Der Erinnerung auf der Spur

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Die Autoren Rosanna Dom, M.A., Freie Universität Berlin, St. Petersburger Staatliche Universität, Doktorandin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin im Fach ost- und südosteuropäische Geschichte. Thomas Milde, Technische Universität Dresden, Orenburger Staatliche Universität, Lehrer an der Integrierten Gesamtschule in Wolfsburg für Geschichte und Politik. Markus Wollny, Technische Universität Dresden, Lehrer an der Kooperativen Gesamtschule Tarmstedt für Geschichte und Politik.

ISBN 978-3-89974809-3

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Thomas Milde, Rosanna Dom, Markus Wollny T. Milde, R. Dom, M. Wollny I Der Erinnerung auf der Spur

Wie wird der GULag in Russland erinnert? Wie lebt es sich in einer Stadt, deren Vergangenheit so eng mit den Gräueln der Lager verknüpft ist? Spricht man dort heute noch von diesen Geschehnissen? Oder sind sie längst von anderen Erinnerungsschichten überlagert und verdeckt? Welche Bedeutung hat diese Geschichte für uns heute in Deutschland? Diesen Fragen ging fünf Monate lang eine deutschrussische Studentengruppe in Workuta, Ort eines der bekanntesten russischen GULags, nach. In dem vorliegenden Buch erläutern die Leiter des WorkutaProjekts ihre Erfahrungen und methodischen Vorgehensweisen und verallgemeinern ihre Ergebnisse auf die historische Projektarbeit insgesamt. In Kombination mit den zahlreichen enthalten Arbeitsmaterialien wird das Buch so zu einem nützlichen Leitfaden für die historisch-politische Bildungsarbeit.

Der Erinnerung auf der Spur Ein didaktischer und methodischer Exkursionsleitfaden am Beispiel der Erinnerungskultur des Ortes Workuta

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Thomas Milde, Rosanna Dom, Markus Wollny

Der Erinnerung auf der Spur Ein didaktischer und methodischer Exkursionsleitfaden am Beispiel der Erinnerungskultur des Ortes Workuta

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in KLY +L\[ZJOLU 5H[PVUHSIPISPVNYHÄ L" KL[HPSSPLY[L IPISPVNYH Ä ZJOL +H[LU sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Druck wurde durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert. Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autoren die Verantwortung. ©

by WOCHENSCHAU Verlag, Schwalbach/Ts. 2012

www.wochenschau-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Umschlaggestaltung: Ohl Design Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag ISBN 978-3-89974809-3

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Im Folgenden können Sie einen Ausschnitt aus der Publikation „Der Erinnerung auf der Spur“ (Inhaltsverzeichnis und Einleitung) lesen. Die vollständige Publikation können Sie beim Wochenschau-Verlag auf der Bestellseite der Verlagshomepage bestellen: Zur Bestellseite


Inhalt

Zum Geleit ................................................................................................

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I

Einleitung .........................................................................................

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II

Kompetenzförderung durch Lernerfahrungen ................................... 19 1. 2. 3. 4.

III

Kompetenzförderung in der Projektarbeit ...................................... Förderung historischen Denkens .................................................... Multiperspektivität als Prinzip des historischen Lernens ................. Kompetenzförderung durch Erfahrungen – praktische Zugänge .....

Die historische Exkursion als Metamethode ...................................... 31 1. Aspekte des Lernens vor Ort .......................................................... 2. Definition des Lernens vor Ort ...................................................... 3. Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der historischen Exkursion ............................................................. 4. Die Raumdimension beim Lernen vor Ort ..................................... 5. Fazit ...............................................................................................

IV

19 19 25 26

31 33 34 40 43

Methodenbaustein A: Topografieanalyse ........................................... 44 1. 2. 3. 4.

Städtische und ländliche Erinnerungsräume abschreiten ................. Die Topografie erfassen .................................................................. Methodisches Vorgehen – Gedenkorte als Lernorte ........................ Die Visualisierung des Raumes – Nutzung von Karten und Fotografien ............................................. 5. Zum praktischen Vorgehen im Workuta-Projekt ............................ 6. Fazit ..............................................................................................

44 46 47 51 52 53

Materialien ........................................................................................ 54 V

Methodenbaustein B: Museumsanalyse ............................................. 57 1. Warum analysieren wir Museen? ..................................................... 58 2. Fallanalysen: Das Workutiner Überregionale Heimatkundemuseum und das Betriebsmuseum Workuta-Ugols ....................................... 60

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3. 4. 5. 6.

Museumsanalyse – interdisziplinäre Zugänge und ihre Modelle ..... Der erste Gang durch ein Museum ................................................ Zum praktischen Vorgehen im Workuta-Projekt ........................... Fazit ..............................................................................................

61 66 66 67

Materialien ....................................................................................... 68 VI

Methodenbaustein C: Zeitzeugeninterview ...................................... 75 A: Theorieteil .................................................................................... 1. Oral History ............................................................................. 2. Theoretische Grundlagen qualitativer Sozialforschung und Interviewmethoden ........................................................... B: Praktische Umsetzung der Interviewarbeit .................................... 1. Interviewpartnerinnen und -partner ......................................... 2. Interviewformen und -methoden ............................................. 3. Praktische Hinweise zur Interviewführung ............................... 4. Transkription ........................................................................... 5. Auswertung ............................................................................. 6. Fazit .........................................................................................

79 79 83 94 95 98 104 111 112 121

Materialien ....................................................................................... 123 VII

Methodenbaustein D: Interkulturelle Reflexion ................................ 139 1. 2. 3. 4.

Ausgangspunkte interkulturellen Lernens ...................................... Schlussfolgerungen für die interkulturelle Projektarbeit ................. Reflexion durch interkulturelle Methoden ..................................... Fazit ...............................................................................................

139 144 146 147

Materialien ....................................................................................... 148 VIII Literaturverzeichnis .......................................................................... 164 Die Projektteilnehmenden stellen sich vor … ............................................. 170 Nachwort ................................................................................................... 173

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Zum Geleit

Wie wird der GULag in Russland erinnert? Wie lebt es sich in einer Stadt, deren Vergangenheit so eng mit den Gräueln der Lager verknüpft ist? Spricht man dort heute noch von diesen Geschehnissen? Oder sind sie längst von anderen Erinnerungsschichten überlagert und verdeckt? Diesen Fragen ging fünf Monate lang eine deutsch-russische Studentengruppe in überwiegend rauer Umgebung nach. Die Stadt Workuta, in der sich eines der in Deutschland bekanntesten Lager des sowjetischen GULagSystems befand, liegt in der russischen Polarregion. Um an diesen Ort zu gelangen, reiste die Gruppe 40 Stunden im Zug von Moskau aus. Und dies blieb nicht die einzige Hürde auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis davon, wie viel Geschichte in unserer Gegenwart präsent ist und wie man mit ihr umgehen kann. Das Projekt „WorkutLag/Workuta – Bergbaustadt in der russischen Polarregion: Erinnerung an die Sowjetunion auf zwei unterschiedlichen Pfaden“ war eines von 24 internationalen Projekten, die im Jahr 2010 im Rahmen der „Geschichtswerkstatt Europa“ gefördert wurden. Die Geschichtswerkstatt Europa ist ein Förderprogramm der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), das diese in Kooperation mit dem Institut für angewandte Geschichte (Frankfurt/Oder) durchführt. Ziel der Geschichtswerkstatt Europa ist es, junge Menschen aus Mittelund Osteuropa, Deutschland und Israel die gemeinsame und eigenverantwortliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und anderen diktatorischen Systemen zu ermöglichen. Aus verschiedenen Perspektiven gehen sie in ihren Projekten den europäischen Erinnerungskulturen zu den kollektiven Gewalterfahrungen und Regimen des 20. Jahrhunderts nach. In dieser manchmal auch schwierigen Arbeit werden die Projekte vom Institut für angewandte Geschichte beraten und unterstützt. Ein methodisch geleiteter Zugang hilft den Projekten bei ihren Vorhaben. Sie analysieren Denkmäler und Museen des Zweiten Weltkrieges, führen Interviews mit Zeitzeugen durch, arbeiten mit kulturanthropologischen oder ethnographischen Zugängen und fragen etwa nach den Einflüssen von Ethnizität, befasssen sich mit Migration und Zwangsarbeit, mit Opfer-, Täter- oder gar Heldenrollen oder mit der Tabuisierung von Themen in der historischen Aufarbeitung. Neben den sachlichen Erkenntnissen, die die Projektteilnehmer gewinnen, ist eine weitere Einsicht der internationalen Projektarbeit fast noch

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wichtiger: die Wahrnehmung der unterschiedlichen Erinnerungs- beziehungsweise Gedenkkulturen, der Brüche und Schattierungen zwischen verschiedenen individuellen, gruppenspezifischen oder nationalen Gedächtnissen und Geschichtsbildern. In fast allen Projekten der Geschichtswerkstatt Europa gibt es irgendwann einen Punkt, an dem die interkulturellen Unterschiede aufbrechen und aufeinanderprallen. So geschah es beispielsweise der russisch-deutschen Studentengruppe, die der Erinnerung an das Lager in Workuta nachspürte. Anlässlich eines gemeinsamen Besuchs der Militärparade in Moskau am 9. Mai traten die erheblich unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie das Ende des Zweiten Weltkriegs angemessen zu würdigen oder gar zu feiern sei, zu Tage und führten fast zu einem Zerfallen der Projektgruppe. Aber eben nur fast. Es sind solche Erfahrungen, die den Beteiligten eindringlich zeigen, wie wichtig das Thematisieren von Unterschieden in den Erinnerungs- und Gedenkkulturen sowie die Auseinandersetzung darüber sind. Die Stiftung EVZ und das Institut für angewandte Geschichte möchten mit der Geschichtswerkstatt Europa diesen lebendigen und kritischen Austausch, der die Projektteilnehmer dazu auffordert, auch ihre persönlichen Einstellungen zu prüfen, ausdrücklich anregen. Eine wichtige Handreichung für alle diejenigen, die sich dieser Herausforderung stellen möchten, ist exemplarisch das vorliegende Buch von Thomas Milde, Rosanna Dom und Markus Wollny. Die Autoren konzipierten und leiteten das Workuta-Projekt und ihre Publikation stellt eine Fortführung und gleichzeitig eine Vertiefung der Projektarbeit dar. Sie erläutern ihre methodische Vorgehensweise und diskutieren diese im allgemeineren Sinne. Das macht das Buch zu einem nützlichen Leitfaden für Multiplikatoren der historisch-politischen Bildungsarbeit. Von Interesse ist es insbesondere für diejenigen, die den Umgang mit Geschichte länderübergreifend vergleichen möchten und geeignete Methoden für ihr Vorhaben suchen. Das Buch ist indes nicht nur als Leitfaden, sondern auch als Ermunterung zu verstehen. Geschichte liegt vor unseren Füßen und dennoch ist noch so viel über sie ungesagt, ungeklärt und ungedeutet. Das Buch ermuntert, sie zu ergreifen, sie in die Hand zu nehmen und von vielen Seiten zu betrachten. Es dokumentiert auch, welche Konflikte aus einer solchen Arbeit entstehen können und wie sie zu überwinden sind. Und es macht deutlich, dass es sich lohnt, weiterzumachen, Differenzen auszuhalten und den Dialog über die Unrechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts fortzuführen, über Grenzen hinweg. Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ Institut für angewandte Geschichte e.V.

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I

Einleitung

Die Polarstadt Workuta ist vor allem außerhalb Russlands als Zentrum verschiedener Arbeitslager (WorkutLag) für politische Gefangene bekannt. Diese bestanden zwischen 1938 und 1960. Inhaftiert waren bis zu 73.000 Personen, die hauptsächlich in der Kohleförderung, im Untertagebau, im Eisenbahnbau und in der metallurgischen Industrie Zwangsarbeit leisten mussten.1 Vor diesem Hintergrund ist die Annahme, dass sich die Erinnerung an die Sowjetunion in Workuta vor allem auf den GULag konzentriert, eine naheliegende Schlussfolgerung. Eine Reise in die Bergbaustadt genügt, um diese Annahme zu revidieren: WorkutLag wird von der Erinnerung an die scheinbar leistungsstarke und wohlhabende Bergbaustadt Workuta der 1960er bis Anfang 1980er – die so genannten goldenen Jahre – überlagert. Erst auf den zweiten Blick trifft man auf die Erinnerungen an WorkutLag als Teil des stalinschen Arbeitslagersystems. Zeuginnen und Zeugen beider Erinnerungspfade leben heute in Workuta nebeneinander. Beide Erinnerungen wurden bisher nur im geringen Ausmaß auf museale, topografische oder literarische Weise sichtbar gemacht. Die Erinnerung an die Sowjetunion in Workuta wird getragen durch die Erlebnisgeneration, das heißt, sie ist bisher hauptsächlich Teil des kommunikativen Gedächtnisses (siehe dazu den Unterpunkt Erinnerung und Erinnerungskultur). Es verwundert daher nicht, dass die Erinnerung an WorkutLag von der Erinnerung an die Bergbaustadt Workuta überlagert beziehungsweise verdrängt wird. Vor diesem Hintergrund stellte sich für uns die Frage nach den Schnittstellen dieser beiden Erinnerungsstränge, die sich teilweise bei einzelnen Personen bündeln. Gegenstand unseres Geschichtsprojektes war, die Überlappungen dieser Erinnerungen zu untersuchen. Workuta interessierte uns als Ort besonders deshalb, weil er trotz seiner peripheren geografischen Lage am Nordende des Uralgebirges Bestandteil der europäischen Erinnerungskultur ist. Bei der Vermittlung der Geschichte und Erinnerung an das Repressionssystem GULag in Europa spielte Workuta eine zentrale Rolle. In Deutschland ist Workuta fast ausschließlich als Gefangenenlager für deutsche Kriegsgefangene und politische Häftlinge aus den durch die Rote Armee (zurück)eroberten Gebieten und aus der Sowjeti1

WORKUTA-ITL, unter <www.gulag.memorial.de/lager.php?lag=65>. Auf alle zitierten Internetdokumente wurde am 15.2.2011 zuletzt zugegriffen.

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schen Besatzungszone bekannt.2 Dass Workuta auch eine Geschichte als sozialistische Vorzeigestadt in der Sowjetunion ab den 1960er Jahren hat, ist jenseits der ehemaligen sowjetischen Grenzen kaum bekannt. Kurz nachdem unsere Projektidee entstanden war, bekamen wir von einer damaligen Kollegin den Tipp, uns mit dieser bei der Geschichtswerkstatt Europa3 zu bewerben. Diese fördert als Akteur der historischen Bildungsarbeit internationale Projekte zur Analyse europäischer Erinnerungskulturen. Zu unserer großen Freude wurde unser Projektantrag „WorkutLag/Workuta – Bergbaustadt in der russischen Polarregion: Erinnerung an die Sowjetunion auf zwei unterschiedlichen Pfaden“4 in die Förderung aufgenommen, so dass im Mai 2010 ein interkulturell zusammengesetztes, studentisches Forschungsteam, das wir begleiteten, zu einer mehrtägigen historischen Exkursion nach Moskau und Workuta aufbrechen konnte. Nach Abschluss des Workuta-Projektes entstand die Idee, unsere Erfahrungen mit den verwendeten Methoden festzuhalten und an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der historischen und politischen Bildungsarbeit weiterzugeben. In dem vorliegenden Leitfaden stellen wir unsere Vorgehensweise im Workuta-Projekt dar, beurteilen diese vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen und ergänzen diese durch weiterführende Arbeitsschritte und Hinweise. Insbesondere diskutieren und erweitern wir die im Workuta-Projekt angewendeten Methoden und stellen Arbeitsblätter zum Umgang mit diesen zur Verfügung. Unser Ziel ist es, Projektteams mit diesem Exkursionsleitfaden dabei zu unterstützen, geeignete Methoden für ihre individuellen 2

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Elke Fein u.a. (Hrsg.), Von Potsdam nach Workuta. Das NKWD/MGB/KGB-Gefängnis Potsdam-Neuer Garten im Spiegel der Erinnerung deutscher und russischer Häftlinge. Potsdam 2002. Dieser Band dokumentiert das Schicksal politischer Häftlinge des NKWD in Potsdam, die in Workuta Zwangsarbeit leisten mussten. Auch an anderen Erinnerungsorten der damaligen Sowjetischen Besatzungszone lassen sich vielfältige Verweise auf Workuta finden, beispielsweise in der Gedenkstätte Buchenwald oder der Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden. Die Geschichtswerkstatt Europa ist ein Programm der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und wird vom Institut für angewandte Geschichte in Kooperation mit der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) koordiniert, unter <www. geschichtswerkstatt-europa.org>. WorkutLag/Workuta – Bergbaustadt in der russischen Polarregion: Erinnerung an die Sowjetunion auf zwei unterschiedlichen Pfaden – Geschichtswerkstatt Europa, unter <http://www.geschichtswerkstatt-europa.org/projekt-details/items/workutlag. html>. Dieses Projekt wurde von der Geschichtswerkstatt Europa und der Robert Bosch Stiftung finanziell unterstützt. Wir führten es zwischen März und Oktober 2010 durch. Nachfolgend verwenden wir nicht mehr den vollen Projekttitel, sondern die Abkürzung Workuta-Projekt.

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Fragestellungen auszuwählen. Wir möchten damit erstens das Interesse junger Menschen für die Auseinandersetzung mit der Geschichte wecken, zweitens selbstständiges Arbeiten fördern sowie drittens dazu anregen, über Grenzen hinaus zu denken. Ein entscheidender Aspekt der kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte ist die Dekonstruktion bestehender Geschichtsbilder. Die Auseinandersetzung mit Geschichte heißt daher auch zu untersuchen, wie die Vergangenheit in der Gegenwart erinnert, erzählt und interpretiert wird. Damit rücken Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik in den Fokus, weil sich darin Mechanismen des Umgangs einer Gesellschaft oder Gruppe mit ihrer Vergangenheit zeigen. Dieser Aspekt wird unten näher erläutert. Dass man sich in einem historischen Projekt nicht ausschließlich auf die Suche nach Vergangenem oder gar nach einer „historischen Wahrheit“ begibt, sondern primär nach Erinnerungen und Vergangenheitsdeutungen fragt, ist keineswegs überall Konsens. Denn dieser Ansatz basiert auf einer konstruktivistischen Geschichtsauffassung,5 die bei weitem nicht von allen Geistes- und Sozialwissenschaften in Europa geteilt wird. Wie in diesem Exkursionsleitfaden noch gezeigt wird, kann die Verwendung dieses Ansatzes nicht automatisch als Ausgangsbasis der interkulturellen historischen Bildungsarbeit vorausgesetzt werden. Es ist daher notwendig, dass sich alle Projektpartnerinnen und -partner über einen gemeinsamen Forschungsansatz verständigen und diesen während der Vorbereitungsphase diskutieren und festhalten, um so eine gemeinsame Projektbasis zu gewährleisten. Der vorliegende Exkursionsleitfaden baut auf dem Konzept des forschenden Lernens6 auf, das seinen Schwerpunkt auf die eigenständige Organisation des Arbeitsprozesses legt. Besonders in Projekten kann forschendes

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Die konstruktivistische Geschichtsauffassung beruht auf der Annahme, dass die Vergangenheit unwiederbringlich vorüber ist und dass Geschichte erst durch die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit entsteht. Geschichte ist daher immer an die Gegenwart gebunden, in der sie erzählt und dargestellt wird, und zwar unabhängig davon, ob den Autorinnen und Autoren beziehungsweise Rezipientinnen und Rezipienten dies bewusst ist. Es gibt eine Vergangenheit, aber es existieren viele Erzählungen und viele Geschichten über sie. Geschichte gibt nicht die „historische Wahrheit“ wieder, sondern schafft und konstruiert lediglich ein Bild der Vergangenheit, so wie sie gewesen sein kann. Die Theorierichtung des Konstruktivismus gilt dafür als Basis. Nach ihr generiert jeder Mensch sein Wissen und seine eigene Wirklichkeit selbst. Bärbel Völkel, Wie kann man Geschichte lehren? Die Bedeutung des Konstruktivismus für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2002. Peter Adamski, Historisches Lernen in Projekten (Basisartikel), Geschichte lernen (2006), H. 119, 2-9. Gerhard Henke-Bockschatz, Forschend-entdeckendes Lernen, in: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.), Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 22007, 15-29.

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Lernen in einer sehr komplexen Form angewendet werden.7 Projektteilnehmende lernen während des Forschungsprozesses zu forschen, weil sie sich nicht nur selbstständig mit einem bestimmten Thema auseinandersetzen, sondern auch methodische Kompetenzen erwerben und gleichzeitig anwenden. Umgesetzt werden kann dieser Ansatz durch den Einsatz vielfältiger Methoden, die wir in diesem Exkursionsleitfaden vorstellen. Die Auswahl erfolgte nach interdisziplinären Kriterien und umfasst allgemeinpädagogische, geschichtsdidaktische sowie geschichts- und sozialwissenschaftliche Methoden. Darüber hinaus sollen didaktische Überlegungen zur Kompetenzentwicklung in der historischen und interkulturellen Projektarbeit dabei unterstützen, ein spezifisches Projektdesign zu erstellen, um im Feld als interkulturelles Team forschen zu können. Die Methoden in diesem Exkursionsleitfaden stellen wir in Form von Bausteinen dar. Damit möchten wir einerseits einen Baukasten für Lerngruppen erstellen, mit dem sie je nach Forschungsinteresse einzelne Methoden für Projekte auswählen und zu einem eigenen Methodensetting zusammenfügen können. Andererseits möchten wir mit den Bausteinen an die Prinzipien der Geschichtswerkstätten8 anknüpfen, die seit den 1980er Jahren die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte zum Gegenstand haben, worauf wir im Kapitel Die historische Exkursion als Metamethode noch etwas ausführlicher eingehen. Die vorgestellten Methoden können im Rahmen von Projekten angewendet werden, um Geschichte oder historische Narrative „von unten“ und im direkten Lebensumfeld der Menschen zu erforschen. Im Workuta-Projekt wendeten wir folgende vier Methoden an, die wir nun vorstellen werden: Topografieanalyse, Museumsanalyse, Zeitzeugeninterviews sowie interkulturelle Reflexion. Die historische Exkursion stellen wir darüber hinaus als Metamethode vor. Alle Bausteine bestehen aus einer theoretischen Einführung zur wissenschaftlichen Grundlage der Methode, aus Arbeitsblättern in Form von Kopiervorlagen, aus praktischen Hinweisen zur Umsetzung sowie aus knappen Evaluationen und Reflexionen. Letztere basieren auf dem Feedback der Projektteilnehmenden, das wir während des Projekts und in der ausführlichen Evaluationsrunde erhielten, auf dem abwechselnd geführten Exkursionstagebuch sowie auf den Projektberichten, die alle Teilnehmenden nach Abschluss des Projektes verfassten. Wir spre7 8

Michael Sauer, Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze-Velber 92010, 140. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg/Galerie Morgenland (Hrsg.), Geschichtswerkstätten gestern – heute – morgen. Bewegung! Stillstand. Aufbruch? München, Hamburg 2004 (Hamburger Zeitspuren, 2).

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chen hauptsächlich Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der historischpolitischen Jugend- und Erwachsenenbildung an, denen wir einen schnellen und leicht verständlichen Zugang sowie eine zielgerichtete Einarbeitung in unterschiedliche Methoden ermöglichen wollen. Die vielfältigen Arbeitsblätter, Arbeitshilfen und Kopiervorlagen, die unter Materialien jeweils am Kapitelende der Methodenbausteine gebündelt wurden, sind als Hilfestellung für die einzelnen Arbeitsschritte der vorgestellten Methoden gedacht. Bisher konzentrierten sich methodische Beschreibungen hauptsächlich auf Unterrichtsmethoden für die Schule, auf größer angelegte, historische Studien oder nur auf eine der hier ausgewählten Methoden. Lediglich der Sammelband Spurensucher von Lothar Dittmer und Detlef Siegfried9 vermittelt auf praktische Weise vielfältige Methoden für die lokalgeschichtliche Projektarbeit. Abgesehen davon, dass sein Schwerpunkt auf anderen Methoden liegt – Museums- und Topografieanalyse sowie interkulturelle Reflexion werden nicht behandelt –, reduzieren die Autorinnen und Autoren jedoch die Komplexität der Methoden so stark, dass eine zumindest ansatzweise wissenschaftlich fundierte Arbeit nicht mehr möglich ist, was wir für sehr problematisch halten, gerade im Bereich Zeitzeugenbefragung. Mit dem vorliegenden Exkursionsleitfaden unternahmen wir den Versuch, direkte Anwendungsmöglichkeiten der beschriebenen Methoden für Projekt- und Werkstattarbeiten aufzuzeigen. Der vorliegende Exkursionsleitfaden spiegelt an verschiedenen Stellen die Resultate unseres interkulturellen Projektes wider, das zwei Kulturen in Kontakt treten ließ, um äußerst umstrittene Themen im grenzüberschreitenden Dialog zu bearbeiten. Die Schwierigkeiten, aber auch den Erkenntnisgewinn erlebter Pluralität konnten alle am Projekt Beteiligten erfahren. Wir hoffen nun, dass wir interkulturell ausgerichteten Projekten mit diesem Exkursionsleitfaden Hilfestellungen bieten können. Bevor wir in grundlegende Überlegungen über Erinnerung und Erinnerungskulturen einführen, stellen wir an dieser Stelle das Workuta-Projekt näher vor.

Das Workuta-Projekt Das Workuta-Projekt fand von März bis Oktober 2010 als internationales Kooperationsprojekt zwischen der Technischen Universität Dresden und der Orenburger Staatlichen Universität (Russland) statt. Vier Dresdner und fünf 9

Lothar Dittmer/Detlef Siegfried (Hrsg.), Spurensucher. Ein Praxisbuch für die historische Projektarbeit. Hamburg 2005.

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Orenburger Studierende beschäftigten sich in arbeitsintensiven Vor- und Nachbereitungsseminaren mit der Erinnerungskultur in Russland und speziell mit den Erinnerungen in der russischen Stadt Workuta, die während einer zwölftägigen Exkursion nach Moskau und Workuta analysiert wurden. Es ging im beschriebenen Projekt nicht um die Suche nach Überresten und Quellen, die über den GULag oder die „goldenen Jahre“ Auskunft geben, sondern wir untersuchten, wie eingangs erwähnt, die Erinnerungen an diese Zeit, die in Workuta in unterschiedlichen Narrativen (Erzählungen über die Vergangenheit) vorhanden sind. Daher standen neben Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Expertinnen und Experten auch Ausstellungen, Denkmäler und der authentische historische Ort im Fokus der Untersuchung. Um all diese Erinnerungsorte10 zu untersuchen, bildeten wir drei Arbeitsgruppen, die anhand je einer Methode mehrere Tage lang im Feld forschten. Die Arbeitsgruppe, die sich mit der Topografieanalyse beschäftigte, dokumentierte Orte in der Stadt Workuta und ihrem Umland. Anhand eines selbst erstellten Analysekataloges dekonstruierte diese Gruppe verschiedene Gedenkorte und ordnete sie in ihren historischen und gesellschaftlichen Kontext ein. Die Gruppe der Museumsanalyse untersuchte die 1989 eröffnete Dauerausstellung im Workutiner Überregionalen Heimatkundemuseum11 über den GULag sowie die Ausstellung über die Geschichte des Unternehmens Workuta-Ugol (Workuta-Kohle)12 in dessen Betriebesmuseum. Ein im Vorfeld entwickelter Beobachtungskatalog unterstützte die Studierenden, die Aussagen der Ausstellungen sowie die musealen Medien und Hilfsmittel zu dekonstruieren. Die Gruppe der Zeitzeugenbefragung führte Interviews, um die im kommunikativen Gedächtnis (siehe Unterpunkte Erinnerung und Erinnerungskultur) verankerten Erinnerungen aufzuzeichnen. Dabei reflektierte diese Arbeitsgruppe die spezifische Problematik der Zeitzeugenbefragung. Leider ist es nicht gelungen, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des GULags zu interviewen. Unser Augenmerk lag daher auf den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Workutas der 1960er bis 1980er Jahre. Im Rahmen der Vorbereitungsseminare des Projekts entwickelten alle Teilnehmenden gemeinsam teilstrukturierte Leitfäden für diese qualitativen Interviews. Neben der Feldforschung in Workuta selbst hatte die Exkursion drei weitere integrative Bestandteile: die je 40-stündige Hin- und Rückfahrt von Moskau 10

An dieser Stelle knüpften wir an das Konzept der lieux de mémoire von Pierre Nora an, das wir im Unterpunkt zu Erinnerung und Erinnerungskultur näher erläutern. 11 Virtuelles Museum des GULags, unter <http://www.gulagmuseum.org/showObject. do?object=310598>. 12 Workuta-Ugol, unter <http://www.vorkutaugol.ru>.

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nach Workuta mit dem Zug, die Kooperation mit der russischen NGO Memorial 13 sowie die Beobachtung der Moskauer Feierlichkeiten anlässlich des 65. Jahrestages des Sieges der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg am 9. Mai. Nicht zuletzt durch das Erleben dieses Kristallisationspunktes russischer Erinnerungskultur und aufgrund der interkulturellen Zusammenarbeit im Projekt konnten die jeweiligen erinnerungskulturellen Erfahrungen und Prägungen der Teilnehmenden zusammengeführt und diskutiert werden.

Teilnehmende des Projektes in Workuta (Foto: Dom).

Um die theoretische Ausrichtung des Workuta-Projektes besser zu verstehen, folgen an dieser Stelle grundlegende Gedanken über Merkmale und Charakteristika des Erinnerungsprozesses sowie über Erinnerungskulturen.

13 Memorial wurde 1988 als erste Nichtregierungsorganisation in der Sowjetunion gegründet und besteht bis heute aus über 80 lokalen, nationalen und internationalen Verbänden. Das Ziel Memorials ist die Aufarbeitung politischer Gewaltverbrechen, besonders des GULags. Ihre engagierten Aktivistinnen und Aktivisten arbeiten in den Bereichen der sozialen Fürsorge, der Menschenrechte, der Erforschung und Dokumentation politischer Verbrechen sowie der Erinnerung an diese. Memorial, unter <www.memo.ru>.

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Erinnerung und Erinnerungskultur Die Auseinandersetzung mit der Erinnerung beruht auf den theoretischen Konzepten von kollektiver Erinnerung und kollektiver Identität. Diese greifen auf die grundlegenden Überlegungen von Maurice Halbwachs14 zum kollektiven Gedächtnis zurück, die von Aleida und Jan Assmann15 erweitert wurden. Das Gedächtnis ist die Voraussetzung für Erinnerung, es muss als „Kollektivbegriff für angesammelte Erinnerungen, als Fundus und Rahmen für einzelne memoriale Akte und Einträge“16 aufgefasst werden. Erinnerung ist hingegen ein dynamischer Vorgang, durch den Gedächtnis aktualisiert und Vergangenes in die Gegenwart zurückgeholt wird.17 Es wird genau das erinnert, was unserer Perspektive, unserer Wahrnehmung, unseren Bedürfnissen und Emotionen entspricht.18 Die Schwierigkeit bei der Untersuchung dieser Prozesse ist die mangelnde Kontrolle über das ursprünglich Erlebte zum einen sowie das vielfach große Vertrauen in die eigene Erinnerung zum anderen. Inwiefern sie „richtig“ oder „falsch“ ist, kann in der Regel nicht mehr nachvollzogen werden. Beispielsweise kann ein Grund für trügerische Erinnerungen auf Quellenverwechslungen zurückgeführt werden, was Untersuchungen aus der Gedächtnispsychologie zeigen. Folgendes Beispiel aus der Gegenwartsliteratur soll dies verdeutlichen. Jana Hensel als Zeitzeugin der Montagsdemonstrationen in Leipzig hält in ihrem Roman Zonenkinder folgenden Satz fest: „Ich weiß selbst nicht mehr genau, was ich mit eigenen Augen und was ich, an diesem Abend zum ersten und dann unzählige Male später in den Tagesthemen sah“19. Ob die Quelle ihres Erinnerungsbildes die eigene Anschauung war, oder die Übermittlung der Ereignisse im Fernsehen, weiß sie nicht mehr. Gerade bei fragmentartigen Erinnerungen, beispielsweise an Kindheitserlebnisse, ist eine sichere Unterscheidung kaum mehr möglich. Tatsächlich Erlebtes kann also durch sich wiederholende Darstellungen und Interpretationen überformt werden. Stammen Erinnerungen aus einem Buch, einem Film, einer Erzählung, von einem Erlebnis oder gar aus der 14 15 16 17 18 19

Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M. 1991. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 52010. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und kulturelle Identität in frühen Hochkulturen. München 62007. Assmann, Erinnerungsräume, 35. Ebd., 37. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, 181. Jana Hensel, Zonenkinder. Reinbek 2002, 12.

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Fantasie? Die Zuschreibung zu einer dieser Quellen ist kein Gedächtnisprozess, sondern ein Entscheidungsprozess, der in der Gegenwart stattfindet.20 Das kollektive Gedächtnis setzt sich aus dem kulturellen und dem kommunikativen Gedächtnis zusammen. Während das kulturelle Gedächtnis Traditionen in Form von Texten, Bildern und Riten über Generationen hinweg bewahrt, bezeichnet das kommunikative Gedächtnis die mündliche Weitergabe von persönlichen Erinnerungen. Es ist auf ungefähr drei Generationen begrenzt und stirbt mit seinen Trägern.21 Erinnerungen, auch persönlicher Art, entstehen also nur durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen. Dadurch kann die Vorstellung von Gemeinsamkeit entstehen. Jan Assmann beschreibt dieses Phänomen mit dem Begriff der kollektiven Identität als „das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren“.22 Für die Konstruktion von Identitäten ist der Rückgriff auf eine „reale“ oder auch „erfundene“ Vergangenheit von unüberschätzbarer Bedeutung, denn kollektives Erinnern ist der Ausgangspunkt für die Entstehung einer Kollektividentität. Durch die geteilte Aktualisierung von vergangenen Erfahrungen in Geschichten oder Ritualen (wie Jahres- und Gedenktagen) schaffen sich Gruppen eine überindividuelle Identität. Diese kann von außen gesteuert werden, indem ausgewählte Episoden der Vergangenheit eine geschichtspolitische Deutung erfahren.23 Dadurch entstehen dominierende Erzähl- und Betrachtungsweisen (Masternarrative), die wiederum die Sichtweisen einzelner Gruppenmitglieder prägen. Die politische Brisanz und Gefährlichkeit besteht darin, dass sich im kollektiven Gedächtnis einer Gemeinschaft ein bestimmtes Masternarrativ zu einem ideologischen Fundament erhärten kann, um bestehende Machtverhältnisse zu legitimieren oder zu delegitimieren.24 In diesem Prozess werden besonders auch die Mechanismen der historischen Bildung und Erziehung benutzt. Wie Pierre Nora herausgearbeitet hat, kristallisieren sich kollektive Erinnerungen an bestimmten Erinnerungsorten (lieux de mémoire), die als Metapher verstanden und als Orte (loci) nur im weitesten Sinne betrachtet werden 20

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Melanie Caroline Steffens, Wie trügerisch ist die Erinnerung? Antrittsvorlesung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2005, unter <http://dtserv1.compsy.uni-jena.de/ ws2005/psychnf_uj/95741853/content.nsf/Pages/51DFA8E768B37550C12570EC00 569D77/$FILE/V9%20AntrittsvorlesungText.pdf>. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 50. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung. Stuttgart 2005. Assmann, Erinnerungsräume, 132. Ebd., 41. Ebd., 129.

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dürfen.25 Diese Orte rufen die Erinnerungsbilder einer Gruppe ab und können geografische Orte, Gebäude, Denkmäler, Kunstwerke, aber auch Persönlichkeiten, Gedenktage, wissenschaftliche Texte oder symbolische Handlungen sein. In Frankreich zählen dazu beispielsweise Paris, Versailles, der Eiffelturm, aber auch Jeanne D’Arc, die französische Flagge, der 14. Juli und die Marseillaise. An diesen Orten kristallisiert sich die kollektive Erinnerung einer Gemeinschaft heraus, zumeist in von Menschen geschaffener Form.26 Eine zusätzliche Bedeutung bekommen Erinnerungsorte dort, wo sich umstrittene und konkurrierende Erinnerungen festmachen, besonders in multiethnischen Räumen oder territorial umstrittenen Gebieten. Unter dem Begriff der Erinnerungskultur wird der Frage nachgegangen, wie eine Gesellschaft oder eine Gruppe damit umgeht, Teile der Vergangenheit in ihrem Bewusstsein zu behalten und in bestimmten Situationen in die Gegenwart zu holen. Geprägt werden Erinnerungskulturen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse sowie ihre Probleme, Auseinandersetzungen und Diskurse. Kulturelle Erinnerungsprozesse hängen entscheidend davon ab, wer die Hoheit über die Erinnerung hat und durch welche Interessen sie dominiert werden.27 Erinnerungskulturelle Fragen sind gerade in grenzüberschreitender Perspektive und besonders zwischen den Ländern von großer Brisanz, die im Kalten Krieg ideologisch unterschiedlich geprägt wurden.28 Zwischen Deutschland und den Ländern Mittel- und Osteuropas, die im 20. Jahrhundert Kriegs-, Gewalt- und Zwangserfahrungen erlitten, können heute erinnerungskulturelle Spaltungen auftreten. Die jeweilige Öffentlichkeit definiert die Zugehörigkeiten zu Täterinnen und Tätern beziehungsweise Opfern sowie zu Siegerinnen und Siegern beziehungsweise Besiegten. Diese geschichtspolitischen Zuschreibungen wirken seit der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart hinein und können heute in gegenseitige Konkurrenz treten. Diese zu erkennen und den grenzüberschreitenden Dialog über nationalstaatliche Narrative anzuregen, sind Ziele interkultureller Projektarbeit.

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Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/M. 1998. Ders. (Hrsg.), Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005. 26 Étienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. München 2001, 5. 27 Erll, Kollektives Gedächtnis, 34 f. 28 Stefan Troebst, Postkommunistische Erinnerungskulturen im östlichen Europa. Bestandsaufnahme, Kategorisierung, Periodisierung, in: Hans-Joachim Giessmann (Hrsg.), Europa, Polen und Deutschland. Baden-Baden 2005, 7-32.

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Zum Inhalt Der Exkursionsleitfaden beginnt im Kapitel Kompetenzförderung durch Lernerfahrungen mit didaktischen Überlegungen zur Kompetenzförderung in der historischen und interkulturellen Bildungsarbeit. Dabei gehen wir auf die Frage ein, durch welche Grunderfahrungen im historischen und interkulturellen Lernen Kompetenzen gefördert werden können. Die hier beschriebene Kompetenzförderung dient den nachfolgenden Methodenbausteinen als didaktischer Ansatz. Anschließend verorten wir im Kapitel Die historische Exkursion als Metamethode das historische Lernen räumlich. Exkursionen haben das Potential, den Raum zu erschließen, der einerseits von den Teilnehmenden erfahren wird, aber gleichsam auch die Identifikationsprozesse seiner Bewohnerinnen und Bewohner maßgeblich prägt. An dieser Stelle greifen wir verschiedene Elemente des Workuta-Projektes auf, wie die Zugfahrt von Moskau in die Polarregion, das Durchschreiten des ehemaligen Lagergeländes und damit auch der heutigen Stadt Workuta sowie des Kohlereviers und der Topografie der sozialistisch geprägten Stadt. Methodenbaustein A: Topografieanalyse hat zum Ausgangspunkt, dass Topografien und speziell Gedenkorte ein starkes Potential zur Schaffung kollektiver Identitäten aufweisen. Wir stellen Zugänge vor, um diese Orte zu erschließen, zu dokumentieren und im Kontext ihrer Umgebung und ihrer Erinnerungskultur zu analysieren. Gedenkorte begreifen wir dabei als spezielle Lernorte. Die Arbeitsblätter für diesen Methodenbaustein beinhalten Beobachtungs- und Fragenkataloge, mit deren Hilfe Gedenkorte beschrieben und hinterfragt werden können. Sie dienen als Kopiervorlage für die Arbeit des Forschungsteams im Feld. Darüber hinaus führen sie bestimmte Punkte auf, zu denen Recherchen angestellt werden können, beispielsweise in Archiven, Bibliotheken, im Internet oder durch Befragungen von Sachkundigen. Im Methodenbaustein B: Museumsanalyse beschreiben wir interdisziplinäre Zugänge und Vorgehensweisen zur Analyse von Museen und Ausstellungen. Wir zeigen Wege und Möglichkeiten auf, um die Aussagen von denjenigen Akteurinnen und Akteuren zu dekonstruieren, die Ausstellungen initiieren, konzipieren und finanzieren. Die Projektteilnehmenden können anhand einer Museumsanalyse letztlich neue Sichtweisen über die Hintergründe von Darstellungen und Deutungen der Vergangenheit gewinnen. Wir stellen in Form von Arbeitsblättern (Kopiervorlagen) Beobachtungsund Fragenkataloge vor, um Museen zu dechiffrieren. Während einer Museumsanalyse kann ein Forschungsteam mithilfe der Kopiervorlagen die

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vorgestellten Fragen beantworten und Beobachtungsnotizen festhalten. Darin sind auch Fragen enthalten, die an das Museumspersonal gestellt werden können. Die Arbeitsblätter sollen die Forschenden dabei unterstützen, ihre Aufmerksamkeit auf relevante Aspekte des Museums zu richten. Den Methodenbaustein C: Zeitzeugeninterviews gliederten wir aufgrund der komplexen Methode in einen Theorieteil A und einen Praxisteil B. Wie unsere Erfahrungen im Workuta-Projekt nochmals bestätigten, braucht es eine ausführliche Einführung in die Grundlagen der Oral History und der qualitativen Sozialforschung sowie der Interviewmethoden. Anhand kleiner Übungen, Textbeispielen und Graphiken versuchten wir, diesen „trockenen“ Teil aufzulockern und Anregungen für eine anschauliche Vermittlung zu geben. Im Praxisteil, der mit verschiedenen Arbeitsblättern und Kopiervorlagen versehen ist, halten wir Tipps zum Finden von Interviewpartnerinnen und -partern sowie Anleitungen zur Wahl der Interviewformen und -methoden, zur Erstellung eines Interviewleitfadens und zur konkreten Interviewdurchführung bereit. Schließlich stellen wir ein Transkriptions- und Auswertungsverfahren vor. Wie mithilfe von Zeitzeugeninterviews immaterielle und materielle Erinnerungsorte, Lebensgeschichten und individuelle Sinnstiftungsmuster untersucht werden können, stellen wir anhand von Beispielen aus dem Workuta-Projekt anschaulich dar. Schließlich ermöglichen wir durch Kopiervorlagen zu Frageformen und -stilen, einem Voroder Nachfragebogen, Postscript, Fallexcerpt sowie einem Informationsflyer das praktische Üben und zielführende Vorbereiten dieser Methode. Im Methodenbaustein D: Interkulturelle Reflexion erläutern wir, wie durch eine interkulturelle Reflexion tiefe Einsichten in Logiken von Geschichtsdeutungen und Erinnerungskulturen gewonnen werden können. Ausgangspunkt dieser Methode und zentrales Kennzeichen von Diskussionen in interkulturell zusammengesetzten Projektgruppen sind Grenzerfahrungen, die zu einem Kommunikationsabbruch führen können. Wir stellen einen Ansatz vor, der interkulturelle Erfahrungen und Reflexionen im Kernbereich des historischen Lernens verortet und mit dem ein grenzüberschreitender Dialog über Erinnerungskulturen und nationalstaatliche Geschichtsnarrative angeregt werden kann. Zur Umsetzung von interkulturellen Reflexionen stellen wir Methoden aus der interkulturellen, historischen und politischen Bildung vor, die wir auf jeweils einem Arbeitsblatt beschreiben. Diese Arbeitsblätter geben Hinweise zu den Zielen, zur Umsetzung und zur Auswertung der jeweiligen Methoden. Das in den Arbeitsblättern beschriebene Rollenspiel sowie das Lernen an Stationen werden durch Kopiervorlagen mit Spielanleitungen beziehungsweise Blättern zur Durchführung ergänzt.

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