agora42 3/2016 LEITBILDER *Sonderausgabe*

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Ausgabe 03/2016 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 03/2016

LEITBILDER


INHALT

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—3 EDITORIAL

— 38 Daniel Bucher

—4 INHALT

Gastlichkeit und Kultur

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— 06 Gunter Dueck

Neue Leitbilder ohne Leitbilder? — 08 Ralf Konersmann

Unruhe

Weise wirtschaften Interview mit Sven Murmann

— 10

— 26 Johann Hinrich Claussen

Der Christ

— 28 Janina Urban / Lisa Weinhold

Erwachsensein Interview mit Michael Winterhoff

Plurale Ökonomik — 50 Götz W. Werner

Europa erneuern

— 30

— 52 Armin Nassehi

Leben ohne Leitbilder

Interview mit Markus Kerber

— 18 Niko Paech

Postwachstumsökonomie

Verantwortung übernehmen Interview mit Katja Fritsche

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Respekt und Wertschätzung


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Inhalt

— 64

— 82 Helga Breuninger

Co-Creation

— 84 Olaf Geramanis

Teamfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und soziale Kompetenz

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Die Universität des 21. Jahrhunderts

— 86

Interview mit Sascha Spoun

— 70 Claus Dierksmeier

Freiheit

Trauer

— 72 Christian Dries

Vernunft

Interview mit Andrea Maria Haller

— 74 — 60 Oliver Tanzer

Wirtschaft mit Kultur Interview mit Nils Goldschmidt

— 92 Johann Jessen

Information und Aufklärung

Kompakt, durchmischt, grün, robust und smart

— 62 Helmy Abouleish

— 94 Marc Elsberg

Ganzheitliche Wirtschaft

Systemwechsel

— 63 Reinhold Messner

Anarchie

Kapitalmarkt für alle Interview mit Christine Bortenlänger

— 96 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek — 98 IMPRESSUM

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Europa erneuern – Markus Kerber

Interview mit Markus Kerber

1963 in Ulm geboren, studierte Dr. Markus Kerber zunächst Universitäten Hohenheim und UCLA in Kalifornien und sammelte erste Berufserfahrung im Investmentbanking für S. G. Warburg und die Deutsche Bank in London. Die aktive Mitgestaltung eines Unternehmens reizte ihn jedoch bald so sehr, dass er ab 1998 den Stuttgarter IT-Dienstleister GFT Technologies als Gesellschafter und Finanzvorstand begleitete. Im Jahr 2003 wechselte er aus der Welt der Wirtschaft in die Welt der Politik. Hier organisierte er zunächst im Innenministerium unter Dr. Wolfgang Schäuble die Islamkonferenz und leitete ab 2009 die Abteilung für finanzpolitische und volkswirtschaftliche Grundsatzfragen im Finanzministerium. 2011 entschied er sich zu einem erneuten Rollenwechsel und übernahm das Amt des Hauptgeschäftsführers beim Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI). Als Vertreter dieses einflussreichsten deutschen Industrieverbands liegt ihm besonders der konstruktive Dialog zwischen Wirtschaft und Politik am Herzen, aber auch die Stärkung Europas als gemeinsamer Kulturraum.

Fotos: Janusch Tschech

Herr Kerber, seit fast zehn Jahren ringen wir in Europa mit einer ernsthaften Krise, die nicht nur eine ökonomische Krise ist, sondern zunehmend auch eine Identitätskrise der europäischen Idee. Eine gemeinsame Wurzel vieler Einzelstreitpunkte scheint darin zu liegen, dass es sehr unterschiedliche Wirtschaftskulturen in Europa gibt: Wie man Geld spart, ausgibt und verleiht oder welchen Stellenwert wir der Familie, dem Staat und der Erwerbsarbeit zumessen, unterscheidet sich stark von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat. Teilen Sie die immer populärere Einschätzung, dass diese Heterogenität der europäischen Wirtschaftskulturen ein Grundproblem der gegenwärtigen Krise ist?

Ich würde erst einmal die Gegenthese wagen: Ein Grundproblem besteht heute darin, dass wir die ungeheuer reizvolle Vielfalt, die uns Europa bietet, nicht mehr ausreichend wertschätzen. Überlegen wir doch mal: Als Europäer fahren wir ein paar Kilometer und sind in einer neuen Landschaft, einer neuen Kultur und in einem neuen Teil der europäischen Geschichte. Das lieben wir doch alle an Europa! Aber bleiben wir zunächst auf der Diagnose-Ebene: Ich stimme dem Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser zu, dass es vier einflussreiche Wirtschaftskulturen in Europa gibt, die zugleich ein Ausdruck unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklungspfade sind. Zum einen gibt es die nordisch-atlantische Wirtschaftskultur – das sind unsere britischen Freunde und die große Mehrheit der Skandinavier. Zum zweiten gibt es die kontinentaleuropäische Wirtschaftskultur, die vor allem in Deutschland, Frankreich und Teilen Osteuropas gewirkt hat und die seit der Reformation stark vom Ausgleich der konfessionellen Spannungen geprägt ist. Und im Süden Europas gibt es noch einmal mindestens zwei mächtige Wirtschaftskulturen, nämlich die lateinisch-römische, zu der Italien, Spanien und Portugal zählen, sowie die orthodoxe Tradition im Südosten Europas. Grob gesagt haben wir hier im Norden eine entspanntere Beziehung zwischen Bürger und Staat. Die Mehrheit der Menschen hier schätzt den Staat noch immer als verlässlich und ausgleichend ein, auch deswegen, weil es der Staat war, der nach dem Dreißigjährigen Krieg für Befriedung gesorgt und sich nach der Industriellen Revolution in einen funktionierenden Sozialstaat gewandelt hat. Im Süden Europas ist der Staat in den Augen vieler Bürger hingegen nicht neutral oder gerecht in seinem Handeln. Deswegen versuchen die Bürger dort in einem täglichen 11

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Wirtschaftswissenschaften an den


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Weise wirtschaften – I N T E R V I E W

Interview mit Sven Murmann

Fotos: Wolfram Bernhardt

Herr Murmann, Sie haben Philosophie studiert und während Ihres Studiums auch ein philosophisches Magazin mit dem Titel „agora“ redaktionell betreut. Wie sind Sie zur Philosophie gekommen?

Sven Murmann studierte Philosophie und Politische Wissenschaften in München, Cambridge (USA) und Zürich. Er ist Verleger und geschäftsführender Gesellschafter der Murmann Publishers GmbH. Ehrenamtlich engagiert er sich unter anderem im Vorstand der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw). Seit 2002 lehrt er als Dozent Philosophie im Studium Generale an der Bucerius Law School, Hamburg.

Zur Philosophie kam ich als 15-jähriger Gymnasiast, als mir mein Philosophielehrer vorgeschlagen hat, über die Pflichtlektüre im Schulunterricht hinaus auch Texte von Schopenhauer und Nietzsche zu lesen. Noch bevor ich auf Kant stieß, das folgte erst im Studium, wurde ich mit philosophischer Kritik konfrontiert. Mein Interesse für die Philosophie im Sinne kritischen Denkens fiel damals zusammen mit meinem Engagement für Umwelt- und Naturschutz. Schon als Schüler habe ich ein Umweltmagazin gegründet und in diesem Rahmen auch viele Sachbücher gelesen. So begeisterte ich mich schnell für philosophische und politische Fragestellungen, die mit den Herausforderungen unserer Zeit zu tun haben, mit Ethik, Ökologie, Politik und Ökonomie. Da kamen dann vermutlich andere Philosophen als Schopenhauer und Nietzsche ins Spiel …

Ich habe mich während des Studiums mit den klassischen Philosophen wie Aristoteles und Platon und denen des deutschen Idealismus wie Kant und Hegel befasst. Besonders der Ausspruch von Kant „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, seine Neuinterpretation des Sapere aude, hat sich bei mir schnell festgesetzt. Für mich liegt genau darin der Reiz der Philosophie: Wozu sonst sollte man sich seines Verstandes bedienen, wenn nicht, um damit eine bessere Erkenntnis der eigenen Wirklichkeit zu erlangen? Insofern drängt das Denken zur Praxis. Ich bin ganz bei Kant, demzufolge auf die Frage: „Was kann ich wissen?“ automatisch die Frage: „Was kann ich tun?“ folgt. 21


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Verantwortung übernehmen –

Katja Fritsche wurde 1971 in Heilbronn geboren. Heidelberg und dem Referendariat am Landgericht in Heilbronn startete sie ihre berufliche Karriere

Interview mit Katja Fritsche

im Jahr 1997 in der Innenverwaltung. Hier war sie zunächst im Landratsamt Ludwigsburg tätig, bevor sie im Jahr 1998 als Referentin für Innenpolitik an die Landesvertretung Baden-Württembergs in Bonn, später in Berlin abgeordnet wurde. Nach ihrem Wechsel in die Landesjustiz im Jahr 2002 folgten richterliche Stationen in Öhringen und Heilbronn. Beim Amtsgericht Heilbronn war ihr unter anderem das für Straftaten von Jugendlichen und Heranwachsenden

Fotos: Janusch Tschech

Frau Fritsche, wie sind Sie dazu gekommen, in Adelsheim, im tiefsten Odenwald, ein Gefängnis mit lauter „harten Jungs“ zu leiten?

Es hat sich so ergeben, wie es so schön heißt. Ich habe Jura studiert und lange Zeit als Jugendrichterin in Heilbronn gearbeitet. Wenn ich damals angeklagte Jugendliche zu einer Freiheitsstrafe verurteilt habe, stellte ich mir oft die Frage: Was passiert eigentlich mit den Jungs im Gefängnis? Was macht so eine Zeit im Gefängnis mit den Menschen? Denn, so erstaunlich es klingt, es ist keine Voraussetzung, dass man ein Gefängnis von innen kennt, wenn man als Strafrichter arbeiten will. Als die Stelle der Leitung der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim dann 2014 frei wurde, habe ich mich kurzerhand darauf beworben – und wurde eingestellt.

zuständige Jugendschöffengericht übertragen. Im Jahr 2013 wurde Katja Fritsche für ein Jahr an die Justizvollzugsanstalt Heilbronn abgeordnet und war dort in der Anstaltsleitung tätig. Nach einer weiteren Abordnung an die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart leitete sie seit Oktober letzten Jahres zunächst kommissarisch die Justizvollzugsanstalt Adelsheim, bevor sie im Januar 2015 offiziell zur Leiterin ernannt wurde. In ihrer Freizeit geht Katja Fritsche gerne wandern, Motorrad fahren oder tauchen. Sie spielt Geige – wenn auch meist nur an Weihnachten.

Was leitet Sie bei Ihrer täglichen Arbeit? Was versuchen Sie, den Insassen zu vermitteln?

Am wichtigsten ist mir Menschlichkeit: Dass wir wie normale Menschen miteinander umgehen. Wenn mir beispielsweise ein Insasse entgegenkommt, schaue ich nicht weg, sondern gehe hin, gebe ihm die Hand. Ich nehme ihn wahr. Manche haben mich am Anfang gefragt: „Wie, dem geben Sie die Hand?“ Meiner Meinung nach ist es aber die Grundvoraussetzung, die Jungs hier als Menschen zu behandeln und nicht als Verbrecher oder Menschen zweiter Klasse, um überhaupt konstruktiv mit ihnen arbeiten zu können. Wenn man ihnen das Gefühl gibt, dass sie nur irgendeine Zellennummer sind, die man aufschließt und zumacht und nur Essen hineingibt, dann ist das ganz, ganz schlecht. Ich glaube nicht, dass übermäßiges Strafen, Isolation oder solche Bootcamps*, die es in den USA gibt und wonach viele am Stammtisch schreien, für irgendetwas gut sind. Das hält niemanden davon ab, eine Straftat zu begehen. In den USA haben sie die härtesten Strafen, aber sie haben nicht weniger Kriminalität als wir. Deshalb halte ich im Vollzug an meinem Leitbild der Menschlichkeit fest und meine es wirklich ernst, wenn ich sage, dass ich mich für die Jungs hier interessiere. Ich bemühe mich zum Beispiel, so schnell wie möglich auf ihre Anliegen zu reagieren und somit jedem Einzelnen zu signalisieren: Hey, ich nehme dich ernst und du kannst dich 31

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Nach dem Jurastudium in


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Erwachsensein

Fotos: Peter Wirtz

Herr Winterhoff, was zeichnet einen erwachsenen Menschen im Unterschied zum Kind aus?

Michael Winterhoff, geboren 1955, ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut. Er studierte von 1977 bis 1983 Humanmedizin an der Universität Bonn. Seit 1988 ist er als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn niedergelassen. Als Sozialpsychiater ist er auch im Bereich der Jugendhilfe tätig. Er befasst sich vorrangig mit psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter aus tiefenpsychologischer Sicht. Von ihm sind zum Thema unter anderem erschienen: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit (Gütersloher Verlagshaus, 2008), Lasst Kinder wieder Kinder sein! Oder: Die Rückkehr zur Intuition (Gütersloher Verlagshaus, 2011), Mythos Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten (Gütersloher Verlagshaus, 2015).

Als Erwachsener ist man in der Lage, für sich und für andere Verantwortung zu übernehmen. Ein Erwachsener trifft klare Entscheidungen und er trifft diese Entscheidungen frei. Er ist vernunftorientiert, umsichtig und vor allem weitsichtig. Sie kritisieren, dass Kindern heutzutage alle Steine aus dem Weg geräumt werden und schreiben, dass wir in einer „Kuschelgesellschaft“ leben, in der man allen Konflikten aus dem Weg geht. Was ist so schlimm am Kuscheln?

Mir geht es nicht ums Kuscheln als solches, sondern vielmehr um die Frage, weshalb keine Persönlichkeitsentwicklung mehr stattfindet. Bis etwa zum Jahr 1995 haben sich Kinder entsprechend ihres Alters entwickelt. Das heißt, sie waren mit drei Jahren kindergartenreif und haben eine Erzieherin als eine Person anerkannt, die etwas zu sagen hat. Mit sechs Jahren wollten Kinder in die Schule gehen, sie waren lernwillig, wissbegierig und haben auch viele Dinge gemacht, zu denen sie keine Lust hatten, wie zum Beispiel Hausaufgaben. Und sie haben eine Lehrerin als solche akzeptiert. Mit 15, 16 Jahren waren Jugendliche schließlich ausbildungsreif, das heißt, sie hatten begriffen, dass es um ihr eigenes Leben geht. Dann war ihre Kindheit abgeschlossen, dann fühlten sie sich nicht mehr gänzlich fremdbestimmt durch die Eltern oder durch die Lehrer. Diese Entwicklungsschritte nehmen heute immer weniger Kinder und Jugendliche. Liegt das daran, dass sich der Erziehungsstil verändert hat?

Nein, die Persönlichkeitsentwicklung hat nichts mit dem Erziehungsstil zu tun. Ich wurde 1955 geboren und wie die meisten meiner Altersgenossen autoritär erzogen. Das war eine Erziehung, die auch Angst machend war; man hat zuhause und in der Schule Schläge bekommen. Dennoch haben sich meine Generation und die folgende zu sehr erfolgreichen Generationen entwickelt – umsichtig, vorausdenkend, kreativ, robust. Natürlich prägt der Erziehungsstil zunächst die Persönlichkeit auf die eine oder andere Weise. Langfristig betrachtet pendelt sich das aber ein. Beispielsweise war ich mit 20 Jahren etwas zu autoritätshörig, was sich dann im Rahmen der 68er-Bewegung gelegt hat. Insofern muss sich heute etwas Grundlegendes verändert haben, und zwar bei den Erwachsenen, die schließlich den Rahmen für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder setzen. 43

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Interview mit Michael Winterhoff


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Trauer –

Interview mit Andrea Maria Haller

Frau Haller, in Deutschland sterben jährlich 860.000 Menschen, doch im Alltag gilt das Leitbild des Verschweigens und Verdrängens. Es wird nur selten über Trauer oder mit Trauernden gesprochen. Woran liegt das?

Wir haben das Glück, in einer gut funktionierenden Gesellschaft zu leben, in welcher der Tod nicht mehr alltäglich ist. 90 Prozent der Bevölkerung stirbt in einem Alter über 65 Jahre. Das heißt, dass man den Tod während des Großteils seines Lebens nicht befürchten muss und ihn ein wenig zur Seite schieben kann. Gleichzeitig hat das zur Folge, dass die Menschen, die jemanden verlieren, plötzlich das Gefühl bekommen, die Seiten zu wechseln. Auf der einen Seite gibt es die Menschen, die mit dem Tod vertraut sind, und auf der anderen jene, denen er fremd ist. Erstere bilden auf einmal einen ganz neuen Kreis und erleben eine Distanz zu denen, die diese Erfahrung nicht kennen. Was ist Trauer eigentlich?

Andrea Maria Haller ist Bestatterin, hält Trauerreden und leitet zusammen mit ihrem Bruder das größte private Bestattungsunternehmen BadenWürttembergs, das Bestattungshaus Haller in Stuttgart. Sie ist Herausgeberin des Magazins LebensZeiten.

Wenn jemand stirbt, dann sind die ersten Gefühle Schmerz, Schock, Angst, Schrecken; oft auch Erleichterung, wenn jemand lange krank war. Die richtige Trauer fängt erst nach dem Abschied an. Dieses „um das kreisen, was einem fehlt“, das kommt nicht in den ersten zwei Wochen, sondern erst, wenn die Familienmitglieder oder Freunde weggegangen sind, wenn diese wieder ihr eigenes Leben leben und man jeden Abend heimkommt in eine leere Wohnung. Dann beginnt erst der Trauerprozess. Man trauert aber auch nicht die ganze Zeit, sondern man hat Momente, wo es unglaublich weh tut, man sich total leer fühlt, man Sehnsucht hat und sich erinnert. Und man hat Momente, in denen man sich dem Leben zuwendet, sich freut, arbeiten will und neue Bekanntschaften schließt. Und dann fällt man wieder zurück ins Erinnern und in die Sehnsucht und in den Schmerz und in das Sterbenwollen. Dieser Wechsel ist der Trauerprozess. Das Modell der Trauerphasen, die man nacheinander durchläuft und dann ist alles abgeschlossen, ist veraltet. Tatsächlich verlaufen diese Phasen parallel und wechseln sich ab. Es gibt keine zeitliche Abfolge. Das macht es so schwierig für andere, mit einem Trauernden umzugehen. Wenn jemand immer traurig ist, ist das einfach einzuschätzen. Aber dann ist da jemand, der ist zwei Tage lang traurig und dann geht’s ihm wieder gut – und dann ist er plötzlich wieder traurig. Das ist für den Trauernden wie für das Umfeld gleichermaßen schwer auszuhalten.

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Fotos: Wolfram Bernhardt


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Sascha Spoun ist seit 2006 Präsident der Leuphana Universität Lüneburg und

Die Universität des 21. Jahrhunderts – Interview mit Sascha Spoun

Gastprofessor für Universitätsmanagement an der Universität St. Gallen. ten und Politikwissenschaften in Ann Arbor, München, Paris und St. Gallen, wo er für zwei Jahre auch Präsident der Studierendenschaft war. Neben seiner Tätigkeit als

Fotos: Thomas Oswald

Gastprofessor an der Universität St. Gallen lehrte er von 2004 bis 2010 an der Universität Zürich. Seine Forschungsarbeiten widmen sich dem Public Management sowie Zielen, Inhalten, Methoden und Ergebnissen der Hochschulentwicklung. An der Universität St. Gallen leitete er von 1999 bis 2006 das Reformprojekt „Neukonzeption der Lehre“ – eine fundamentale Umstellung des Studiums auf Bachelor und Master – sowie die Einführung verschiedener didaktischer und organisatorischer Innovationen. Er war unter anderem programmverantwortlich für das Kontextstudium (Handlungskompetenz), die Startwoche sowie das Coaching- und Mentoringprogramm. Unter anderem publizierte er den Herausgeberband Studienziel Persönlichkeit (2005), das Lehrbuch Erfolgreich Studieren (2004) und Die Stadt als Perspektive. Zur Gestaltung und Theorie urbaner Visionen (2006).

Herr Spoun, welche Aufgaben hat eine Universität im 21. Jahrhundert?

Eine Universität hat im Wesentlichen vier Aufgabenbereiche beziehungsweise Funktionen. Der erste und grundlegende ist jener der Forschung, das heißt, Fragen zu stellen und Erkenntnisse zu gewinnen. Dabei zeichnet sich die Universität durch die Freiheit aus, nicht nur aktuelle oder gar vorgegebene Probleme in den Blick zu nehmen. Forschung ist auf die Freiheit angewiesen, Fragen aufwerfen zu können, die weder im fachlichen Mainstream behandelt werden noch auf der politischen Agenda stehen. Dies geschieht auch aus dem Bewusstsein heraus, dass Erkenntnisse ganz unerwartet oder an Schnittstellen entstehen können. Die zweite Aufgabe ist die Lehre. Hier geht es um drei Ziele, zum Ersten natürlich darum, jungen Menschen eine wissenschaftlich fundierte Berufsvorbereitung zu ermöglichen. Zum Zweiten sollte eine Universität einen Rahmen schaffen, in dem die eigene Persönlichkeit und Identität – im Kontext verschiedener Lebenswirklichkeiten – reflektiert und weiterentwickelt werden kann durch die anstrengende wie verunsichernde wissenschaftliche Auseinandersetzung. Zum Dritten sollte sie die nötigen Voraussetzungen schaffen, damit Studierende wie Ehemalige sich am gesellschaftlichen und politischen Leben beteiligen können. Das dritte Arbeitsfeld wird traditionell als Transfer bezeichnet, aber man kann es auch mit den Begriffen Kooperation oder Zusammenarbeit beschreiben. Da geht es um die Frage, wie die Universität durch ihre Forschung und durch weitere Formate zur technischen und gesellschaftlichen Innovation beitragen kann. Wie kann die Universität – auch mit Unternehmen – zu deren Veränderung und Fortschritt beitragen? Wie können zivilgesellschaftliche Initiativen, zum Beispiel bei der Betreuung und Integration von Flüchtlingen, unterstützt werden? Wie kann der Staat sich demokratischer und wirksamer organisieren angesichts von Digitalisierung und Globalisierung? Wie können relevante Differenzierungen und neue Ideen aus der Wissenschaft Teil verschiedener Praxen werden? In diesem Bereich haben die Universitäten noch ein großes Potenzial. Allerdings muss man aufpassen, dass durch die Tätigkeit in diesem Bereich die Voraussetzungen und Hauptaufgaben der Universität, Forschung und Lehre, nicht in Frage gestellt oder beeinträchtigt werden. Es geht also darum, diese zu ergänzen und zu erweitern. 65

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Er studierte Wirtschaftswissenschaf-


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Kapitalmarkt für alle – wurde 1966 in München geboren. Sie absolvierte nach dem Abitur

Interview mit Christine Bortenlänger

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Christine Bortenlänger

eine Banklehre bei der Bayerischen Vereinsbank AG. Danach studierte sie Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit den Schwerpunkten Bankbetriebswirtschaftslehre und Systemforschung. 1996 erfolgte die Promotion zum Thema „Börsenau-

Fotos: Janusch Tschech

tomatisierung – Effizienzpotenziale und Durchsetzbarkeit“. Nach verschiedenen Beratungsprojekten im Bereich Strategie und Organisation von Unternehmen im Finanzbereich stieg sie 1998 als stellvertretende Geschäftsführerin bei der öffentlich-rechtlichen Börse München ein, deren Geschäftsführerin sie von 2000 bis zum 30. Juni 2012 war. Am 1. September 2012 wurde sie Geschäftsführender Vorstand des Deutschen Aktieninstitutes, deren Mitglieder 80 Prozent der Marktkapitalisierung deutscher börsennotierter Aktiengesellschaf-

Frau Bortenlänger, das Deutsche Aktieninstitut setzt sich dafür ein, in Deutschland die Aktienkultur zu stärken. Was darf man sich darunter vorstellen?

Das Deutsche Aktieninstitut hat eine lange Tradition. Es wurde im Jahr 1953 als „Arbeitskreis zur Förderung der Aktie“ gegründet. Damals verbanden sich zehn börsennotierte Industrieunternehmen und Banken, um die Akzeptanz und die Attraktivität der Aktie zu fördern. Damit leistete der Arbeitskreis ganz im Sinne der Regierung Konrad Adenauers und Ludwig Erhards einen wichtigen Beitrag für ein wirtschaftliches Umfeld, in dem sich deutsche Unternehmen für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg das so wichtige Eigenkapital beschaffen konnten. Gleichzeitig trug der Arbeitskreis dazu bei, dass sich die Rahmenbedingungen für die Vermögensbildung der Deutschen verbesserten. Prinzipiell jeder konnte sich mit dem Kauf von Aktien auch mit kleinen Geldbeträgen an Unternehmen beteiligen. Ganz nach dem Motto „Eigentum für alle“ wurde die soziale Komponente der Marktwirtschaft gestärkt und die Bevölkerung profitierte vom Nachkriegsaufschwung. Insofern war und ist eines unser Hauptanliegen, der Aktie als Anlageform für Privatpersonen mehr Akzeptanz zu verschaffen.

ten repräsentieren. Frau Bortenlänger sitzt in zahlreichen Aufsichtsräten wie Covestro, OSRAM, SGL Carbon und TÜV Süd und ist Mitglied in unterschiedlichen Gremien, wie dem Senat der Deutschen Nationalstiftung und des Börsenrates der Frankfurter Wertpapierbörse.

Oft hört man das Argument, dass eine Geldanlage in Aktien für den Otto Normalverbraucher viel zu riskant ist. Wie stehen Sie dazu?

Wenn man sich die Entwicklung des DAX 30 seit 1965 ansieht, stellt man fest, dass man mit der Investition in Aktien in den allermeisten Fällen sehr gute Renditen erzielt hat. Selbst wenn man Aktien zu dem Zeitpunkt gekauft hat, als ihre Kurse bereits hoch waren. Ganz generell ist dabei zu beachten: Aktien sind etwas für eine langfristige Anlage. In dem von uns jährlich berechneten Rendite-Dreieck sieht man, dass ab einer Haltezeit von 13 Jahren – egal zu welchem Kurs man investiert hat – keine Verluste mehr zu verzeichnen sind. 75


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Interview mit Nils Goldschmidt

Herr Goldschmidt, wenn man sich dem Zusammenhang zwischen kulturellen Leitbildern und wirtschaftlichen Prozessen nähern will, gibt es bereits zahlreiche Autoren und Werke, die sich damit befassen. Welche Namen, welche Werke würden Sie für einen Einstieg in eine Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung empfehlen?

Nils Goldschmidt, hat Katholische Theologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Er ist Professor für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung an der Universität Siegen und Initiator des deutschlandweit ersten Masterstudiengangs „Plurale Ökonomik“. Zudem ist er Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft in Tübingen und Mitherausgeber von Schmoller Jahrbuch, Journal of Contextual Economics.

Sie haben Recht: Kultur und Gesellschaft erobern sich Schritt für Schritt wieder einen Platz in den Wirtschaftswissenschaften. Der Beststeller „Warum Nationen scheitern“ von Daron Acemoğlu und James A. Robinson ist hierfür ein gutes Beispiel aus den vergangenen Jahren, genauso wie das Werk „Gewalt und Gesellschaftsordnungen“, das letzte Buch des jüngst verstorbenen Wirtschaftsnobelpreisträgers Douglass North. Beide Bücher kann man uneingeschränkt empfehlen. Aber es kann durchaus auch spannend sein, einmal weiter in die Geschichte zurückzuschauen. Eine historisch relativ frühe Auseinandersetzung mit diesem Thema findet man bereits in der Historischen Schule der Nationalökonomie, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Die Situation damals war gar nicht so ganz anders als heute: Es gab zu dieser Zeit eine forcierte industrielle Entwicklung, die zugleich eine erste Welle der Globalisierung auslöste. Diese Entwicklung erfasste die Länder aber in unterschiedlicher Weise – und auch mit einem je unterschiedlichen Tempo. So gehörte Deutschland im Vergleich zu England oder Frankreich eher zu den „Spätzündern“ der Industriellen Revolution. Diese Erfahrungen wurden für die Historische Schule zum Ausgangspunkt, über Prozesse wirtschaftlicher Entwicklung in ihrer Verbindung zu gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Prozessen nachzudenken. Prominente Denker dieser Richtung waren beispielsweise Wilhelm Roscher, Bruno Hildebrand, Karl Knies, aber insbesondere Gustav Schmoller. Ich kann nur dazu ermuntern, auch einmal einen Blick in die Schriften dieser scheinbar verstaubten Autoren zu werfen. Der Blick in die Geschichte des ökonomischen Denkens lehrt nicht selten, die eigene Gegenwart besser zu verstehen. Nebenbei: Ich bin der Überzeugung, dass man diese

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Wirtschaft mit Kultur –


GEDANK ENSPIELE

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21.02.2051 Liebes Tagebuch,

H O R I Z O N T

meine Firma existiert noch, es geht ihr sogar blendend. Sie hat nicht nur den Abriss- und Bauwahn der außer Kontrolle geratenen Architektur-Software überlebt; sie hat davon sogar profitiert. Die Roboter-Manufaktur, für die ich arbeite, ist einer von vier strategischen Partnern, die von der Notregierung mit dem Wiederaufbau der Stadt betraut wurden. Die Notregierung ersetzt den Stadtrat, der durch die Katastrophe hohe Opferzahlen erlitten hatte. Sie ist paritätisch mit intelligenten Algorithmen und menschlichen Politikern besetzt. Seit einer Woche laufen nun die Arbeiten und schon der Anfang verlief holprig. Sofort entbrannte eine Diskussion darüber, in welcher Form die Stadt wieder aufgebaut werden sollte. Einflussreiche Unternehmer plädierten dafür, die Katastrophe als Chance zu begreifen und die Stadt in einer optimierten Form neu entstehen zu lassen. Sie präsentierten umgehend Modelle einer polyzentrischen Stadt mit HyperloopVerkehrsanbindungen und einheitlichen vertikalen Ebenen, mit effizienten Wohnsilos, Arbeitsund Kreativräumen, mit Vertical Farms und Factories. Darüber hinaus war in allen Modellen die Anzahl an Tempeln, Kirchen, Museen und Denkmälern auffällig gering. Analysen hatten gezeigt,

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Gedankenspiele

Dimensionen ein und desselben Gebäudes sehr unterschiedlich wahr, je nachdem, welche Bedeutsamkeit sie dem Gebäude beimessen. Nachdem die Notregierung den Bauplan gebilligt hatte, konnten Druck und Installation der Gebäude beginnen. Leider taten sich die Roboter aus unserer Manufaktur dabei besonders schwer. Physisch waren sie zu entsprechenden Arbeiten ohne Zweifel in der Lage. Es war eher ein kulturelles Problem. Bei den Gebäuden, die sie wieder aufbauten, wichen sie permanent vom Bauplan ab. Es waren zumeist nur Details. Kleine Verzierungen hier und da. Prinzipiell hätte man mit diesem Zuckerbäckerstil leben können, aber es kam auch immer wieder zu Verzögerungen. Unsere Maschinen wirkten ein wenig zu feinsinnig oder feingeistig für die Aufgabe. Wir programmierten den Braincode von einigen Maschinen testweise um; löschten ganze Areale zu ästhetischen Leitbildern, Kreativitätsanspruch und Reflexionsfreudigkeit. Doch – und das war sehr erstaunlich – der alte Code stellte sich in kürzester Zeit wieder her, wenn die Maschinen mit anderen Robotern interagierten. Solange ein Roboter noch über den alten Code verfügte, nordete er die anderen kulturell wieder ein. Ich denke, wir müssen den gesamten Bestand zeitgleich updaten. Mal sehen, ob das klappt. Ich melde mich die Tage wieder. Versprochen! ■

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dass ihr Nutzen einen höheren Platz- und Ressourcenverbrauch nicht rechtfertigte. Dies rief eine große Zahl besorgter Bürger auf den Plan. Sie wollten die Tempel erhalten beziehungsweise in ihrer ursprünglichen Form wieder aufbauen. Nur die Höhe christlicher Kirchen, die ihnen unangemessen erschien, sollte reduziert werden. Man einigte sich schließlich darauf, dass die Stadt weitgehend im Original wieder aufgebaut werden sollte. Lediglich einige unzeitgemäße Denkmäler sollten weichen oder wurden ersetzt. Das Ehrenmal für den unbekannten Soldaten im Norden der Stadt sollte zu einer Gedenkstätte für den unbekannten Roboter umgewandelt werden. Das war ein überfälliges Zugeständnis an die vielen Roboter, die in Minen und Fabriken schufteten, die Alten pflegten, den Müll sortierten und den Meeresboden in gefährlichen Missionen nach Rohstoffen absuchten. Auch die konkreten Wiederaufbauarbeiten gestalteten sich zunächst schwierig, weil ein großer Teil der Baupläne mit dem Stadtarchiv verloren gegangen war. Die Roboter unserer Manufaktur mussten zunächst Erinnerungs- und Gedankenspenden möglichst vieler Stadtbewohner sammeln, um daraus das Original-Stadtbild mit allen Details zu rekonstruieren. Die größte Herausforderung bestand darin, Verzerrungen zu bereinigen. Offensichtlich nehmen Menschen die

Kai Jannek, Director Foresight Consulting bei Z_punkt

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