agora42 1/2017 Der Kapitalismus auf der Couch

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 01/2017

DER KAPITALISMUS AUF DER COUCH

A G O R A Ausgabe 01/2017 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

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INHALT

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A

—3 EDITORIAL —4 INHALT

ANALYSE Wie tickt der Kapitalismus? Eine systematische Untersuchung in vier Sitzungen

—8 DIE AUTOREN —9 Tanja Will

Der Kapitalismus auf der Couch — 94 MARKTPLATZ

Kreatives Unbehagen

— 11 Christian Schüle

Sitzung 1 – Der depressive Patient — 18 Walter Ötsch

— 98 IMPRESSUM

Titel: Anna Poetter "Gold-Brain", Blattgold 23,5 Karat

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Sitzung 2 – Die Widersprüche des Mr. Perfect

— 24 Lars Distelhorst

Sitzung 3 – Untherapierbar?

— 30 Bernd Villhauer

Sitzung 4 – Vollkommener Realitätsverlust


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Inhalt

I

INTERVIEW

M M E TA M O R P H O S E Aus dem System heraus: Der Kapitalismus verwandelt sich

— 54 DIE AUTOREN — 55 John Maynard Keynes

Das Ende des Laissez-Faire

— 36 Der Kapitalismus ist ein totales System

Interview mit Ulrike Herrmann

— 80 VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN

Die Thales-Akademie im Gespräch mit Susanne und Kai Henkel von der Richard Henkel GmbH

— 60 Anna-Verena Nosthoff / Felix Maschewski

LAND IN SICHT — 88

— 66 Jens Böttcher

— 90

Endnoten zum Kapitalismus

Der falsche Gott — 72 Wolfram Bernhardt

Ruhe und Ordnung

Die Genossenschaftliche Allgemeine Zeitung Reparieren statt Produzieren — 92 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

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DIE AUTOREN

© Foto: Janusch Tschech

© Foto: Markus Röleke/Droemer-Knaur

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Tanja Will

Christian Schüle

Walter Ötsch

studierte Soziologie, Ethnologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Sie ist stellvertretende Chefredakteurin der agora42.

ist freier Autor und Publizist und lebt in Hamburg. Seit Anfang 2015 lehrt er im Fachbereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Zuletzt von ihm erschienen:

ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte am Institut für Ökonomie an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues. Im Frühjahr 2017 wird seine Studie Netzwerke „des Marktes“. Ordoliberalismus als Politische Ökonomie erscheinen.

Verlag, 2015).

— Seite 18

— Seite 9

Was ist Gerechtigkeit heute? Eine Abrechnung (Pattloch A N A L Y S E

— Seite 11

Lars Distelhorst

Bernd Villhauer

ist Professor für Sozialwissenschaft an der Fachhochschule Clara Hoffbauer Potsdam.

ist Geschäftsführer des Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen. Für agora42 schreibt er regelmäßig die Blogkolumne „Finanz & Eleganz“.

— Seite 24

— Seite 30

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A N A L Y S E

Der Kapitalismus auf der Couch — Text: Tanja Will

Kapitalismus – was ist das überhaupt? Ein System? Eine Überzeugung? Ein Trugbild? Es ist jedenfalls ein Begriff, den man jahrzehntelang gemieden hat und der nun wieder salonfähig geworden ist. Er kommt zurück auf die Bühne einer Welt, die nicht mehr so funktioniert, wie sie es einmal tat; er kommt zurück in eine Zeit, in der man kopfschüttelnd auf die Vergangenheit zurückblickt, die mittlerweile als Entstehungsgeschichte einer Krise wahrgenommen wird. Wer vom Kapitalismus spricht, meint einen äußerst bedenklichen Zustand, in den wir uns im blinden Glauben an eine rein materielle Welt, planbares Glück und klar definierbare Ziele hineinmanövriert haben. Das Gefühl, dass es so nicht weitergeht, ist es, dass Rechte mit Linken, Extremisten mit Depressiven, Aktivisten mit Fatalisten verbindet. Aber was ist mit diesem so gemeint? Der Kapitalismus ist kein klar umgrenzter Gegenstand, den man einfach betrachten kann, kein Parteiprogramm, keine Finanzformel, kein Geldstück. Er ist abstrakt, ungreifbar, subtil, unterbewusst und doch überall präsent. Man fühlt ihn mehr, als dass man ihn sieht. Und jeder

empfindet ihn ein Stück weit anders. Nur: dass er Probleme bereitet, darin sind sich immer mehr Menschen einig. Die Kraft zur notwendigen Veränderung – und wir sprechen hier von einer tiefgreifenden Veränderung – kann nur aufgebracht werden, wenn der Großteil der Bevölkerung die Probleme nicht nur definieren kann, sondern auch den Willen zur Veränderung spürt. Aber wo ist der geblieben? Es gibt zwei Herangehensweisen, mit denen der Mensch versucht, die Dinge um sich herum zu verstehen: die rationallogische und die einfühlend-emotionale. Heutzutage wird das rational-logische Verstehen überstrapaziert. Es wird immer noch versucht, Kapitalismus als eine Art Mechanik zu begreifen. Subjektivität gilt als unsouverän, die Feststellung objektiver Gegebenheiten und die Formulierung von abstrakten Gesetzmäßigkeiten hingegen als brillant. Zeitungen, Magazine und wissenschaftliche Studien verketten Argumente und führen den Leser entlang roter Fäden zu widerspruchsfrei gültigen Schlüssen. Solcherlei Schlüsse gibt es viele, nur: leidenschaftslos beziehungsweise 9


Tanja Will

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A N A L Y S E

sachlich, wie sie sind, helfen sie rein gar nichts. Diskutieren wird zum Selbstzweck, der der Veränderung im Weg steht. An diesem Punkt wird es Zeit für Gefühle, oder, wem das zu kitschig klingt, für das einfühlend-emotionale Verstehen. Es wird Zeit dafür, endlich wieder den eigenen Antrieb zu aktivieren. Und es wird Zeit für eine vernachlässigte Form der Sprache, mittels derer die Empfindungen ausgedrückt werden können: die Erzählung. Die folgende handelt von einem Patienten, der uns alle bewegt: Herrn K. Er landet – erschöpft und perspektivlos – auf der Couch und spricht über sein Leben. Seine Probleme sind die Probleme der endkapitalistischen Welt, seine Krise die Krisen der heutigen Zeit. In ihm verkörpert sich die allerorten gestellte Frage nach dem „Was nun?“, der Hilferuf der orientierungslosen Gesellschaft. Wir begegnen uns selbst. Herrn K gegenüber steht der Therapeut, der tiefe Einblicke in den Zustand des Patienten erhält. Vor ihm liegen unzählige Belege des Scheiterns. Er erkennt den Wahnsinn und spürt den Drang nach Veränderung – und bleibt doch hilflos. Eine Ohnmacht, die wir ebenfalls alltäglich spüren. Der Kapitalismus ist am Ende. Und wir sind mit unserem Latein am Ende.

Der Analyse folgt die Therapie – üblicherweise. Den Kapitalismus zu therapieren, würde aber bedeuten, hier und dort etwas auszubessern, abzustützen und auszugleichen, ohne den Kern des Problems je zu erreichen. Kurzum: Es geht nicht mehr darum, einen besseren, menschlicheren oder gerechteren Kapitalismus zu gestalten. Er wird auch nicht schöner, wenn man ihm Blumen ansteckt. Aus diesem Grund wurde dem Patienten im letzten Teil der vorliegenden Ausgabe keine Therapie verordnet, sondern seine Metamorphose eingeleitet. Dieser wundersame und doch in der Natur häufig anzutreffende Vorgang zeigt, dass der Übergang einer Gestalt in eine gänzlich andere möglich ist. Der genaue Moment der Wandlung bleibt dabei oft verborgen – und einmal vollzogen, entstehen unerwartete Gebilde, die nicht erkennen lassen, was ihnen einst vorausging. Weckt im Analyse-Teil dieser Ausgabe Patient K möglicherweise Assoziationen an Franz Kafka, so geht es im zweiten Teil auch um die Verwandlung der kapitalistischen Käfer, die wir sind, in so etwas wie … tja … Menschen. Freie Menschen. ■

Es wird Zeit für eine vernachlässigte Form der Sprache, mittels derer die Empfindungen ausgedrückt werden können: die Erzählung.

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Sitzung 1

A N A L Y S E

Der depressive Patient — Behandlungs-Protokoll: Systemische Therapie mit gestalttherapeutischen Anteilen

Text: Christian SchĂźle

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Christian Schüle

Allgemeiner Eindruck des Patienten

Patient K verhält sich auffallend auffällig. Er kann nicht still sitzen und springt unverhofft auf, um während des Gehens ohne Punkt und Komma zu reden. Mich nimmt er selten wahr, manchmal verschluckt er Silben. Fragen, die seinen Mitteilungsdrang unterbrechen, ignoriert er. Einwände sind in solchen Momenten nicht möglich. Eine klare Gedankenführung habe ich nicht bemerkt. K ist nervös, ungeduldig und vervollständigt meine Sätze, weil ich ihm, wie er sagt, zu schleppend rede. Permanent streichelt er mit dem rechten Daumen über das Deckglas seiner Armbanduhr. Mein Eindruck: Ks Leben ist ein streng getakteter Ablaufplan kurzfristiger Arrangements, die ständig koordiniert werden müssen. Sprachmemo 1

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K — Sie müssen in jedem Fall über Ihre Grenzen gehen, wissen Sie, es ist entscheidend, dass Sie immer Ihre Grenzen überschreiten, darin liegt der Sinn unserer Natur, ohne Grenzüberschreitung hätte das Leben ja keine … ICH — Sie meinen: hätte Ihr Leben. K — … Spannung. Mein Leben? Mein Leben ist gleichzusetzen mit dem Leben an sich. Wir befinden uns in einem permanenten Kampf! Da draußen ist Krieg, verstehen Sie? Da ist der Krieg der Wölfe! Da zählt fürs Überleben nur der Sieg. ICH — Fühlen Sie sich bedroht? K — Ich bin Top-Performer und die allermeisten da draußen sind Low-Performer. Top-Performer haben das Recht, allen anderen vorgezogen zu werden. Richtig, oder? Als Top-Performer brauchen Sie die besten Umstände, um sich entfalten zu können. Ohne Steigerung führt sich das System selbst in die Grütze, weil es die eigenen Reproduktionskräfte hemmt: Es bleibt stehen, und alles, was stehen bleibt, ist tot. Das ist unbestreitbar!

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Notat 1

Der Frage, ob er sich vor einem Leben ohne Spannung und Belohnung fürchte, entgegnet K gereizt, Furcht sei etwas für die Zukurzgekommenen! Das Prinzip der Selbstüberschreitung habe er bereits in seiner Jugend als vorteilhaft erkannt und ausgelebt. Es treibt ihn an, erregt ihn, bringt ihm Lust. K ist vollends abhängig von der Bestätigung und Aufmerksamkeit anderer, die er als Bewunderung missversteht. Er verneint meine Frage, ob ihm ein Mensch gleichwertig sein könne. Wert hat für ihn nur, was ihn von allen anderen abhebt, vor allem im direkten Vergleich: Der Bonus ist für ihn die höchste Form der Unterscheidung und Wertschätzung seiner Person. Er ist ein Fetisch, auf den sich Ks LibidoEnergie konzentriert. Als ConsultantManager einer großen Media-Agentur entwickelt K Produkte, die ihn nicht interessieren. Sein einziges Interesse ist die Beschleunigung der Produkt-Platzierung und der Vorteil, den er dadurch hat. „Wer Bedürfnisse kreiert, Menschen zu deren Befriedigung stimuliert und ihre Lust dann mit passgenau entwickelten Produkten befriedigt“, sagt er, „habe niemals Feierabend.“ K hat den Ehrgeiz, höhere Quoten zu erzielen als die anderen Abteilungen seines Unternehmens; er benutzt dabei das Wort „Spiel“. Durch seine Fixierung auf die Beschleunigung von abstrakten Abläufen wurde K von einer Steigerungslogik vereinnahmt, der er nicht mehr entkommen kann. Sie erlaubt ihm nur, entweder nach oben zu laufen oder nach unten zu fallen. Eine andere Möglichkeit sieht er nicht. K ist Gefangener im eigenen Panoptikum: Er hat zwischen sich und die Realität eine doppelseitig spiegelverglaste Trennwand eingezogen. In den Spiegeln sieht er nur sich selbst.


Sitzung 1 – Der depressive Patient

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MASTER OF ARTS PHILOSOPHIE POLITIK WIRTSCHAFT

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Sitzung 2

A N A L Y S E

Die Widersprüche des Mr. Perfect — Berechnung, Beherrschung, Perfektion

Text: Walter Ötsch

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Ist eine Therapie möglich?

Der Patient schwankt erheblich in seiner Selbstwahrnehmung: Manchmal ist er sich der Tatsache bewusst, dass er Probleme hat, dann wieder nicht. Es ist für mich äußerst schwierig herauszufinden, wie stark der Patient leidet. Wenn ich ihn zu seiner Lebensgeschichte befrage, malt er ein harmonisches Bild. Er berichtet von angenehmen Ereignissen und wirkt aufgeräumt. Oft gerät er ins Schwärmen. Er erzählt von seinen Erfolgen. In den letzten Jahrzehnten sei er stetig gewachsen. Der Gedanke, dass er immer stärker und mächtiger geworden ist, scheint ihn lebendig zu machen. Begeistert erzählt er, wie er seinen Einflussbereich immer weiter ausdehnen konnte. In der ganzen Welt reist er herum, in allen Ländern ist er präsent. Er redet von sich, als ob er alles erreichen könnte. Aber warum wünscht sich mein Patient eine Therapie, warum liegt er auf der Couch? Kann man überhaupt hinter die Oberfläche seiner Großartigkeit dringen, kann er einen Zugang zu seinem Unbewussten finden? Kann die „Redekur der Psychotherapie“ in seinem Fall hilfreich sein? Als Therapeut weiß ich: Reden alleine genügt nicht. Der Patient braucht vielmehr eine spezifische Art des Redens, die ihm Einsicht vermitteln und ihn nachdenklich machen soll. Denn es fällt dem Patienten leicht, zu sprechen und sich darzustellen. Er redet viel und er redet laut. Ich ließ ihn länger reden und unterbrach ihn nicht. Kam er ins Stocken, ermunterte ich ihn weiterzureden.

Selbst-Bilder

Nach einiger Zeit erreichte der Patient einen Zustand, den er als ungewohnt empfand. Er fühle sich, so sagte er, wie in Trance. Jetzt redete er langsamer, ruhiger, mit schleppenden Gesten. Er wirkte wie ein Schlafwandler. Auf einmal wollte er wissen, was mich an ihm interessierte. Was würde ich von seiner Erzählung halten? Wie würde sie auf mich wirken? Der Patient befragte den Therapeuten – ein Versuch, die Rollen zu tauschen. Ich machte eine längere Pause und leitete ihn ruhig an, sich noch mehr zu entspannen: Er sollte an sich selbst denken und sich dabei die vielen angenehmen Dinge in Erinnerung rufen, von denen er eingangs erzählt hatte. Wenn er sich diese vor Augen hielte: Welches Bild käme ihm da in den Sinn? Welche Metapher könnte ihn selbst in seiner Großartigkeit bildlich darstellen? Meine Fragen riefen beim Patienten Verwirrung hervor. Nach weiteren Versuchen beschrieb er stockend und zögernd, dann mit immer größerer Bewegtheit das Bild einer gigantischen Maschine. Vor seinem geistigen Auge erwuchs ein riesiges Gebilde, das bis zum Horizont reichte: ein Gewirr von Röhren, Hebeln, Kästchen, Gebäuden, Rädern, Förderbändern, Kabeln, Verbindungsstücken … Er sah eine gigantische Maschine mit bunten Farben und flackernden Lichtern. Die gewaltige Anlage knatterte und surrte vor sich hin, mit ungewohnten Tönen, manchmal lauter, dann wieder leiser, aber immer deutlich zu hören. Niemals kam sie zur Ruhe. Überall konnte er Bewegung erkennen, schnelle und langsame Rhythmen, abrupte Unterbrechungen und neue Takte. Obwohl die Maschine eine geschlossene Einheit darstellte, befand sie sich in ständigem Wachstum und in ständiger Veränderung. Manche Teile wurden entfernt, manche neu hinzugefügt – und doch blieb immer alles eng miteinander verbunden.

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Sitzung 2 – Die Widersprüche des Mr. Perfect


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Sitzung 3

Untherapierbar? —

A N A L Y S E

Wir drehen uns im Kreis

Text: Lars Distelhorst

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Sitzung 3 – Untherapierbar?

ES, ICH, ÜBER-ICH Sigmund Freud prägte ein Persönlichkeitsmodell, in dem zwischen „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ unterschieden wird. Das Es existiert von Geburt an und wird durch das Lustprinzip gesteuert: Wünsche, Bedürfnisse, Triebstrebungen drängen demnach auf sofortige Befriedigung. Die Vorgänge im Es verlaufen unbewusst. Das Über-Ich stellt das Gewissen und die Moral des Menschen dar. Es wird während der Erziehung durch die Verinnerlichung von gesellschaftlichen Werten und Normen gebildet. Das Über-Ich ist der Gegenspieler des Es. Das Ich ist der Vermittler zwischen dem triebhaften Es und dem moralisch-gebietenden Über-Ich. Es ist der Pragmatiker unter den drei Instanzen, die Instanz, welche die Realität im Blick hat.

ausgeprägten Über-Ich zurückzuführen waren (ein Überbleibsel der ihm vorhergehenden Ordnung), das ihn mit Schuldgefühlen traktierte, rechnete ich fest damit, die Seele meines Analysanden würde zur Ruhe kommen, falls es ihm gelänge, Fortschritt und Wohlstand für den Großteil der Bevölkerung zu bringen. Vor knapp 60 Jahren gelang ihm das schließlich. Doch von da an wurde es nur schlimmer statt besser. Nach einer kurzen Phase der Erleichterung und Zuversicht begann der Analysand zunehmend über Gefühle innerer Leere zu klagen, die sich mittlerweile zu einer so handfesten Depression ausgewachsen haben, dass es mir fraglich erscheint, ob diese sich noch therapieren lässt oder ihr Ende nur um den Preis seines eigenen Endes möglich sein wird. Diese Depression – und das ist ihr bemerkenswertester Zug – entpuppt sich zudem entgegen aller Logik als hoch ansteckend und betrifft mittlerweile breite Teile der Bevölkerung. Einer meiner Kollegen sprach hinsichtlich dieser Tatsache gar von der Pathologie der Normalität. Damit suchte er seiner Einschätzung Ausdruck zu verleihen, derzufolge das, was heute als normal gelte, realistisch betrachtet als Krankheitszustand gewertet werden müsste – was im Übrigen auch der Grund für die hohen Raten seelischer Erkrankungen in der Bevölkerung sei. Mehr und mehr tendiere ich dazu, der Aussage meines Kollegen zuzustimmen. Wie sonst sollte der bedenkliche seelische Zustand so vieler Menschen zu erklären sein? Zumal sich deren Wohlstand auf einem historisch hohen Niveau befindet – was doch eigentlich Anlass zur Freude ist. 25

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I

ch habe den Freud zugeschriebenen Spruch, auch nach 30 Jahren des Studiums der „weiblichen Seele“ (was auch immer das sein mag) sei ihm noch immer unklar, was Frauen eigentlich wollten, stets für eine seiner vielen sexistischen Bemerkungen gehalten. Mit Blick auf Herrn K aber, meinen hartnäckigsten Analysanden, wäre er durchaus berechtigt. Über 150 Jahre schlagen wir uns nun schon miteinander herum und ich werde nicht klug aus ihm. Oft habe ich darüber nachgedacht, ihm die Tür zu weisen, doch ich muss zugeben, dass es ihm zwischenzeitlich gelungen ist, mich einzuwickeln. In meine Praxis kam er damals, als er noch jung war – vor allem wegen seiner notorischen Schuldgefühle. Das Elend in den Arbeiterquartieren, zehnjährige Kinder mit Staublungen statt Schulbildung, Alkoholismus: Für alles fühlte er sich verantwortlich und war es wahrscheinlich auch. Zugleich erwarteten viele, vor allem jene, die von ihm profitierten, er würde ein Motor der Geschichte sein, den Menschen Fortschritt bringen und zumindest mittel- bis langfristig ihren Lebensstandard heben. Natürlich gab es da auch andere, die behaupteten, das Elend sei nicht eine vorübergehende Erscheinung, die mit wachsendem Fortschritt überwunden werden würde, sondern ganz im Gegenteil die Voraussetzung für den Erfolg meines Analysanden. Das setzte ihm wirklich zu, denn lange schien es, als würden diese Kritiker recht behalten. Er fühlte sich, als sei die Schlechtigkeit im Kern seiner Seele angelegt, als würde alles, was er anfasse, schließlich zur Verelendung breiter Teile der Bevölkerung beitragen. Es hätte mir damals schon auffallen sollen, das unter der Artikulation seiner Schuldgefühle eine merkwürdige Indifferenz verborgen lag; als würde er jemand anderen beobachten, dessen Gefühlen gegenüber er im Grunde gleichgültig war, auch wenn er diese Gleichgültigkeit durch Emphatie zu überspielen versuchte. Wie auch immer. Mittlerweile hat sich das Problem des Analysanden in eine gänzlich andere Richtung entwickelt, von der ich nicht wenig überrascht war. Da die Probleme, von denen Herr K in meine Praxis gedrängt wurde, vor allem auf einen Konflikt mit seinem damals noch stark


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Sitzung 4

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Vollkommener Realitätsverlust — »Ich wollt’, ich wäre Geld!«

Text: Bernd Villhauer

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icht immer können wir als Ärzte unseren Patienten helfen. Viel zu oft sehen wir hilflos zu, wie sich die Krankheit ausbreitet und das Gesamtbefinden immer schlechter wird. Unsere Hilflosigkeit bemänteln wir dann in beruhigenden Formeln, gerne in Latein oder Englisch. So erging es mir auch mit … nennen wir ihn aus Datenschutzgründen Patient K. Zunächst vermutete ich bei ihm nur leichte psychosomatische Beschwerden: Unwohlsein, Probleme mit dem Gleichgewicht (besonders auf langen Strecken), Verfolgungsängste, die sich mit manisch-depressiven Schüben abwechselten. Letzten Endes konnte ich ihm in der Gesprächstherapie – zweimal wöchentlich – nicht wirklich helfen. Es bestand auch die Gefahr, dass er gewalttätig würde, Ausbrüche hätte, in deren Verlauf er sich und anderen schaden könnte. So musste er leider eingewiesen werden, und nun stehen regelmäßige Besuche am Krankenbett an. Heute machte Patient K einen eher ruhigen Eindruck. Er scheint mittlerweile stabil zu sein. Das Fieber ist unter Kontrolle, für die Schwächeperioden sind Medikamente bereitgelegt, die Schmerzen haben nachgelassen. Der Herzschlag ist regelmäßig und alle Körperfunktionen werden auf den Monitoren mit Normalwerten angezeigt. Nur mit den Schulden scheint etwas nicht zu stimmen und die Luft im Zimmer ist so dumpf.

Es gab ja schlimme Zeiten, als er den Tod zu spüren glaubte: Kernschmelze der Banken, Atembeschwerden durch die Kohlenstoffwirtschaft, stockender Blutkreislauf durch Protektionismus, fehlende Innovationen, „Dizziness“ und Schläfrigkeit. Aber immer wieder wurde die Krise überwunden und neuer Mut gefasst. Auch diejenigen, die den Patienten nicht wirklich mögen und heimlich oder weniger heimlich, mit mehr oder weniger Genugtuung, seinen baldigen Tod prophezeiten, müssen zugeben, dass er nicht aufgegeben hat. Die Krankheiten und Gebrechen haben ihn sogar stärker gemacht und ihn gelehrt, auf neue Art Kräfte zu sammeln, neue Tätigkeiten zu finden und größere Träume zu träumen. Große Träume

Einer seiner schönsten Träume (oder war es eine Fieberfantasie?) hatte den Namen „Finanzialisierung“. Was war das für eine herrliche Vorstellung: in den Geldströmen und Akkumulationen leben und sich grenzenlos vermehren. Nicht mehr von der primitiven Materie abhängig sein, von Holz, Eisen oder Baumwolle. Keine Rücksicht mehr nehmen müssen auf regionale oder nationale Regeln und Befindlichkeiten. Das Geld sich selbst vermehren lassen – ohne störende Zwischenstationen. G-W-G: Geld wird über (an sich unwichtige) Waren wieder zu Geld – wunderbar. „Ich wollt’, 31

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Sitzung 4 – Vollkommener Realitätsverlust


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I N T E R V I E W

Der Kapitalismus ist ein totales System

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Interview mit Ulrike Herrmann

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Ulrike Herrmann

Frau Herrmann, noch vor wenigen Jahren war der Begriff Kapitalismus verpönt und wurde in der öffentlichen Diskussion gemieden. Wie erklären Sie sich, dass er heute wieder in aller Munde ist?

Ulrike Herrmann absolvierte eine Ausbildung zur Bankkauffrau und besuchte anschließend

Der Begriff Kapitalismus war verpönt, weil Marx und die Sozialisten ihn benutzten, um die wirtschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren. Die von Marx attackierten „Kapitalisten“ parierten diesen Angriff, indem sie sagten: „Es gibt gar keinen Kapitalismus. Wir haben eine Marktwirtschaft.“ Fortan galt der Begriff der Marktwirtschaft als sachlich korrekt und der Begriff Kapitalismus als ideologisch gefärbt. Mit dem Untergang des Sozialismus war diese Abgrenzung von Marx’ Theorie nicht mehr nötig. Hinzu kommt, dass sich mit dem Begriff Kapitalismus viel mehr fassen lässt als mit dem sehr engen Begriff der Marktwirtschaft.

die Henri-Nannen-Schule, wo sie sich zur Journalistin ausbilden ließ. An der Freien Universität Berlin studierte sie dann Geschichte und Philosophie. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungs-Senatorin Krista Sager, bevor sie 2000 zur tageszei-

Was ist eigentlich der Kapitalismus?

Der heutige Kapitalismus ist etwa 1760 in England entstanden, als in den Textilmanufakturen zum ersten Mal Maschinen eingesetzt wurden, um Arbeitskräfte zu ersetzen und die Produktivität zu steigern. Kapitalismus ist also ein System, das Wachstum erzeugt, indem Technik einsetzt wird. Auf der betriebswirtschaftlichen Ebene bedeutet das, genau wie von Marx beschrieben, dass Unternehmer in Maschinen investieren, um mehr Waren herstellen zu können und einen größeren Gewinn zu erzielen.

tung (taz) wechselte. Dort war sie zunächst Parlamentskorrespondentin und Leiterin der Meinungsredaktion. Seit 2006 ist sie Wirtschaftskorrespondentin der taz. Sie nimmt häufig an Diskussionen in Hörfunk und Fernsehen teil, unter anderem an der Fernsehsendung Presseclub und im Fernsehsender Phoenix. Zuletzt von ihr erschienen: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können (Westend Verlag, 2016); Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen (Piper Verlag, 2015).

Wirtschaftswachstum wurde also erst durch die kapitalistische Art und Weise zu wirtschaften in Gang gesetzt. Ist – umgekehrt – der Kapitalismus ohne Wachstum denkbar?

Es ist völlig klar, dass man in einer endlichen Welt nicht unendlich wachsen kann. Daher hat sich der Schweizer Ökonom Hans-Christoph Binswanger als Erster mit der Frage beschäftigt, ob sich das System so umbauen lässt, dass es noch kapitalistisch ist, aber trotzdem ohne Wachstum auskommt. Und seine pessimistische Antwort lautet: Nein. Denn ohne Wachstum würden die sogenannten „Investitionsketten“ reißen: Bremst man das Wachstum – was gar nicht so einfach wäre, aber angenommen, es würde gelingen –, dann müsste das einzelne Unternehmen davon ausgehen, dass es künftig keine Gewinne mehr erzielen kann. Dies hätte zur Folge, dass es nicht mehr investieren würde. Wenn aber die Investitionen ausbleiben, rutscht die gesamte Volkswirtschaft in eine chaotische Schrumpfungsspirale. Die Folgen wären dramatisch: Die Arbeitslosigkeit würde rasant steigen, und diese Perspektivlosigkeit könnte viele Wähler verleiten, sich für einen rechtsradikalen Populisten zu entscheiden. Es wäre also extrem riskant zu versuchen, das Wachstum einfach zu stoppen, ohne sich vorher genau überlegt zu haben, wie der Ausstieg aus dem Kapitalismus aussehen soll. 39

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Fotos: Janusch Tschech


Interview

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Doch das eigentliche Problem sind die Kredite, die sich die Banken gegenseitig gewähren. Was viele Menschen nicht wissen: Geld entsteht aus dem Nichts. Und zwar in dem Moment, in dem ein Darlehen vergeben wird. Dieser Mechanismus funktioniert problemlos, wenn die Kredite in die Realwirtschaft fließen, wenn also ein Haus gebaut oder eine Maschine gekauft wird. Gefährlich wird es, wenn die Banken sich gegenseitig Kredite gewähren, um Geld zu schöpfen – und dann mit diesem zusätzlichen Geld spekulieren. Dieses Jonglieren in den virtuellen Finanzwelten hat ein unerhörtes Ausmaß erreicht. Die Bilanz der Deutschen Bank ist ein Beleg für diesen Wahnsinn: Ende 2015 hatte die Deutsche Bank eine Bilanzsumme von 1,63 Billionen Euro. Den größten Posten machen bei ihr jedoch nicht die Kredite an normale Unternehmen, sondern die Geschäfte mit Derivaten aus: weit über 500 Milliarden Euro. Bei diesen Derivaten handelt es sich um reine Spekulationsgeschäfte mit einer Laufzeit von drei Monaten. Diese permanente Spekulation hat dazu geführt, dass alle wichtigen Preise extrem schwanken – Währungen, Zinsen, Aktien, Rohstoffe. Ohne diese Turbulenzen wäre die Wirtschaft weitaus stabiler und würde stärker wachsen. Doch auch unabhängig von solchen Spekulationsgeschäften ist die derzeitige Kreditvergabe problematisch, weil die meisten Darlehen dazu verwendet wurden, bestehende Immobilien zu kaufen, statt neue zu bauen. Auch in neue Maschinen wird kaum noch investiert. Durch die vielen Kredite wächst also die Geldmenge, ohne dass in der Realwirtschaft neue Werte geschaffen werden. Es kommt zu einem gigantischen Geldüberhang. Kommt die Spekulation nicht gerade an ihre Grenzen?

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Genau. Die interessante Frage ist: Warum konnte man bis zum Jahr 2000 die Geldblase aufpumpen, und warum geht dies jetzt nicht mehr? Die Antwort ist: Die Vermögensblase ist bis zum Zerreißen gespannt und lässt sich kaum noch ausdehnen, weil die Anleger eine Rendite sehen wollen. Also Zinsen, Mieten, Dividenden etc. Diese Renditen müssen aber durch die Realwirtschaft generiert werden. Wenn die Realwirtschaft jedoch nicht wächst, sondern nur der Geldberg, dann ist klar: Die Kapitalrendite nimmt ab. Inzwischen ist sie so weit gesunken, dass die Zinsen negativ sind. Unerfreulich für die Sparer: Die Zinsen werden auch in Zukunft nicht wieder positiv. Wie denn? Die Realzinsen können erst steigen, wenn es wieder Wachstum gibt. Und wie können wir das Wachstum ankurbeln?

Dafür müssen erst einmal die Gehälter steigen. Weit über 60 Prozent des Volkseinkommens sind immer noch Löhne! Weil diese aber stagnieren, dümpelt auch die Nachfrage und damit die Wirtschaft. Dies ist ein globales Problem. In den USA beispielsweise stagnieren die Reallöhne der Mittelschicht seit ungefähr 1975. Um dennoch die Nachfrage zu steigern, wurden zahlreiche Konsumentenkredite vergeben, sogar an Menschen ohne Einkommen. Irgendwann waren viele Privathaushalte dann überschuldet. Logische Folge: die Finanzkrise ab 2007.

»Die interessante Frage ist: Warum konnte man bis zum Jahr 2000 die Geldblase aufpumpen, und warum geht dies jetzt nicht mehr?«

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Ulrike Herrmann

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Endnoten zum Kapitalismus – M E T A M O R P H O S E

Oder: Reflexionen aus dem verfertigten Leben

Text: Anna-Verena Nosthoff / Felix Maschewski

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PHYSIOKRATIE:

Wir leben in einem heiklen Status quo. Andauernde Krisen scheinen Handlungsspielräume einzuschränken und Veränderungspotenziale systematisch zu unterdrücken. Längst haben wir uns an den Ausnahme- als Dauerzustand gewöhnt. Kennt der Kapitalismus kein Ende?

(von griech. physis = Natur und kratein = herrschen) ist eine durch François Quesnay (1694–1774) begründete gesellschafts- und wirtschaftstheoretische Schule, die den Boden beziehungsweise die Natur als einzige Quelle wirtschaftlichen Reichtums ansah. Im Unterschied zum Handel, wo nur Äquivalente ausgetauscht werden, und der Industrie, in welcher ein Rohstoff umgeformt und die damit verbundene Arbeitsleistung durch Lohn ausgezahlt wird, sei folglich die Landwirtschaft der einzige produktive Wirtschaftszweig – nur sie würde zur Wertschöpfung in der Volkswirtschaft beitragen. Damit ging die Forderung einher, besonders die Landwirtschaft zu fördern sowie die Reglementierung des Getreidehandels aufzuheben. Insgesamt befürwortete die Physiokratie eine weitestgehende Unabhängigkeit der Wirtschaft von staatlichen Interventionen, Wirtschaftsprozesse waren für sie – analog zum Blutkreislauf – organisch und natürlich.

In seinem Essay Postskriptum über die Kontrollgesellschaften skizziert Gilles Deleuze eine tiefgreifende Veränderung des Kapitalismus: „wie das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab“. Die Gegenwart definiere sich, so der Philosoph, als „unbegrenzte(r) Aufschub“; der Einzelne als stets wandelbares Ich, das „nie mit irgend etwas fertig wird“. Diese mehr als 25 Jahre alte Beschreibung ist aktueller denn je: Denn wir sind nicht nur noch nicht fertig – mit uns, dem Unternehmen, dem Staat oder Europa; auch scheint die schier unendliche kapitalistische Weiterbildung immer weniger einen weltgeschichtlichen Fortschritt zu konturieren. Sie markiert vielmehr einen therapiebedürftigen Zustand der Schwebe – eine konstante Krise. Die Konstanz ist der Krise eigentlich wesensfremd, beschreibt ihr Begriff (krisis) doch einen Moment der Entscheidung, dem ein endgültiges, unwiderrufliches Urteil folgt. Das ursprüngliche Entweder-oder der krisis hat sich heute in einen Willen zur Verbesserung, in die alternativlose Affirmation des Status quo und ein uninspiriertes Immer-weiter verkehrt. So bestimmen sich gegenwärtige Krisenkonstellationen kaum mehr als Umschlagsmomente oder entscheidende Verfassungsänderungen, sie kennzeichnen eher eine Methode des Systemupdates. Dabei – man denke etwa an die Griechenlandkrise – scheinen sie einem fragwürdigen Modus Operandi zu folgen: Je zugespitzter die Lage, je desaströser die Aussichten, desto unrealistischer eine wirkliche Veränderung – in der Konsequenz wird die Krise zur Regierungstechnik: Denn je mehr Beulen das System wirft, desto „besser“ funktioniert es.

Mit Michel Foucault lässt sich dieses (patho-)logische Verhältnis zwischen Krisen und Kapitalismus historisch erklären. So beschreibt der Historiker und Philosoph, dass Krisen im 18. Jahrhundert zunehmend als bloßes Organisationsproblem aufgefasst wurden. Auf die Schule der Physiokraten verweisend, zeigt er auf, wie deren Begründer François Quesnay damalige Hungersnöte nicht mehr als metaphysische „Heimsuchung“, sondern als schnödes Signal von regelmäßigen Knappheiten deutete. Statt der vormals protektionistischen Politik (Exportverbote etc.) avancierte nun die Liberalisierung der Märkte zur vermeintlich „souveränen“ Lösung, die realpolitische Konsequenzen nach sich zog: Sie verschob den Fokus von der Bekämpfung der Krisenursachen hin zum Management ihrer Effekte. Damit einher ging eine Umetikettierung: Krisen galten nicht länger als anormales Übel, sie erschienen systematisch notwendig. „Das System“, resümiert Joseph Vogl, „wird (…) durch seine eigenen Krisen optimiert, es wird durch das Elend, das es selbst produziert, in produktiver Bewegung gehalten.“

M E T A M O R P H O S E

Endnoten zum Kapitalismus

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Der falsche Gott – M E T A M O R P H O S E Text: Jens Böttcher

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Von der Notwendigkeit, den Kapitalismus als scheiternde Ersatzreligion zu erkennen – und von der unerhörten Möglichkeit einer Revolution. Es mag befremdlich sein, es so zu betrachten, aber all die diffusen Begriffe, die wir für die systemischen Wirren unserer Zeit immer wieder zu finden suchen – Kapitalismus, Neoliberalismus, Konsumismus – verbergen doch nur mäßig geschickt, dass wir in ihren verborgenen Erlösungsversprechen eine tief in uns selbst verankerte, ausgesprochen religiös gefärbte Sehnsucht zu befriedigen suchen. Oder suchten. Wollen wir es wagen, aufrichtig zu sein? Aufhören, angeblich Säkulares von angeblich Spirituellem zu trennen? Den Mut aufbringen, unser eigenes wahnhaftes Scheitern zuzugeben? Endlich für möglich halten, dass wir viel mehr sind als die Summe unserer sichtbaren Teile? In die Tiefe unserer Herzen hinabspüren und bar jeder intellektuellen Rüstung fragen: Worum geht es denn bei tatsächlich allem, was wir tun und suchen und ersehnen, sei es in Ost oder West, Nord oder Süd? Worum ging es in all unseren Systemen und System-Revolutionen, seien sie laut oder leise gewesen, gewalttätig oder friedlich? Es ging stets um den tiefen menschlichen Wunsch nach innerem Ankommen. Es ging immer um die Möglichkeit – vielleicht die Illusion – finaler Geborgenheit. Um die kindliche Hoffnung, unsere tiefsten Ängste vor Verlassenheit mögen von Zauberhand fortgeweht werden und nicht dereinst als neues Trauma zurückkehren. Es geht immer um Bedingungslosigkeit, um das Gefühl hingegeben sein zu dürfen. Es geht immer um Liebe. Nur geben wir das natürlich nicht gern zu. Das klingt so schrecklich kitschig. So trivial. So leer. Jedenfalls solange wir die Liebe in ihrer ganzen Größe abweisen, solange wir sie behandeln wie den störenden Bettler, der es am Heiligen Abend wagt, an unsere Türen zu klopfen.

Da uns der Mut zu einem kollektiven Bekenntnis zur Liebe inklusiver all ihrer Herausforderungen fehlt, suchen wir seit Anbeginn unseres eigenen Urknalls nach Heilsversprechen, die stets von außen nach innen wirken sollen. Die von Erich Fromm einst gestellte Frage nach „Haben oder Sein“ war wohl nie aktueller als heute. Wir als Konsumgesellschaft haben sie nur falsch beantwortet – und leben in dem Glauben, dass ein zufriedenes Sein aus dem Haben entsteht. Tatsächlich geht es nur andersherum: Nur ein befriedetes Sein gibt uns die Möglichkeit, in ihm etwas zu haben, nämlich Selbstwert, Selbstliebe. Unsere Zufriedenheit müsste von einem geheimnisvollen inneren Kontinent kommen, den wir als Kollektiv bislang nicht entdeckt haben. Dieses „Haben“ käme aus dem Sein und wäre mit Gold nicht aufzuwiegen. Die Lüge stirbt Der Kapitalismus verpackt sein Heilsversprechen in ein Glaubenssystem, das im Gegensatz zu seinen monotheistischen Stiefgeschwistern nicht mal mehr „himmlisch“ zu sein hat, sondern uns aufgeklärte Geister, ganz und gar modisch-säkularisiert, in das Korsett eines rein weltlichen Pragmatismus zwängt. So werden wir in einem zwangsläufig kaltherzigen Hier und Jetzt verortet, zu Füßen des Götzenpriesters Konsum, dessen zuckrig-fauligen Zaubertrank wir schon hektoliterweise getrunken haben. Alles im Neonschein einer Ersatzreligion, die uns in sich zu bergen verspricht wie eine gute Mutter, ohne dass wir Gläubigen dabei länger die Unberechenbarkeit oder gar die Strafen jenseitiger Mächte zu fürchten hätten. Nennen wir das garstige Kind also beim Namen: Der Kapitalismus hat sich zu einer Placebo-Religion aufgeschwungen, die es nun in finalem Zucken noch wagt, sich selbst als „alternativlos“ zu erklären, ohne dabei wenigstens mit Schamesröte im Antlitz einzuräumen, dass keine menschliche Idee das je historisch

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Der falsche Gott


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Ruhe und Ordnung – M E T A M O R P H O S E Text: Wolfram Bernhardt

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Ruhe und Ordnung

hilft. Doch damit nicht genug. Mit dem Wirtschaftswachstum und der tatsächlichen Verbesserung der Lebensumstände von vielen, vielen Menschen wurden die Ideale der Aufklärung zum gesellschaftlichen Konsens und damit Wirklichkeit: ein demokratischer Staat, freie Bildung, gleiche politische Rechte für alle Bürger, politischer Schutz der Minderheiten und ein Sozialsystem, das die Menschen ein Leben in Würde führen ließ. Die Orientierungslosigkeit wurzelte in der Erkenntnis, dass der technologische Fortschritt zwar noch stattfand, aber dies nicht mehr automatisch bessere Lebensbedingungen zur Folge hatte. Viele Menschen schafften es zwar lange Zeit, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen; davor, dass sich inzwischen eine neofeudale Gesellschaftsstruktur herausgebildet hatte und sie bestenfalls noch dazu gebraucht wurden, als Konsumenten das System am Laufen zu halten. Doch spätestens als ihr eigener Job immer ungemütlicher wurde beziehungsweise sie ihn verloren, stürzte dies viele Menschen in eine Sinnkrise. Plötzlich stand nur noch ein großes Fragezeichen an der Stelle, wo es vorher Antworten auf Fragen wie diese gab: Was ist das Ziel in meinem Leben? Wie erreiche ich dieses Ziel? Logisch, dass es zu dieser Zeit auch viele Vorschläge gegeben hat, was nun zu tun sei – und dass jene, die sie vorbrachten, um die mediale und gesellschaftliche Vorherrschaft kämpften. Im sogenannten Informationszeitalter wuchs dieses mediale Ringen jedoch schnell zu einem Informationsterror aus. Man wurde permanent mit Informationen bombardiert, sodass man am Ende aufgrund der Informationsflut weder ein noch aus wusste. In einer solchen Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: Man hinterfragt permanent jede Information und versucht, sich ein eigenes Bild zu machen, oder man findet eine Person, deren Erzählung man Glauben schenkt – beispielsweise, weil diese Person sagt, dass man selbst der Gute ist und das Chaos nur daher rührt, dass alle anderen böse sind. Eine Person, die verspricht, Ruhe und Ordnung in dieses Chaos zu bringen.

144 S., 11 Abb. Br. € 8,95 ISBN 978-3-406-69846-0

Piketty erklärt, wie Ungleichheit entsteht, wie Ökonomen sie messen und in welchem Missverhältnis Arbeitseinkommen und Kapitalerträge zueinander stehen. M E T A M O R P H O S E

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Studentinnen und Studenten, es ist mir eine ganz besondere Ehre und eine große Freude zugleich, heute, am 25. Gründungstag unserer Republik, diese Festrede halten zu dürfen. 25 Jahre, also seit einer Generation, ist diese Utopie bereits Realität. Wenn ich mich umschaue, dann blicke ich heute in die Gesichter vieler Menschen, die in dieser neuen Realität groß geworden sind; eine Realität, von der vor 30 Jahren wohl jeder geglaubt hätte, dass sie für alle Zeiten eine Utopie bleiben wird. Hätte man mich vor 30 Jahren gefragt, für wie wahrscheinlich ich es halten würde, dass es diese Europäische Republik je geben würde, dann hätte ich mit einem Gleichnis aus der Bibel geantwortet: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass sich am finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus etwas ändert. An Ihrem Blick erkenne ich, dass Sie sich nun fragen, ob ich noch recht bei Trost bin. In der Tat muss es für jemanden, der die Verhältnisse vor der Gründung der Republik nicht erlebt hat, eigentümlich erscheinen, dass man diese Gründung mit einem Wunder gleichsetzt. Für viele dürfte es schwer vorstellbar sein, dass man damals hoffen musste, die Wirklichkeit sei nur ein absurder Traum, wenn man nicht verzweifeln wollte – wobei allerdings nichts darauf hingedeutet hat, dass man aus diesem Traum aufwachen könne. Was also war dieser absurde Traum? Beginnen wir mit dem Chaos. Denn das war im Jahr 2017 allgegenwärtig. Dabei dürfen Sie sich das Chaos jedoch nicht so vorstellen, dass überall Krieg herrschte – auch wenn das an vielen Orten der Welt tatsächlich der Fall war. Vielmehr bestand das Chaos in einer großen Orientierungslosigkeit, die dadurch ausgelöst wurde, dass die große Erzählung, die ihren Anfang ungefähr im Jahr 1870 genommen hatte, an ihr Ende gelangt war. Diese Erzählung, die jahrelang für Orientierung gesorgt hatte, kann man im Wesentlichen auf folgende Formel reduzieren: Technologischer Fortschritt führt zum Wachstum der Wirtschaft, das wiederum Menschen zu Wohlstand ver-

816 S., 97 Grafiken, 18 Tabellen. Br. € 16,95 ISBN 978-3-406-67503-4

„Eine brillante Erzählung über Reichtum und Armut.“ Nikolaus Piper, SZ

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VER ANT WOR TUNG UNTERNEHMEN

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Mittelständische Unternehmer werden zwar als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen, treten aber selten öffentlich in Erscheinung. Im Gespräch mit der ThalesAkademie erzählen sie von Erfolgen und Niederlagen, Erfahrungen und Einsichten. THALES-AKADEMIE FÜR

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WIRTSCHAFT UND PHILOSOPHIE Echte Gespräche werden immer seltener. Manchmal fehlt uns der Mut, immer öfter aber auch die Muße, um uns über persönliche Erfahrungen, Hoffnungen und Zweifel auszutauschen. Auch der Primat von Auflage und Profit seitens der Medien sowie die Selbstvermarktungsinteressen der Interviewten sind eine Hürde für solche aufrichtigen Gespräche. In der Gesprächsreihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN setzen Frank Obergfell und Philippe Merz von der Thales-Akademie diesem Trend etwas entgegen: kein klassisches Interview, sondern einen offenen Austausch auf Augenhöhe mit jeweils einem mittelständischen Unternehmer oder einer unternehmerisch erfahrenen Persönlichkeit. Die Thales-Akademie selbst bietet Vorträge und Inhouse-Seminare zu den wirtschaftsund unternehmensethischen Herausforderungen unserer Zeit sowie – gemeinsam mit der Universität Freiburg – eine berufsbegleitende Weiterbildung an. www.thales-akademie.de

RICHARD HENKEL GMBH „Jedes Unternehmen muss wachsen, um erfolgreich zu sein.“ So haben wir es gelernt, so wird es uns täglich vorgelebt. Aber stimmt das wirklich? Seit einigen Jahren lösen sich verschiedene Unternehmen ebenso bewusst wie erfolgreich von der Fixierung auf Umsatzwachstumsziele und schonen so die natürlichen Ressourcen. Zu diesen Unternehmen zählt die Richard Henkel GmbH aus Forchtenberg im schwäbischen Hohenlohekreis. Sie hat sich in dritter Generation auf die Fertigung hochwertiger Stahlrohrmöbel spezialisiert. Nachhaltigkeit steht dabei an erster Stelle: Verschlissene Teile können vollständig aufgearbeitet werden – vor Ort, von Hand und mit wiederverwertbaren Materialien. Daneben hat sich das Familienunternehmen einen Namen als unkonventioneller Pulverbeschichter für mittelständische und große Unternehmen gemacht. Es verwendet etwa eine Filteranlage aus der Milchindustrie, um Rückstände des Beschichtungsvorgangs optimal zu reinigen. Eine betriebseigene Zisterne versorgt das Unternehmen mit Wasser, während der Einbrennofen mit Material aus der Reaktorforschung gedämmt wird und so außergewöhnlich energieeffizient ist. Auf das respekt- und vertrauensvolle Verhältnis zu den Mitarbeitern legen die Geschwister und Geschäftsführer Susanne und Kai Henkel besonderen Wert. Die Richard Henkel GmbH ist Mitinitiator der WIN!-Charta des Landes Baden-Württemberg und wurde bereits mehrfach im Rahmen des Umweltpreises von Baden-Württemberg ausgezeichnet.

von links nach rechts: Frank Obergfell, Susanne und Kai Henkel, Philippe Merz

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Neue Maßstäbe setzen

Neue Maßstäbe setzen

Ihr Unternehmen gilt als eines der kreativsten Postwachstumsunternehmen in Deutschland. Wie sind Sie zur Postwachstumsökonomie gekommen?

SH — Wir sind zunächst über die ökonomischen Fragen zur Postwachstumsökonomie gekommen, weil wir gemerkt haben, dass unsere internen Einsparpotenziale, also die Möglichkeiten eines „inneren Wachstums“, längst nicht ausgeschöpft sind. Aber bald wurde mir klar: Postwachstum heißt auch Ressourcenschonung im Sinne einer ethischen Verantwortung für die Gesellschaft. Denn wenn Sie sich unseren weltweiten Umgang mit Ressourcen anschauen, läuft es einem kalt den Rücken herunter. Für mich sind Fälle wie der von VW daher besonders grausig. Denn das ist nicht nur zivil- und strafrechtlich bedenklich gegenüber den Kunden, sondern es schadet der ganzen Bevölkerung, weil diese Autos ja überall mit einem massiv überhöhten CO2-Ausstoß herumfahren. Eine weitere, bislang allerdings weitgehend ignorierte Gefahr im Kontext von CO2-Emissionen ist übrigens das Auftauen der Permafrostböden. Hierdurch werden gigantische Mengen an CO2 frei, wodurch das Zwei-Grad-Ziel von Paris geradezu unerreichbar wird. Frau Merkel war doch selbst mal Umweltministerin. Hat sie das alles vergessen? Warum gehen wir so unverantwortlich mit diesem Planeten um? Ich habe zwar keine eigenen Kinder, aber Nichten, Neffen und Patenkinder – und denen möchte ich keine Welt hinterlassen, die nicht mehr reparabel ist. Was bedeutet für Sie der Postwachstumsansatz in betriebswirtschaftlicher Hinsicht?

SH — Zunächst hat die Postwachstumsidee bei mir dazu geführt, dass ich mir seit rund zehn Jahren keine Gedanken mehr über irgendwelche Umsatzziele mache –

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Die Thales-Akademie im Gespräch mit Susanne und Kai Henkel von der Richard Henkel GmbH

und vor allem nicht mehr über die Umsatzsteigerung. Wichtig ist für mich nur, ob wir Gewinn erwirtschaften und ob ich Investitionen tätigen und faire Löhne bezahlen kann. Schon damit unterscheiden wir uns von den meisten anderen Unternehmen. Für diesen Ansatz gibt es mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass die Unternehmen, die ständig ihren Umsatz steigern wollen, alle möglichen Aufträge annehmen und dadurch sehr abhängig von der Willkür einzelner Auftraggeber werden. Auch ich habe diesen Fehler anfangs gemacht. Wir hatten beispielsweise einmal eine zusätzliche Schicht für einen großen Auftrag aus der UMTS-Branche eingeführt. Da wir Verträge mit klaren Vertragsstrafen abgeschlossen hatten, dachte ich, dass alles im grünen Bereich ist. Aber dann stellte der Endkunde plötzlich fest: „Huch, der Erstbestückungsmarkt ist ja schon gedeckt, ab jetzt bieten wir nur noch Ersatzteile an.“ Und innerhalb von einer Woche wurden alle Verträge gekündigt. Bei uns fiel daraufhin die extra eingerichtete Schicht weg, unsere Mitarbeiter standen quasi „auf der Straße“. Doch wer in diesem Moment die Vertragsstrafe geltend macht, den beauftragt dieser Kunde nie wieder. Also haben wir dafür gesorgt, dass wir nicht mehr so abhängig von einer Branche oder einem Auftraggeber sind. Oder denken Sie an die Abhängigkeiten von gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen. Nach dem 11. September 2001 wurden viele unserer Dienstleistungen nicht mehr benötigt, weil die Fluggastzahlen zum Beispiel von Swiss Air in den Keller gerauscht sind. Große Konzerne wie Audi, die in Teilbereichen mit Zeitarbeitsfirmen arbeiten, entlassen in solchen Phasen viele Mitarbeiter mit „Sonderverträgen“. Wir hingegen müssten in einem solchen Moment eine ganze Schicht streichen. Und das kann ich meinen Mitarbeitern gegenüber nicht verantworten. Ich will doch jedem in die Augen schauen können. 81


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Und schließlich: Rechnen Sie mal aus, was Sie mit einer dritten Schicht verdienen. Nichts! Die einzige Schicht, mit der sie etwas verdienen, ist die erste Schicht. Sagt der Gesamtumsatz also etwas über die Ertragslage aus? Ich glaube nicht. Viel sinnvoller ist es, die Prozesse innerhalb des Unternehmens zu optimieren. So erhöht man am schnellsten den Ertrag. Das „Wachstum“, bei dem oben 20 Millionen stehen und unten nichts raus kommt, brauche ich nicht. Würden Sie sagen, dass die ökonomischen und die ethischen Gründe, die für einen Postwachstumskurs sprechen, für Sie letztlich gleichrangig sind?

SH — Absolut. Wir können damit die Verantwortung wahrnehmen, die wir nach meiner Überzeugung für die Gesellschaft tragen. Und zugleich gilt: Der wahre Ertragsbringer ist das Bündel der Maßnahmen, die ergriffen werden, um CO2 zu reduzieren und Materialien zu schonen – und nicht die Umsatzsteigerung.

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KH — Das stimmt vollkommen. In den letzten zehn Jahren haben wir beispielsweise 60 Prozent der Strom- und Prozesswärme einsparen können. Da wird schnell klar, dass wir vergleichbare Gewinne durch Mengen- oder Umsatzsteigerungen niemals erzielt hätten. Diese Synergieeffekte und die damit verbundenen wirtschaftlichen Erfolge sind für viele Menschen sicher überraschend. Gibt es daneben denn auch Themen, die Sie im Unternehmen derzeit bedrücken und belasten?

KH — Ganz eindeutig die Schwierigkeiten mit manchen Mitarbeitern. Wir haben mittlerweile große Probleme, Menschen zu finden, die eine gute Arbeitseinstellung mitbringen. Um ein Beispiel zu nennen: Jeder Zeitarbeiter hat bei uns mittelfristig die Chance, übernommen zu werden. Mehrere Produktionshelfer waren beispielsweise in letzter Zeit ein dreiviertel Jahr oder ein Jahr bei uns als Zeitarbeiter beschäftigt, haben einen guten Job gemacht und daraufhin wie versprochen einen festen Vertrag erhalten. Dann haben sie ein halbes Jahr weiter gearbeitet, bis sie wussten, wie „das System“ funktioniert – und plötzlich waren sie ständig krank. Und wenn der eine Arzt sie nicht mehr krankschreiben wollte, sind sie zu einem anderen gegangen und haben sich dort ihr Attest geholt. Das ist doch Wahnsinn. Und es ist auch in solchen Fällen unverantwortlich von den Ärzten, das sage ich ganz ausdrücklich. Die Mehrlast tragen die fleißigen Kollegen! Mehr als unkollegial! SH — Es gibt außerdem Mitarbeiter, die ihre – teils großen – privaten Probleme mit zur Arbeit bringen. Wir versuchen dann, uns für sie einzusetzen, beispielsweise auch, indem wir mit Gläubigern oder Anwälten sprechen. Und mehrfach haben wir schon erlebt, dass genau diese Mitarbeiter uns die Kündigung auf den Tisch legen, sobald es wieder besser läuft – und zwei Tage später melden sie sich für den Rest der Zeit krank. Da geht es mir nicht ums Geld, sondern das sind für mich vor allem menschliche Enttäuschungen. Das Gleiche gilt für einen bestimmten Kunden, für den wir 20 Jahre lang gearbeitet haben. Während dieser Zeit gab es Fälle, wo Mitarbeiter dieses Kunden bei uns angerufen haben, weil sie technische Probleme mit ihren eigenen Lackieranlagen hatten. Natürlich haben wir ihnen da mit unserem Know-how geholfen. Anfang 82

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dieses Jahres habe ich mir dann erlaubt, bei einigen Produkten die Preise zu erhöhen. Das haben wir seit 2005 nicht mehr getan und folglich mit diesen Produkten so gut wie nichts mehr verdient. Das habe ich auch komplett offengelegt und dem Einkaufschef erklärt. Was glauben Sie, ist passiert? Der Auftrag wurde abgezogen. Es ist nicht mal zu einem Gespräch gekommen. Das hat man nach 20 Jahren guter, offener Zusammenarbeit nicht für nötig gehalten. 300.000 Euro Umsatz weg – direkt zum Wettbewerber einige Kilometer weiter. Wahrscheinlich war der fünf Cent billiger. Es ist hart zu sehen, dass es in solchen Fällen nur noch um das billigste Angebot geht. Auch hier war es nicht so sehr der Auftragsverlust, der uns zu schaffen machte, sondern die menschliche Enttäuschung. Wie würden sie denn die Unternehmenskultur beschreiben, die Sie selbst zu leben versuchen?

SH — Gegenseitiger Respekt ist für mich das oberste Gebot. Bei uns im Unternehmen arbeiten Menschen aus der ganzen Welt mit teils sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Da benötigen alle viel Sensibilität, damit es nicht kracht. Das geht bis zu der Frage, wie aufreizend sich eine Mitarbeiterin an einem heißen Sommertag anzieht. Es ist also ein Geben und Nehmen, das bei uns ganz gut funktioniert, für das wir aber auch viele Fortbildungen anbieten. Außerdem bedeutet Unternehmenskultur für mich, genau hinzuschauen. Es ist wichtig, dass man es beispielsweise bemerkt, wenn ein Mitarbeiter durch sein Privatleben belastet wird. Für solche und andere Schwierigkeiten müssen wir sensibel bleiben, denn jeder Mitarbeiter verbringt die meiste Zeit des Tages im Betrieb. Wir dürfen die Menschen nicht nur als Arbeitstiere sehen, sondern müssen sie als ganze Personen wahrnehmen. Gelingt es denn, mit dieser gelebten Empathie eine höhere Verlässlichkeit und Verbindlichkeit zwischen Ihnen und den Mitarbeitern zu etablieren, um so auch zwischenmenschlichen Enttäuschungen vorzubeugen?

KH — Ich halte das auch für ein Generationenthema. Bei Kollegen, die 20 oder 30 Jahre bei uns sind, stellt sich diese Frage gar nicht. Es sind eher die Jüngeren zwischen 25 und 30, die Schwierigkeiten haben, sich einzufinden und kontinuierlich ihre Leistung zu bringen. SH — Wir haben Mitarbeiter, die schon lange bei uns sind und die eine so hohe Loyalität aufgebaut haben, dass sie wohl alles für uns tun würden. Bei anderen Mitarbeitern frage ich mich dagegen, ob sie sich auch bei den großen Firmen in der Nähe wie Würth oder Audi trauen würden, ein solch schlechtes Verhalten an den Tag zu legen. Aber man muss eben bedenken: Der Hohenlohekreis ist eine Weltmarktführerregion mit einer Arbeitslosenquote von unter 3 Prozent. Hier findet jeder schnell eine neue Anstellung, auch ein Ungelernter. Zugleich liegen wir hier abseits der großen Städte, sodass es schwierig ist, hochqualifizierte Mitarbeiter zu finden – und Wohnungen, die ihnen gefallen. Wir suchen derzeit händeringend einen Umweltbeauftragten und einen Produktionsleiter, die für ihre Aufgabe brennen. Aber wir finden niemanden. So werden wir oft selbst vom Tagesgeschäft aufgefressen, anstatt uns technischen Innovationen widmen zu können.


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Die Richard Henkel GmbH in Forchtenberg, Hohenlohekreis, gegründet 1922

Haben Sie neben den Unternehmen, von denen Sie sich bewusst abgrenzen, auch unternehmerische Vorbilder?

SH — Ja klar, beispielsweise die Brauerei Neumarkter Lammsbräu oder Weleda. Die hatten bislang in Sachen Ressourceneinsparung und Mitarbeiterführung die gleichen Ansätze wie wir. Aber auch viele kleinere Unternehmen, die mit uns in verschiedenen Arbeitskreisen oder auch einmal in gemeinsamen Projekten wie zum Beispiel der Deutschen Bundesstiftung Umwelt zusammenarbeiten. Was bedeutet für Sie unternehmerischer Erfolg, wenn Sie diesen nicht mehr an konventionellen Kennzahlen wie dem Umsatzwachstum festmachen?

KH — Für besonders wichtig halte ich die langfristige Stabilität des Unternehmens … SH — … und außerdem faire Löhne und keine Steuerschulden. Also wieder die Frage: Was kommt tatsächlich unten heraus? Für diesen Ansatz müssen Sie mit einer hohen Eigenkapitalquote arbeiten, um sich den Zinserwartungen von Banken oder den Renditeerwartungen von Investoren zu entziehen, da ansonsten wieder Wachstumsdruck entstünde, oder?

KH — Wir sind eines der am besten bewerteten Unternehmen in Deutschland, und ja, das hat sicher auch mit einer hohen Eigenkapitalquote zu tun. Aber wir nehmen auch schon mal einen Kredit auf, wenn es sich nicht vermeiden lässt. SH — Wir sind allerdings ganz konventionelle Sparkassenkunden. Schon mein Großvater hat gesagt: „Du kaufst, was du zah-

len kannst.“ Und wenn wir bei einer Investition ausnahmsweise finanzielle Unterstützung brauchten, hatten wir mit der Sparkasse immer einen fairen Partner, der gut mit uns umgegangen ist. Viele Unternehmer beschweren sich ständig über ihre Banken, weil sie sich mit deren Geschäftsverhalten nicht mehr identifizieren können. Da kann ich nur sagen: Dann muss man eben den Mut haben, der Deutschen Bank den Rücken zu kehren und vielleicht zur GLS Bank zu gehen. Zum Unternehmenserfolg können aber auch andere Faktoren beitragen, die oft vergessen werden. Gute Unternehmernetzwerke wie unser „Modell Hohenlohe“ helfen beispielsweise bei vielem weiter. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden, sondern kann auch von den Erfahrungen anderer profitieren. Daneben gibt es gerade im Bereich Effizienz und Material viele Zuschussmöglichkeiten durch Bund und Land, die jedes Jahr nicht abgerufen werden – worauf Minister Untersteller auch immer wieder hinweist, besonders die KMU! KH — Aber viele kleine Mittelständler haben keine Zeit, sich darum zu kümmern. Und wenn Sie mal Ihre IHK danach fragen, kommen in der Regel nur 08/15-Vorschläge, die ich nach fünf Minuten Internetrecherche auch selbst herausfinde oder die wir in Arbeitskreisen unseres Modells Hohenlohe längst gemacht haben. Für die Fördertopf-Berater sind wir wiederum uninteressant, weil wir zu klein sind. Entweder hängen Sie sich also beim Thema Fördermöglichkeiten selbst rein oder Sie lassen es besser ganz bleiben. Gibt es Momente in den letzten Jahren, in denen Sie dachten: „Genau hierfür mache ich das alles“?

SH — Aber ja! Etwa wenn wir nach langer Suche endlich ein unschlagbares Dämmmaterial für unseren Einbrennofen (Lackier83

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Land in Sicht

R E PA R I E R E N S TAT T PRODUZIEREN —

Ein Gesetzesentwurf, eine Vision M E T A M O R P H O S E

Bereits Karl Marx prophezeite, dass der Kapitalismus aufgrund seines Wachstumszwangs zur Überproduktion führen werde. Heute liegt die Produktion weit über den menschlichen Bedürfnissen. Damit die stets aufs neue produzierten Waren dennoch gekauft werden, gewinnt zum einen das Marketing an Bedeutung und zeigt uns täglich neue Bedürfnisse, von denen wir noch gar nichts wussten. Zum anderen versuchen die Produzenten sich im Preiskampf immer weiter zu unterbieten. So befinden wir uns heutzutage in der – aus Konsumentensicht scheinbar luxuriösen – Situation, dass alles im Überfluss und zu absoluten Dumpingpreisen vorhanden ist. Die Neuproduktion ist heute so billig, dass uns das Wegwerfen beziehungsweise das Neukaufen weniger kostet als das Reparieren – augenscheinlich zumindest. Denn Billigpreise lassen einen Großteil der Kosten, die etwa durch Umweltschäden bei der Produktion oder Entsorgung entstehen, außer Acht. Ganz zu schweigen von einer anderen Begleiterscheinung: der Ausbeutung der Arbeitnehmer, die immer dort am stärksten ist, wo zu Billigstpreisen produziert wird. In Zeiten der Überproduktion wird bei einer Reduktion des Konsums eine Katastrophe befürchtet – man sehe sich nur einmal die Kommentare an, wenn der GfKKonsumklimaindex längere Zeit keine Zuwächse verzeichnet. Umso erstaunlicher ist es, wenn dem Konsum von ministerialer Ebene eine Bremse verordnet wird. Genau das ist das Ziel eines Gesetzesentwurfs, der im Dezember vom schwedischen Finanzmarkt- und Konsumminister Per Bolund zur Abstimmung ins Parlament eingebracht wird. Dieses Gesetz sieht vor, dass die Mehrwertsteuer für die Reparatur von beispielsweise Schuhen oder Fahrrädern von 25 Prozent auf 12 Prozent gesenkt wird. Zudem sollen Privatpersonen die Kosten der Reparatur von Haushaltsgeräten von ihrer Einkommenssteuer absetzen können. Bolund will damit rationale wirtschaftliche Argumente für Reparaturen und längere Nutzungsdauern schaffen. Er hofft, so den CO2Ausstoß und die Umweltschäden, die mit der Produktion verbunden sind, verringern zu können und gleichzeitig zahlreiche neue Jobs für handwerklich Begabte – beispielsweise Flüchtlinge – zu schaffen. Mit den Reparaturen vor Ort würde die heimische Wirtschaft gestärkt und man wäre nicht mehr so sehr von Billiglohnländern und billigsten Rohstoffen abhängig. Mehr dazu unter: www.government.se/articles/2016/10/strategy-for-sustainable-consumption/

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NACHGEFRAGT BEI PER BOLUND, FINANZMINISTER VON SCHWEDEN: Seit dem Bekanntwerden des ungewöhnlichen Gesetzesentwurfs, ist Per Bolund weltweit ein gefragter Interviewpartner. Dem US-amerikanischen Fernsehsender CNN sagte Bolund, die schwedischen Bürger seien sich mehr und mehr Ihrer Verantwortung als Konsumenten bewusst. Sie wissen, dass die Produkte länger halten müssen, wenn weniger Ressourcen verbraucht werden sollen. Für ihn sei offensichtlich, dass Konsumenten dringend etwas ändern wollen und Umweltprobleme ernst nehmen. Immerhin steige der Verkauf von Bio-Lebensmitteln um 40 Prozent

pro Jahr. Für ihn sei dies ein klares Zeichen, dass Verbraucher endlich finanzielle Vorteile für nachhaltiges ökonomisches Handeln fordern. Dementsprechend begeistert wurde der Vorstoß der Grünen in Schweden begrüßt. Die geringe Besteuerung von Reparaturen trifft den Nerv der Zeit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen: Dies zeigt auch die wachsende Do-It-Yourself-Kultur, die sharing economy und die Beliebtheit von Apps wie Airbnb. Das geplante Gesetz könnte außerdem den Arbeitsmarkt neu

strukturieren, so Bolund: Derzeit braucht es für einen Großteil der Jobs eine akademische Ausbildung. Wenn neue Anreize für Reparaturen entstünden, könnte dies zahlreiche neue Arbeitsplätze im Handwerk schaffen. „Viele Menschen, die nach Schweden einwandern, hatten in ihren Heimatländern bereits Erfahrung mit der Reparatur von Haushalts- und Geräten aller Art gesammelt.“, so Bolund zu CNN. Er hofft deshalb, beispielsweise Flüchtlingen den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern zu können und gleichzeitig die Wegwerfkultur einzudämmen.

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Reparieren statt Produzieren

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