt: Hier wurden mehr als 1.000 Briefe unterschrieben und verschickt. Auch in der Kleinstadt Weilheim war Amnesty besonders erfolgreich: Es kamen 500 Unterschriften zusammen. In Dresden hat die Hochschulgruppe ebenfalls mehr als 500 Briefunterschriften gesammelt.

aktiv fĂœR amnestY

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darĂźber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

imPRessum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (fßr Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Marcus Bensmann, Sumit Bhattacharyya, Gabriele Del Grande, Ulrich Fehling, Sara Fremberg, Hauke Friederichs, Wolfgang Grenz, Ole Hoff-Lund, Mathias John, Jßrgen Kiontke, Heike Kleffner, Maja Liebing, Gunda Opfer, Vanya Pßschel, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Rebekka Rust, Simone Schlindwein, Uta von Schrenk, Maik SÜhler, Wolf-Dieter Vogel, Sarah Wildeisen Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nßrnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank fßr Sozialwirtschaft (BfS), KÜln, BLZ 370 205 00, BIC: BFSWDE33XXX, IBAN: DE23370205000008090100 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder kÜnnen das Amnesty Journal fßr 30 Euro pro Jahr abonnieren. Fßr unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos ßbernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte fßr Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch fßr die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, fßr die Verbreitung im Internet oder fßr Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356

aktiv fĂœR amnestY

Wolfgang gRenz ĂœbeR

PaPieR

Zeichnung: Oliver Grajewski

bRiefmaRathon: tag DeR menschenRechte 2012

Mit 50 Kilo Papier – verpackt in zwei Kisten – kam ich im vergangenen Juni ins deutsche AuĂ&#x;enministerium. Es waren 38.000 Unterschriften mit der Forderung: Deutschland solle sich bei der UNO-Konferenz im Juli 2012 fĂźr einen starken Vertrag zur Kontrolle von Waffenlieferungen einsetzen. Der Sinn eines solchen Abkommens liegt auf der Hand: Jede Minute stirbt ein Mensch durch Waffengewalt. Mit Waffen werden friedliche Proteste unterdrĂźckt. Ohne den Zustrom von Sturmgewehren, Granaten und Munition wären blutige BĂźrgerkriege wie im Kongo oder in Kolumbien nicht denkbar. Die Konferenz kam weit. Es lag ein Vertragstext vor. Trotz einiger Schwächen wäre die Verabschiedung ein groĂ&#x;er Schritt nach vorn gewesen. Sie scheiterte im letzten Moment. Aber die UNO hat jetzt eine zweite Konferenz fĂźr März angesetzt. Und wir werden uns wieder lautstark fĂźr einen starken Vertrag einsetzen. Aber immer wieder hĂśre ich den Einwand: Papier ist geduldig. Was wird ein Vertrag ausrichten? Wir sind nicht naiv. Nicht Papier stoppt das TĂśten. Es sind die Menschen, die sich auf die Verträge berufen, die etwas ausrichten. Die Aktivisten, die von den Regierungen verlangen, Wort zu halten. Die AngehĂśrigen, die vor internationalen Gerichten gegen die Täter klagen. ÂťPapier ist geduldig.ÂŤ Ich kenne diesen Einwand, seit ich mich fĂźr die Menschenrechte einsetze. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war 1948 nur ein Versprechen. Aber dieses Papier hat vielen Menschen Mut gemacht, sich fĂźr ihre Rechte einzusetzen. Es ist eine internationale Menschenrechtsbewegung entstanden. Sie hat erreicht, dass es nicht bei leeren Versprechen blieb. Sie hat erreicht, dass neue Abkommen geschlossen wurden, die es den Menschen einfacher machen, ihre Rechte einzufordern. Wie die Frauenrechtskonvention von 1979, die Antifolterkonvention 1984 oder die Kinderrechtskonvention von 1989. Solche Verträge brauchen engagierte, beharrliche Menschen, die sie zum Leben erwecken. Nur sie kĂśnnen dafĂźr sorgen, dass Papier ungeduldig wird. Das wird auch fĂźr einen Vertrag zur Waffenhandelskontrolle gelten. Wolfgang Grenz ist Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. Er geht im März in den Ruhestand.

67


MENSCHENRECHTE BRAUCHEN AUSDAUER Sie möchten Ihre sportlichen Aktivitäten mit einem guten Zweck verbinden? Dann bitten Sie doch Verwandte und Bekannte bei Ihrem nächsten Wettkampf um eine Spende zugunsten von Amnesty International. www.amnesty-in-bewegung.de


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.