Ursula Haupt: Behindert und gefördert

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Allitera Verlag


Ursula Haupt, 1939 in Köln geboren, arbeitete von 1960 bis 1962 als Lehrerin und von 1962 bis 1975 als Sonderpädagogin und Psychologin an Schulen für körperbehinderte Kinder. Als Universitätsprofessorin für Körperbehindertenpädagogik war sie ab 1975 zuerst an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz, dann an der Universität Mainz tätig, ab 1993 an der Universität Koblenz-Landau. Im Jahr 2004 wurde sie emeritiert, 2009 beendete sie ihre Lehrtätigkeit. Insgesamt veröffentlichte sie 160 Publikationen, unter anderem: »Körperbehinderte Kinder verstehen lernen – auf dem Weg zu einer anderen Diagnostik und Förderung« (2003), »Leben ist Jetzt – Spiritualität in der Zusammenarbeit mit körperbehinderten Kindern« (2001), »Wie Lernen beginnt. Grundlagen der Entwicklung und Förderung sehr schwer behinderter Kinder« (2006), »Brennpunkte der Körperbehindertenpädagogik« (zusammen mit Marion Wieczorek, 2007).


Ursula Haupt

Behindert und gefรถrdert Kinder mit Kรถrperbehinderungen in unserer Gesellschaft

Allitera Verlag


Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

Mai 2011 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2011 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink Printed in Germany · isbn 978-3-86906-166-5


Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Entwicklung im sozialen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Bewegungsstörungen bei Kindern in Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zerebrale Bewegungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Dystrophin-Erkrankungen: Duchenne-Muskeldystrophie (DMD), Becker-Muskeldystrophie (BMD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Spina bifida und Hydrozephalus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Leben in einer ambivalenten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.1 Einstellungen und Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen . 62 3.2 Einstellungen von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.3 Einstellungen von Menschen in helfenden und pädagogischen Berufen . 70 3.4 Möglichkeiten der Veränderung sozialer Reaktionen . . . . . . . . . . . . . 73 4. Ethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Lebensrecht und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Konflikte am Lebensbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Leben an der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Frühgeborene Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Leben im Wachkoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Eltern und Kinder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5.1 Familie in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . 119 5.2 Familien mit behinderten Kindern: Belastungen, Kompetenzen und Ressourcen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5.3 Auseinandersetzung mit der körperlichen Beeinträchtigung des Kindes . 133 5.4 Eltern und Fachkräfte im Bemühen um die Förderung . . . . . . . . . . . . 150 5.5 Geschwister in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.6 Großeltern, Eltern und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176


6. Frühe Förderung und Bildung körperbehinderter Kinder . . . . . . . . . . . 6.1 Frühe Förderung im Kontext der Lebenswelt von Kind und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Die Anfänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Erfahrungen und neue Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Konzepte und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.2 Bildung als Entwicklungsnotwendigkeit von Anfang an . . . . . . . . . . . 6.3 Ausblick: die Frühförderstelle als Bildungshaus für kleine Kinder und ihre Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Die Kindertagesstätte als Entwicklungsraum und Bildungsstätte . . . . 6.4.1 Aktuelle Entwicklungen in der Arbeit der Kindertagesstätten . . 6.4.2 Erfahrungen mit der Integration behinderter Kinder in Kindertagesstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Die wohnortnahe integrative Kindertagesstätte als Entwick lungsraum und Bildungsstätte auch für Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Lernen in sozialer und kultureller Teilhabe – der Weg durch die Schule . 220 7.1 Anfänge und frühe Zielsetzungen der schulischen Förderung . . . . . . . 220 7.2 Körperbehinderte Kinder in allgemeinen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . 222 7.3 Die Schule für körperbehinderte Kinder als lernende Schule. . . . . . . . 225 7.4 Verstärktes Bemühen um Integration und gesellschaftliche Teilhabe . 247 7.5 Inklusion als Menschenrecht – die UN -Konvention und der Wunsch nach Umgestaltung von Schule und Gesellschaft. . . . . . . . . . 255 7.6 Auf dem Weg zur inklusiven Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 7.7 Und die Kinder mit schwersten Behinderungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 8. Entwicklung und Förderung körperbehinderter Kinder im Spannungsfeld gegenläufiger gesellschaftlicher Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 8.1 Identität, Eigensein und Fremdbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 8.2 Norm- und Leistungsorientierung und die Notwendigkeit umfassender Neuausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286


Vorwort Ein Kind mit einer Behinderung ist vor allem ein Kind, und nicht vor allem behindert. Eine Behinderung allein bestimmt nicht seine Entwicklung, auch nicht sein genetischer Code – sondern das gesamte dynamische Beziehungsgeflecht der komplexen Vernetzung der jeweils gegebenen Einflussfaktoren: der physischen, familialen, sozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, medizinischen, therapeutischen, pädagogischen – um nur einige zu benennen. Ein Kind mit einer Behinderung ist vor allem ein Kind, und nicht vor allem behindert. Kann diese Sichtweise durch die verbreitete Tendenz der De-Kategorisierung erreicht werden? Sicher kann der Verzicht auf festlegende Benennungen und Zuordnungen Offenheit für das, was hier und jetzt in aktuellen Situationen und Begegnungen geschieht, fördern. Aber im Alltag, auch im pädagogischen Alltag, zeichnet sich die Tendenz ab, es als Wert anzusehen, wenn Behinderungen nicht mehr benannt werden. Was bedeutet das eigentlich? Entsteht eine Behinderung durch die Benennung? Und wird sie ohne sie weniger bedeutsam, oder verschwindet sie gar? Eine Körperbehinderung oder eine chronische Krankheit sind keine sozialen Zuschreibungen. Die liegen aber vor, wenn bestimmte organische Schädigungen mit vorgefassten Meinungen verbunden werden, wie z. B. »hirngeschädigte Kinder sind nicht intelligent« oder »Kinder mit Spina bifida haben Wahrnehmungsstörungen und wenig mathematisches Verständnis«. Generalisierte vorgefasste Meinungen behindern betroffene Kinder zusätzlich, da sie Lern- und Teilhabemöglichkeiten verstellen. Das individuelle Kind mit seinen Möglichkeiten in seinem soziokulturellen Kontext wird dabei nicht gesehen. Vorgefasste Meinungen wirken sich als Wahrnehmungsschablonen aus, die den Blick verstellen. Wenn es pädagogisch oder gesellschaftlich unerwünscht ist, Körperbehinderungen, Krankheiten, Schädigungen wie z. B. zerebrale Bewegungsstörungen, Hirnschädigung, Querschnittslähmung, Hydrozephalus, Epilepsie mit ihren 7


Vorwort

individuellen Auswirkungen zu benennen, dann ist das Risiko hoch, dass Handlungs- und Entwicklungserschwerungen, die von Betroffenen erlebt werden, im Umfeld bagatellisiert werden. Dann heißt es vielleicht bei einem Kind mit zerebralen Bewegungsstörungen, es sei ja nur ungeschickt und »das sind ja viele Grundschüler heute.« Auf diese Weise werden die realen, organisch bedingten Schwierigkeiten von Kindern aus der gemeinsamen gesellschaftlichen Verantwortung herausgenommen. Sie werden personalisiert, denn »bei Ungeschicklichkeit muss ein Kind nur üben, üben, üben, dann wird das schon«. Wie können Verstehen, Empathie, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft entstehen, wenn »eigentlich nichts oder nichts Bedeutsames, das einen Namen verdiente« besteht? Solche Qualitäten haben dann keinen Raum mehr. Und das kann ja nicht die gleichfalls angestrebte Wertschätzung von Vielfalt sein. Das entspricht sehr viel mehr der Irrelevanzregel der Soziologie (vgl. Cloerkes 2007, 123), nach der Interaktionen mit Behinderten so verlaufen sollen, als gebe es die Behinderung nicht. Die Versuchung ist dann sehr groß, notwendige zusätzliche Ressourcen für die Bildung von Kindern mit Behinderungen einzusparen, da ja »nichts Besonderes« vorliegt. Das ist gleichzeitig die Verweigerung, sich dem Kind, dem Menschen, der mit Behinderung oder Krankheit lebt, in seiner realen Existenz zuzuwenden, sich akzeptierend anzunähern und mit ihm gemeinsam Leben zu gestalten – auf der Basis der Anerkennung seines Soseins. Das mag schwer fallen, denn sein Sosein erfüllt nicht gängige Normwerte und Standards. Aber die gehen als statistische Werte ohnehin an der »Einmaligkeit des Personseins eines jeden Menschen«, wie es in der Philosophie spätestens seit Thomas von Aquin heißt, vorbei. Lebendiges Leben hat unendlich viele Schwingungen, Formen, Bewegungen, Begegnungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Vielfalt macht es reich. Jede einseitige Betonung, jede Außerachtlassung der komplexen Zusammenhänge und wechselseitigen Einflussfaktoren verzerrt die Wahrnehmung der Situation und die sich daraus ergebenden Folgerungen. Sie führt zu weiteren – dann sozial bedingten – Erschwernissen für Betroffene und verringert Teilhabemöglichkeiten. Das ist nur ein Inhaltsbereich in den aktuellen Diskussionen um Zukunftsperspektiven der Förderung körperbehinderter und kranker Kinder. Da die Zusammenhänge sehr komplex sind, brauchen sie Aufschlüsselungen, die sehr unterschiedliche Aspekte mit einbeziehen. 8


Vorwort

Darum geht es mir in diesem Buch. An ausgewählten Themen möchte ich aufzeigen, welche Einstellungen, Möglichkeiten und Arbeitsweisen körperbehinderten und kranken Kindern nach heutigem Wissen in ihrer Entwicklung und Bildung behilflich sind, und welche sie behindern. Denn die Spannungen zwischen unterstützenden Möglichkeiten und behindernden Gegebenheiten werden größer. Das zeigt sich z. B. bei folgenden Inhalten. Einerseits bestehen starke gesellschaftliche Tendenzen, die Geburt behinderter Kinder nach pränataler Diagnostik durch Schwangerschaftsabbruch zu verhindern. Andererseits haben Kinder mit Behinderung einen Rechtsanspruch auf volle Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen einschließlich des gemeinsamen Besuches von Kindertagesstätte und Schule mit nicht behinderten Kindern und auf individuelle Unterstützung. Kinder sollen in Bildungseinrichtungen individuell gefördert werden mit Bewertung ihrer Vielfalt als Bereicherung. Aber gleichzeitig werden Leistungsanforderungen und Prüfungen standardisiert und vereinheitlicht. Die Förderung der Kinder findet von Anfang an statt zwischen den Polen von Funktionstraining, Fremdbestimmung und Lernzielorientierung einerseits und komplexer Entwicklungsunterstützung, Selbstbestimmung in sozialer Integration und Kindzentrierung andererseits. Die Vielfalt der Fördermöglichkeiten und Förderorte für Kinder mit Behinderungen mit Wahlrecht der Eltern steht der Diskussion um die »eine Schule für alle Kinder« gegenüber. Mit dem vorliegenden Buch verbinde ich die Hoffnung, dass für behinderte Kinder und ihre Familien mehr Akzeptanz, Teilhabe und Mitgestaltung möglich wird, und dass Wege, die die Kinder zusätzlich behindern, überdacht und aufgegeben werden. Mir ist bewusst, wie widerständig die Ambivalenzen in Bezug auf Leben mit Behinderungen und Krankheiten in der Gesellschaft und ihren Mitgliedern sind. Dennoch für Akzeptanz, für Integration in jedem Einzelnen und im Zusammenleben der Menschen zu arbeiten, ermutigen mich vor allem die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen, denen es gelungen ist, einen authentischen Weg trotz Widerständen und schwierigen Umständen zu finden und zu gehen – und auch die Fachkräfte, die sich nicht davon abbringen lassen, sie dabei zu begleiten. Meine Überlegungen zu den bearbeiteten Themenbereichen in diesem Buch wurden unterstützt und bereichert durch mitgeteilte Erfahrungen und Wider9


Vorwort

sprüche von Kolleginnen und Kollegen aus Praxis, Weiterbildung, Ausbildung und Wissenschaft, durch Gespräche mit Eltern, durch die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen Betroffener, und durch die Teilhabe an Entwicklungen körperbehinderter und chronisch kranker Kinder, die viele Förder- und Spielsituationen, bildnerische Gestaltungen und Gespräche einschließt. Mein besonderer Dank gilt Frau Dr. Marion Wieczorek, Universität Landau, für die anregenden Fachgespräche zu zentralen Anliegen der Körperbehindertenpädagogik. Dieses Buch ist geschrieben für alle, die Kindern mit Körperbehinderungen oder Krankheiten begegnen, sie unterstützen, mit ihnen gemeinsam Leben, Lernen und Entwicklung gestalten, und für Menschen, die sich für ihre gleichberechtigte Akzeptanz und Mitgestaltung in unserer gemeinsamen Lebenswelt einsetzen.

Landau, im Frühjahr 2011

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Ursula Haupt


1. Entwicklung im sozialen Kontext Die menschliche Entwicklung vollzieht sich von Anfang an im sozialen Kontext. Ohne ihn ist sie nicht möglich. Vielfältige dynamische Prozesse zwischen Kind, personaler Mitwelt und sächlicher Umwelt sind Mitgestalter jeder Entwicklung. Das Kind ist Akteur seiner Entwicklung. Seine Eigenaktivität ist Motor seiner Entwicklung (vgl. Schlack 2007, 36f.). Largo (1995, 16) spricht vom inneren Drang des Kindes, sich zu entwickeln, sich Fähigkeiten und Wissen anzueignen. Das Kind ist von Anfang an aktiv in Interaktion mit Mitwelt und Umwelt. Es nimmt Umweltreize selektiv auf. Mit Hilfe seiner genetischen Ausstattung nimmt es Einfluss auf seine Entwicklung. Und gleichzeitig sind die vielfältigen Interaktionen und Lebensumstände mitentscheidend dafür, welche genetisch angelegten Möglichkeiten zum Tragen kommen (vgl. Bauer 2008). Die Interaktionen von Kind und Bezugspersonen in der frühen Kindheit sind intensive Austauschprozesse, in denen alle aktiv werden. Das Kind beeinflusst durch sein Dasein, sein Sosein, sein Verhalten, sein Erleben und seine Erfahrungen Eltern, Geschwister und weitere Menschen in seiner Nähe. Die Eltern gestalten die Beziehung auf vielfältige Weise mit. Sie sorgen für sein leibliches Wohl, zeigen ihm ihre Zuneigung im Körperkontakt und in der Weise, wie sie mit ihm sprechen. Sie beziehen es in ihr Leben mit ein. Sie pflegen es, spielen mit ihm und ermöglichen Erfahrungen mit Nahem und Fernem, Vertrautem und Unbekanntem. So sind die Beziehungserfahrungen mit all ihren Ausdrucksformen in der frühen Zeit das Medium, in dem sich Entwicklung in allen Bereichen vollzieht. Die Erfahrung von positiver Resonanz, von feinfühligen Reaktionen auf die kindlichen Bedürfnisse ist dabei von besonderer Bedeutung für alle Entwicklungsbereiche, nicht nur für die Entwicklung von Emotionalität, Bezogenheit und sozialer Kompetenz beim Kind. Alle Entwicklungsbereiche sind sowohl untereinander als auch in Austauschprozessen mit Mitwelt und Umwelt vernetzt (vgl. Haupt 2006). Die erlebte Beziehungsqualität ist bedeutsam für den Wunsch des Kindes, alles zu erkunden und Erfahrungen zu machen. Bewegung und Teilhabe an der gemeinsamen Lebenswelt gehören zusammen. Wahrnehmungen geschehen in diesem Kontext. Eigene Erfahrungen gewinnen subjektive Bedeutsamkeit in 11


Entwicklung im sozialen Kontext

der Sicherheit stabiler Beziehungen. Sie sind auch für die sprachliche Kommunikation grundlegend. Der Austausch mit Bezugspersonen bei Erkundungen in der realen Lebenswelt erleichtert die kognitive Entwicklung. Spielen, Malen, Gestalten entwickeln sich als symbolischer Ausdruck von Erleben und Erfahrung. Diese Möglichkeiten sind grundlegend für alles weitere Lernen. Bewegung und Teilhabe

Erleben, Wahrnehmung und subjektive Bedeutsamkeit

Sprechen, Sprache und Erfahrungswelt

Beziehungserfahrungen, Erfahrungen von Resonanz, Entwicklung von Emotionalität und Beziehungsgestaltung

Kognitive Entwicklung, Erkunden, Welterforschung und Austausch

Spielen, Zeichnen, Gestalten und Musik als symbolischer Ausdruck von Erleben und Erfahrung

Abb. 1: Alle Entwicklungsbereiche sind von Anfang an vernetzt

Lernen in Bezogenheit und Partizipation an der realen Lebenswelt von früher Zeit an erleichtern die spätere eigenaktive Lebensgestaltung im sozialen Kontext. Die Vernetzungen, Einflussfaktoren und Kommunikationsprozesse sind dabei sehr umfassend (vgl. Haupt 2003, 28). Im Zentrum stehen Lebensenergie und Entwicklungsdynamik eines Kindes, die in Kompetenzen wie Bewegung, Befindlichkeit, Ausdrucksverhalten, Kognition etc. Form annehmen. Dies geschieht komplex in Eigenaktivität des Kindes und im lebhaften Austausch mit seiner Mitwelt und Erfahrungswelt. Sie ist ihrerseits vernetzt und eingebunden in Lebensformen, Traditionen, Zeitgeschehen, wirtschaftliche und politische Gegebenheiten, wissenschaftliche Befunde, Meinungen, Welt12


Entwicklung im sozialen Kontext

anschauungen, Erfahrungen. Die unendliche Fülle von Verbindungen ist dynamisch. Alles ist in Bewegung und Veränderung. Die Einflussfaktoren fördern sich untereinander, behindern sich, stoßen sich gegenseitig an. Lebensprozesse sind komplex, verknüpft, kreativ. Was auf die Entwicklung des Kindes zutrifft, gilt auch für alle Menschen in seinem Umfeld und darüber hinaus. Petermann et al. (2004, 333) zeigen an einem Beispiel in Abb. 2 das Zusammenwirken von Einflussfaktoren auf eine Mutter-Kind-Interaktion.

Kindheitserfahrungen Internes Arbeitsmodell

Temperament

Verhalten der Mutter

Verhalten des Kindes

Kulturelle Erziehungsnormen

Internes Arbeitsmodell Temperament

Andere Bezugspersonen

Abb. 2: Einflussfaktoren auf eine Mutter-Kind-Interaktion

Damit ein Kind sich gut entwickeln kann, braucht es hinreichend gute Beziehungs- und Lebenserfahrungen. Niemand hat nur positive Erfahrungen. Sind die Erfahrungen aber immer wieder zu schwierig, ist die Entwicklung gefährdet. Forschungsergebnisse aus den Entwicklungswissenschaften zeigen Bedingungen, die zu Risiken für die kindliche Entwicklung werden können. Sie benennen aber auch Schutzfaktoren, die Risiken mildern und Resilienz unterstützen. Unter Resilienz verstehen Petermann et al. (2004, 344) »die Fä13


Entwicklung im sozialen Kontext

higkeit eines Kindes, relativ unbeschadet mit den Folgen beispielsweise belastender Lebensumstände umgehen und Bewältigungskompetenzen entwickeln zu können«. Als besonders günstig wird angesehen, wenn bei einem Kind hinreichend Schutzfaktoren gegeben sind, ehe Entwicklungsrisiken auftreten. Andererseits ist auch erwiesen, dass Auswirkungen traumatischer Erfahrungen gemildert werden können, wenn betroffene Kinder danach sehr achtsame und liebevolle Beziehungen erleben können. »Die Erforschung der effektivsten Behandlungsformen zur Unterstützung von kindlichen Trauma-Opfern lässt sich tatsächlich genau so zusammenfassen: Was am besten wirkt, ist alles, was die Qualität und die Anzahl der Beziehungen im Leben des Kindes erhöht« (Perry 2006, 108). Als risikoreiche Gegebenheiten gelten heute übereinstimmend für die ersten Lebensjahre (vgl. Petermann et al. 2004, 327f.): – Komplikationen vor, während oder nach der Geburt wie z. B. Frühgeburt, sehr niedriges Geburtsgewicht, Sauerstoffmangel; Fehl- oder Mangelernährung der Mutter; Drogenabhängigkeit der Mutter – sehr schwieriges Temperament des Kindes; schwere Behinderung oder Krankheit – ungünstiges Pflegeverhalten der Mutter – psychische Störungen der Eltern; anhaltende Konflikte in der Familie; Gewalt und Misshandlung in der Familie – Elternschaft vor dem 15. Lebensjahr – niedriger sozioökonomischer Status. Als risikomildernd nennen Petermann et al. (2004, 344) und Dornes (2001, 104) vor allem: – kindbezogene Faktoren wie weibliches Geschlecht; erstgeborenes Kind; überdurchschnittliche Intelligenz; spezielle Talente – Resilienzfaktoren wie positives Sozialverhalten; hohe Sprachfertigkeit; Selbstwirksamkeitsüberzeugung; positives Selbstwertgefühl; aktives Bewältigungsverhalten; Fähigkeit, sich zu distanzieren; Selbsthilfefertigkeiten – Schutzfaktoren innerhalb der Familie wie stabile emotionale Beziehung zu einem nahen Menschen, unterstützendes Erziehungsklima; familiärer Zusammenhalt; Modelle positiven Bewältigungsverhaltens – Schutzfaktoren innerhalb des sozialen Umfelds wie soziale Unterstützung; positive Freundschaftsbeziehungen; positive Kontakte zu Gleichaltrigen; gute Schulerfahrungen.

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Entwicklung im sozialen Kontext

Largo (in Petermann et al.2000, 143f.) macht darauf aufmerksam, dass die Auswirkungen von Geburtskomplikationen überschätzt werden. Entwicklungsbehinderungen werden nach seinen Untersuchungen eher durch intrauterine Geschehnisse verursacht. Er stellt fest, dass die Schwangerschaftsdauer sehr bedeutsam ist für die spätere neurologische und kognitive Entwicklung. Die Ursache dafür liegt in der Unreife fetaler Organsysteme bei zu früher Geburt und der damit gegebenen Empfindlichkeit gegenüber schädigenden Einflüssen. Für die postnatale Entwicklung ist der sozioökonomische Status der Eltern von besonderer Bedeutung. Er korreliert hoch mit den sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder. Bei den psychosozialen Risikofaktoren verweist Largo besonders auf den Verlust bedeutsamer Beziehungen, z. B. bei Trennung der Eltern oder Tod eines Elternteils. Arbeitslosigkeit oder Krankheit gehören ebenfalls zu den Risikofaktoren. Largo weist auch auf die möglichen Auswirkungen langer Krankenhausaufenthalte beim Kind hin. So spielt der soziale Kontext mit seinen unterschiedlichen förderlichen und erschwerenden Einflüssen eine sehr bedeutsame Rolle für die persönliche, individuelle Entwicklung eines Menschen in allen Bereichen. Das trifft natürlich auch auf Menschen zu, die mit einer Körperbehinderung oder chronischen Krankheit leben. Es gibt Situationen, in denen gesellschaftliche Gegebenheiten bzw. Verhaltensweisen im sozialen Raum für ein Kind zu einem Entwicklungsrisiko mit Behinderungsfolgen werden können, z. B. durch einen Verkehrsunfall, durch die Nähe des Wohnortes zu einem Atomkraftwerk (KiKK-Studie 2008), durch ein Frühgeburtsrisiko bei großem Stress der Mutter am Arbeitsplatz. In jedem Fall hängen aber Auswirkungen der körperlichen Beeinträchtigung oder Schädigung für die Lebensgestaltung vom sozialen Kontext ab, mit zusätzlichen Entwicklungsrisiken und Schutzfaktoren. Es ist notwendig, sich damit auseinanderzusetzen, da in diesen Zusammenhängen grundsätzlich auch Chancen bestehen, gesellschaftliche Gegebenheiten zu hinterfragen und ggf. auf Veränderungen hinzuwirken. Vor allem aber sind Kenntnis und Verstehen der Wirkprozesse bedeutsam für die Begegnung mit Betroffenen, für die gemeinsame Lebensgestaltung und Zusammenarbeit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2001 in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF – International Classification of Functioning, Disability, and Health) sowohl die individuellen Gegebenheiten als auch die Kontextfaktoren und gesellschaftlichen Aspekte betont. 2006 erfolgte die Veröffentlichung der ICF-Version für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) der WHO mit dem Ziel, eine interdisziplinär 15


Entwicklung im sozialen Kontext

einheitliche Sprache für die komplexen Gegebenheiten bei Kindern mit Entwicklungsproblemen zu ermöglichen (vgl. Häußler 2007, 174). Die ICF spricht in einem ersten Teil von Körperfunktionen und Strukturen, von Aktivitäten und von Partizipation. Dabei sind folgende Bereiche ausdrücklich gemeint: Teilhabe an der persönlichen Pflege, an Mobilität, an Informationsaustausch, an sozialen Beziehungen, an den Bereichen Ausbildung, Arbeit, Freizeit und Spiritualität, am wirtschaftlichen Leben, am staatsbürgerlichen und gemeinschaftlichen Leben. Einschränkungen von Körperfunktionen und Strukturen können beispielsweise entstehen im Zusammenhang mit: Querschnittslähmungen; SchädelHirn-Traumata; Unfallfolgen; Gliedmaßenfehlbildungen; schweren rheumatischen Erkrankungen; Hirnschädigungen (s. Kap. 2.1); Muskelerkrankungen (s. Kap. 2.2); Spina bifida (s. Kap. 2.3); Hydrozephalus (s. Kap.2.3); Kleinwuchs; Poliomyelitis (Spinale Kinderlähmung); Osteogenesis imperfecta (angeborene Knochenbrüchigkeit); Arthrogryposis multiplex congenita (angeborene Gelenkversteifungen); Mukoviszidose (Zystische Fibrose; angeborene Stoffwechselstörung); Leukodystrophie (fortschreitende Erkrankung des Zentralnervensystems); Krebserkrankungen; schweren Organfehlbildungen und Organerkrankungen. Nach der WHO -Definition bedeutet eine körperliche Schädigung nicht per se eine Behinderung. Der Begriff der Behinderung bezieht sich nach dieser Definition auf eine körperliche Schädigung, die mit Einschränkungen der Aktivität eines betroffenen Menschen und mit Beeinträchtigung der sozialen Teilhabe verbunden ist. Abb. 3 (Leyendecker 2005, 19) zeigt die WHO -Definition schematisch (vgl. auch Kraus de Camargo 2009, 64). Im Teil 2 der ICF-Klassifikation kommt zum Ausdruck, dass sowohl personenbezogene als auch mit- und umweltbezogene Komponenten die individuelle Ausprägung einer Behinderung bestimmen. Dies ist im Verstehen der Lebenssituation eines betroffenen Kindes und für die Zusammenarbeit mit ihm von großer Bedeutung. Wenn man z. B. früher oft annahm, Wahrnehmungsstörungen und Erfahrungsmangel gehörten zu einer Fehlbildung wie Spina bifida, muss man sich heute ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob ein betroffenes Kind von frühester Kindheit an hinreichend Gelegenheit, Hilfen und Hilfsmittel hatte, um in ganz realen Lebenssituationen genügend eigene Erfahrungen und Erkundungen machen zu können. Nicht die Spina bifida verursacht den möglichen Erfahrungsmangel, sondern ein fehlendes entwicklungsgemäßes Erfahrungsangebot. Und das entspräche nach der WHO -Definition einer Beeinträchtigung der Teilhabe, die so nicht hingenommen werden kann.

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Entwicklung im sozialen Kontext

1. Ebene/Teil: Funktionsfähigkeit und Behinderung Körperfunktionen und Körperstrukturen Aktivitäten und Partizipation

3 grundlegende Aspekte oder Komponenten

2. Ebene/Teil: Kontextfaktoren

2 Aspekte oder Komponenten, die die individuelle Ausformung bestimmen

Umweltbezogene Faktoren Personenbezogene Faktoren

Körperfunktionen und Strukturen

Aktivitäten

Partizipation

positiver negativer Aspekt Aspekt

positiver negativer Aspekt Aspekt

positiver negativer Aspekt Aspekt

funktionale und strukturelle Integrität

Schädigung

Ausübung von Aktivitäten

Beeinträchtigung der Aktivität

Einbezogensein in eine Lebenssituation

Beeinträchtigung der Teilhabe

Behinderung

Funktionsfähigkeit

Gesundheitsproblem Körperfunktionen und -strukturen

Aktivitäten

umweltbezogene Faktoren

Partizipation

personenbezogene Faktoren

Abb. 3: Systematik der ICF der WHO (International Classification of Functioning, Disabilities, and Health)

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Entwicklung im sozialen Kontext

In Abb. 3 sind jeweils Kompetenz und Schädigung/Beeinträchtigung nebeneinander gestellt. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass jedes Kind gleich mit welcher Schädigung oder Beeinträchtigung auch lebensbedeutsame Kompetenzen hat. Unter Bezug auf die WHO -Definition lässt sich feststellen: Eine Körperbehinderung liegt dann bei einem Menschen mit einer Schädigung bzw. Beeinträchtigung des Bewegungssystems oder einer chronischen Krankheit vor, wenn seine Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten nicht nur durch die Schädigung oder Krankheit selbst, sondern auch durch gesellschaftlich bedingte Gegebenheiten dauerhaft eingeschränkt sind und die Selbstverwirklichung in sozialer Integration erschwert ist. Das ist heute die Situation der meisten Betroffenen. Inwieweit aus einer Bewegungsstörung oder einer schweren chronischen Krankheit eine Behinderung im Sinne der WHO -Definition entsteht, hängt von einer Vielzahl von Entwicklungsbedingungen der Kinder ab. Die Risikofaktoren, die in wissenschaftlichen Untersuchungen gefunden wurden, begünstigen die Entwicklungen von Behinderungen. Die Schutzfaktoren erleichtern die Selbstverwirklichung in sozialer Integration. Nach heutigem Wissen werden folgende Gegebenheiten für die Entwicklung eines Kindes mit einer dauerhaften körperlichen Beeinträchtigung angesehen (vgl. auch Leyendecker 2006, 21f.): männliches Geschlecht (Jungen sind häufiger von Schädigungen betroffen als Mädchen); früher Eintritt der Schädigung; Hirnschädigung; gesichtsnahe Fehlbildung oder Entstellung; leichtere Schädigung (diese Kinder stehen härter in der Konkurrenz zu nicht behinderten Kindern); schwere Mehrfachbehinderung; Vielzahl medizinischer und klinischer Maßnahmen; Nachlassen der Kraft; Verlust von Kompetenzen; erschwerte Kommunikation; niedrigere Intelligenz; eher negative Selbstwertschätzung; hohes Ausmaß an Fremdbestimmung; erschwerte Akzeptanz der Körperschädigung oder der chronischen Krankheit. Risikofaktoren im sozialen Umfeld sind: unzureichende Ressourcen (z. B. Armut); negative Erfahrungen mit dem eigenen Körper (z. B. bei Behandlungen); stark wechselnde soziale Beziehungen; inkonstante Erziehungsbedingungen; eingeschränkte oder unangenehme Erfahrungswelt; anpassungsbetonte Erziehung; Förderung von Unselbstständigkeit; defizitorientierte oder stark leistungsorientierte Förderung; erlebte Ablehnung; Verweigerung von Hilfe; ablehnende Einstellungen oder Vorurteile; Isolation; Verweigerung von Partizipation; unüberwindbare menschliche und architektonische Barrieren; fehlende Hilfsmittel; nicht gelingender Umgang mit Verschiedenheit in Bildungsinstitutionen und Gesellschaft. 18


Entwicklung im sozialen Kontext

Dem steht eine Vielzahl von erleichternden Entwicklungsbedingungen und Schutzfaktoren gegenüber. Kindbezogene Schutzfaktoren sind: weibliches Geschlecht; später eintretende, nicht progrediente Schädigung oder Krankheit; keine Hirnschädigung; schwerere Schädigung mit Rollstuhlabhängigkeit (Kinder im Rollstuhl erleben mehr Schutz und Hilfe als Kinder mit weniger deutlich sichtbaren Beeinträchtigungen); wenig körperliche Beschwerden; gute Entwicklungsfortschritte; Erwerb neuer Kompetenzen; gute Kommunikationsmöglichkeiten; durchschnittliche oder überdurchschnittliche Intelligenz; positive Selbstwertschätzung; Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten; mehr selbstbestimmtes Leben; Realisierung eigener Ideen und Möglichkeiten; gelingende Integration vorliegender Beeinträchtigung in das Selbstkonzept. Zu den Schutzfaktoren im sozialen Umfeld gehören: ausreichende oder gute Ressourcen; positive Körpererfahrungen; emotional ausgeglichene und anregende soziale Beziehungen; Konstanz, Verlässlichkeit der Erziehungsbedingungen; interessante, einladende Erfahrungswelt; kind- und entwicklungsentsprechendes Erzieherverhalten; Unterstützung der kindlichen Autonomie; angemessene Aufgaben und Anforderungen; kind- und entwicklungsgemäße Förderung; erlebte Akzeptanz, Wertschätzung; Verfügbarkeit notwendiger Hilfen und Hilfsmittel; gelingender Umgang mit Verschiedenheit in Bildungsinstitutionen und Gesellschaft. Im nächsten Kapitel werden beispielhaft körperliche Beeinträchtigungen mit ihren möglichen Auswirkungen dargestellt. Ausgangspunkt ist dabei jeweils – entsprechend der WHO -Klassifikation – die körperliche Situation. Es wird orientierend Bezug genommen auf Aktivitäten und Partizipation mit personenbezogenen und mit- bzw. umweltbezogenen Faktoren.

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2. Bewegungsstörungen bei Kindern in Beispielen 2.1 Zerebrale Bewegungsstörungen Zerebrale Bewegungsstörungen (Synonyme: Infantile Cerebralparese bzw. Infantile Zerebralparese; ICP bzw. IZP; Little Krankheit) sind nach Schlack (1994, 186): »Folgen einer nicht progredienten Hirnschädigung, die in der Zeit zwischen der frühen Schwangerschaft und dem 3. Lebensjahr eingetreten sind.« Betroffen sind etwa zwei bis drei von 1000 Kindern. Zerebrale Bewegungsstörungen sind keine Lähmungen. Es sind Bewegungsstörungen, die von der jeweiligen Körperhaltung (Kopfhaltung, Position im Raum), der ausgeführten Aktion und der aktuellen psychischen Situation abhängig sind. Ferrari (1998, 15) betont, dass die IZP »eine bleibende, aber nicht unveränderbare Haltungs- und Bewegungsstörung infolge einer prä-, peri- oder postnatalen zerebralen Funktionsstörung ist. Sie ist eingetreten, bevor das Gehirn seine Reifung und Entwicklung abgeschlossen hat. Die Hirnschädigung selbst verändert sich nicht, aber die Anforderungen der Umwelt an das Nervensystem werden immer komplexer, was zu einer Zunahme der Behinderung führt.« So kann sich das klinische Bild im Verlauf der Entwicklung ändern. Die frühere Auffassung, dass Schädigungen umschriebener Hirnabschnitte (pyramidale, extrapyramidale und zerebelläre Schädigungen) zu bestimmten, typischen Ausprägungen der Störung führen, wurde seit den 60er-Jahren verlassen zugunsten der Sichtweise einer Störung des komplexen zerebralen Funktionssystems (vgl. Huffmann 1968). Ferrari (1998, 28) sieht in der Bewegungsstörung im positiven Sinn den Versuch des hirngeschädigten Kindes, den steigenden Ansprüchen im Entwicklungsverlauf gerecht zu werden. An anderer Stelle (1998, 48) schreibt er: »Für das Zentralnervensystem des Kindes sind die veränderten Bewegungsabläufe keine organische, systemische oder strukturelle Störung, sondern eine andersartige Aktions- und Organisationsweise eines Systems, das ständig nach neuen Lösungen für innere Bedürfnisse sucht, um sie den äußeren Anforderungen der Umwelt anzupassen.« Dabei ist die funktionelle Organisation des Kindes in seiner Interaktion mit der Umwelt nicht nur von der motorischen Störung, sondern auch von Kognition, Wahrnehmung und Motivation abhängig (a. a. O. 13). 20


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