agora42 4 2015 Vorschau Nutzen

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A G O R A

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Ausgabe 04/2015 | Deutschland 9,80 EUR Ă–sterreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 04/2015

NUTZEN


INHALT

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—3 EDITORIAL —6 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

— 10 DIE AUTOREN — 11 Tom Berthold

— 94 MARKTPLATZ

agora42 in der ehemaligen Maschinenfabrik – Das internationale Sommerfestival 2015 auf Kampnagel — 98 IMPRESSUM

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— 28 Peter Wilde Der Nutzen, den wir wollen

Heute schon Nutzen maximiert? – Die Nutzen-Mechanik der Wirtschaftstheorie

— 34 Lia Polotzek Was nutzt Corporate Social Responsibility?

— 18 Tanja Will

— 40 PORTRAIT

Nützling oder Schädling? – Der Mensch im Fokus — 22 Patricia Nitzsche

Der Kapitalismus und seine Kritik – ein altes Ehepaar

„Das Vergnügliche ist nützlicher als das Nützliche“– Giacomo Leopardi und das Unnütze (von Diana Di Maria) — 48 EXTRABLATT


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Inhalt

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INTERVIEW

H HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 50 Der Morgen danach

Interview mit Srecko Horvat

— 67 Essaywettbewerb der Bayreuther Dialoge 2015 und der agora42

LAND IN SICHT

— 68 Gewinneressay Nr. 1 Martin Urschel

— 84

Diktat der Nützlichkeit? – Neue Perspektiven für den Nutzen — 74 Gewinneressay Nr. 2 Lukas Wetzel

— 82

Tandemploy –Die 15-Stunden-Woche kann kommen Die Revolution der ökonomischen Lehre – Curriculum für Gesellschaftsverbesserer — 90 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

Der Philosoph – Paradebeispiel für einen Nichtsnutz?

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Hier werden Begriffe, Theorien und Ph채nomene vorgestellt, die f체r unser gesellschaftliches Selbstverst채ndnis grundlegend sind.


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DIE AUTOREN

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Tanja Will

Patricia Nitzsche

ist aktives Mitglied im Netzwerk Plurale Ökonomik und Mitbegründer der Dresdener Hochschulgruppe Plurale Ökonomik Dresden.

studierte Soziologie, Ethnologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Sie ist Redakteurin der agora42.

ist Sozialwissenschaftlerin und Redakteurin der agora42.

— Seite 11

— Seite 18

Peter Wilde

Lia Polotzek

hat Sozialwissenschaften, Sozialpädagogik und Abenteuer- und Erlebnispädagogik studiert. Sein Blog: „Ein Winter in Mainz“

absolviert derzeit ihren Master in Politik, Philosophie und Wirtschaft und ist Redakteurin bei der agora42.

T E R R A I N

Tom Berthold

http://petethepionier.blogspot.de

— Seite 28

10

— Seite 34

— Seite 22


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Heute schon Nutzen maximiert? – Die Nutzen-Mechanik der Wirtschaftstheorie

Text: Tom Berthold

»Was sind Denkmodelle? Denkmodelle sind die Gewohnheiten des Geistes. Wie Gewohnheiten, sind sie vielfach unbewußt, aber dennoch nicht weniger wirksam. Sie formen das Denken, geben ihm Richtung und Gestalt, noch bevor eine Beobachtung, eine Anschauung zu ihrer Bestätigung herangezogen wird. Denkmodelle bestimmen in sozialer Resonanz feststehende Überzeugungen. Sie führen ein eigenständiges Leben, das nur mäßig von gegensätzlichen Erfahrungen geprägt wird. Vor aller Wirklichkeitserkenntnis sind Denkmodelle soziale Wirklichkeit.« Karl-Heinz Brodbeck 11


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T E R R A I N

Nützling oder Schädling? — Der Mensch im Fokus

Text: Tanja Will

Wenn ich mein Beet bearbeite, ist folgende Aufteilung klar: Es gibt Nützlinge und es gibt Schädlinge. Nützlinge werden angelockt und Schädlinge mehr oder weniger rabiat beseitigt. So einfach ist das. Liegt es da nicht nahe, den Menschen selbst dieser einleuchtenden Aufteilung zu unterziehen und menschliche Nützlinge von menschlichen Schädlingen zu unterscheiden? 18


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or knapp 200 Jahren fand Joseph von Eichendorff in der Unterscheidung zwischen menschlichen Nützlingen und Schädlingen genug Sprengstoff für seine Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts. Der Taugenichts, der weder tüchtig noch leistungsfähig ist, zählt zu den verträumten Romantikern. Er kennt keinen Ernst des Lebens, sondern nur herausfordernde Abenteuer; er schafft keine Verbindlichkeiten und Zwänge, sondern lebt frei und ungebunden auf Wanderschaft. Spießbürgertum ist ihm langweilig. In Eichendorffs Novelle werden Taugenichtse mit dem Schöngeistigen, aber Nutzlosen eng verbunden: Sie singen, fideln, zupfen auf der Gitarre oder malen – ihr Brot verdienen sie aber nicht. Dem gegenüber stehen bodenständige Berufler wie Bauern, Zöllner oder Gärtner, die in ihren Moralpredigten die Lebensweise der Taugenichtse verurteilen. Ihre Arbeit und ihr Broterwerb verschaffen ihnen das vermeintliche Recht, die „Faulpelze“ zu beschimpfen und ihnen jeglichen Genuss zu missgönnen. Eichendorffs Novelle ist aktueller denn je. „Es wird wieder akzeptiert, Menschen in nützliche und unnütze zu unterteilen“, resümiert der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge in der Wochenzeitung Der Freitag (Februar 2015). Die in den 1970er-Jahren entdeckte Spezies des „Sozialschmarotzers“ verweist darüber hinaus auf das Bestreben, neben dem unnützen, aber harmlosen „Menschenmüll“ auch zu bekämpfende Schädlinge zu identifizieren. Es scheint, dass mit der Zunahme unsicherer Arbeitsplätze, mit steigenden Arbeitslosenzahlen, grassierenden Burn-outs und depressiven Erkrankungen die Toleranz für „unnütze“ Menschen sinkt. Ja, mehr noch, Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen, sondern die Staatskasse leeren, geraten zunehmend unter Rechtfertigungsdruck und sehen sich mit Anfeindungen konfrontiert. Die spärlich gesäten, meist betagten Festangestellten können sich hingegen entspannt zurücklehnen. Sie gelten als „nützlich“. Für eine vom Wohlstandschauvinismus und Sozialdarwinismus geprägte Massengesellschaft wird das Land zum Beet und werden Menschen zu Schädlingen.

Was nutzt?

Wie erstaunlich, dass vor unserer Zeitrechnung, vor den erlösenden Worten Jesu und der christlichen Morallehre ganz andere, versöhnlichere Worte fielen. Marcus Tullius Cicero, der berühmte römische Politiker und Schriftsteller, wusste: „Nächst Gott aber ist das nützlichste Wesen für den Menschen der Mensch.“ Der gläubige Cicero erwähnt nur am Rande, dass selbstverständlich nur ein Gott keinen Schaden anrichten könne. Gott verkörpere den reinen Nutzen. Doch die Tatsache, dass der Mensch – wie alle Lebewesen – Schaden anrichten kann, bedeutet für Cicero nicht, dass er ein Schädling ist. Im Gegenteil bemerkt Cicero etwas viel Grundlegenderes und Erstaunlicheres: den verbindenden und erhöhenden Aspekt des Nutznießens. Er wird nicht müde, Gegenstände aufzuzählen, die durch menschlichen Fleiß und Einfallsreichtum zu nützlichem Alltagsgut geworden sind. Gegenstände, die ohne ihren vom Menschen erkannten und herausgearbeiteten Nutzen nur nutzloses Zeug geblieben wären. Eine Unterscheidung in Menschen, die nützlich sind, und jene, die unnütz sind, interessiert Cicero nicht. Der Mensch ist für ihn per se nützlich. Ein Ausflug in die Wortgeschichte des Nutzens zeigt dessen menschliches Antlitz: Nutzen stammt von dem Wort nießen ab und bezeichnet etwas, das man genießt, das einem äußerlich oder innerlich zugute kommt, aus dem man etwas zieht, das dienlich und tauglich ist. Diese Definition des Nutzens bezieht sich nicht nur auf materielle Dinge. Gespräche, Musik, Düfte und Wetterlagen können ebenso von Nutzen sein wie ein Schuhlöffel. Welche Dinge für jemanden tatsächlich von Nutzen sind und welche nicht, kann nicht absolut definiert werden. Nutzen wird erzeugt, empfunden und hergestellt – er ist relativ. Genauer gesagt: Es lassen sich Dinge nutzbar machen, ohne per se für jeden nützlich zu sein. Der Nützling, der sich durch seinen gottgleichen Nutzen auszeichnet und niemandem schadet, ist in etymologischen Lexika deshalb nicht zu finden: Es gab ihn schlichtweg nicht. Es gab nützliche Handlungen, Dinge von Nutzen oder das Nießen von Gegenständen und Personen. Für das Suffix „-ling“, das eine Person durch ihren totalen Nutzen charakterisiert, reichte es aber nicht. 19

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Nützling oder Schädling?


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Der Nutzen, den wir wollen Text: Peter Wilde

Ich tue nichts ohne meinen Nutzen. Was ich auch beginne: Das Nutzen-Kalkül nimmt die Verfolgung auf. Ich sehe es näher kommen. Es setzt mich unter Druck. Vor allem dann, wenn mir nicht klar ist, worin sein Nutzen eigentlich besteht. Ein Essay über die Unmöglichkeit, das Kosten-Nutzen-Kalkül abzuhängen – und warum wir ihm gar nicht entkommen müssten. 28


E HOMO OECONOMICUS In Abwandlung von Homo sapiens (von lateinisch homo = Mensch und sapiens = weise) bezeichnet Homo oeconomicus (Wirtschaftsmensch) in der Wirtschaftstheorie das Modell eines ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkenden und handelnden Menschen. Der Homo oeconomicus ist auf die Maximierung des eigenen Nutzens bedacht und vollständig über das Marktgeschehen informiert.

s ist wie in einem mittelprächtigen Horrorfilm: Die Protagonistin hat den Zombie endlich zur Strecke gebracht. Es scheint, als sei die Spannung raus. Aber der geneigte Zuschauer ahnt: Mindestens ein letztes Aufbäumen wird es geben. Nervös ruckelt man im Sessel hin und her und möchte schreien: „Achtung! Der steht noch mal auf!“ Auch beim Homo oeconomicus wähnten sich Teile des Publikums bereits in Sicherheit. Obwohl sie es besser wissen müssten. Vieles deutet zwar auf sein zeitnahes Ableben hin: öffentliche Kühlschränke, die freiwillig bestückt werden, damit sich dort Lebensmittel abholen kann, wer möchte; Communities wie Couchsurfing oder Warm Showers, wo Reisenden ohne Gegenleistung Schlafplatz, Dusche und mehr angeboten wird; ehrenamtliches Engagement in vielen Bereichen der Gesellschaft. Davon lässt sich jedoch kaum beruhigen, wer die mit Mitfahrgelegenheiten vollgestopften Autos sieht, mit denen Fahrer/innen ihre Portokasse aufbessern – auf Strecken, die sie ohnehin gefahren wären; oder die Produktionsstätten und Konzerne dieser Welt, in denen Menschen beschäftigt sind, die für die gleiche Arbeit unterschiedlich viel Geld bekommen. Warum mehr ausgeben als nötig? Oder nicht gleich doppelt abkassieren? Ist da jemand doch nicht ganz so leicht totzukriegen?

Zugegeben: Der Horrorfilm-Vergleich hinkt, denn die Urheber des Homo Oeconomicus waren keineswegs mit dem Ziel angetreten, einen Zombie zu erschaffen. Der „Ho“ ist zunächst weder gut noch böse. Das liegt vor allem an der Grundidee: Sein Wesen schließt moralische Erwägungen und Fragen des guten Gewissens der Einfachheit halber aus. Angetreten ist er lediglich, um Entscheidungen von Marktteilnehmern vorauszusagen. Dabei wird vorausgesetzt, dass Akteure zum eigenen Vorteil und mithilfe rationaler KostenNutzen-Rechnungen das für sie wirtschaftlich Sinnvolle tun – und dieses bei vollständigem Wissen über die Vielfalt der Optionen. Ein echter Unsympath ist er für viele möglicherweise deshalb geworden, weil er zwischen Gangstern und Samaritern keinen Unterschied macht – und obendrein Pate steht für die Ökonomisierung der Gesellschaft und ihre fatalen Folgen. Um sich auf die Suche nach der Zukunft des Nutzens zu begeben, kann die Auseinandersetzung mit dem „Ho“ eine gute Ausgangsbasis darstellen. Wir werden jedoch sehen, dass er als mikroökonomisches Konstrukt schon heute weitaus weniger unseren Lebensalltag bestimmt, als man annehmen könnte. Selbst in den Reihen der Marktgläubigen hat er bereits an Sex-Appeal verloren. Wer aber hat dann noch ein Wörtchen mitzureden, wenn es

»Achtung! Der steht noch mal auf!«

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Der Nutzen, den wir wollen


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Was nutzt Corporate Social Responsibility? T E R R A I N Text: Lia Polotzek

Glaubt man den CSR-Berichten vieler Unternehmen, scheinen sie ihre moralische Verantwortung der Gesellschaft gegenüber vorbildlich wahrzunehmen: Sie messen den CO2-Ausstoß, überprüfen die Arbeitsbedingungen in ihren weit entfernten Produktionsstätten und schütten Spenden an lokale Vereine aus. Und das alles über gesetzliche Vorgaben hinaus. Nutzen CSR-Aktivitäten also letztlich allen? Oder trifft die Kritik zu, sie würden dazu dienen, unverantwortliches unternehmerisches Handeln geschickt zu verschleiern? Ist die wachsende Bedeutung des CSRAnsatzes womöglich ein Symptom dafür, dass es Gesellschaft und Politik versäumt haben, klare Regeln für Unternehmen festzulegen? 34


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CSR Corporate Social Responsibility (wörtlich: unternehmerische Gesellschaftsverantwortung) hat sich in Unternehmen, Verbänden, Politik und Interessensgruppen als Fachbegriff für diejenigen Aktivitäten etabliert, die Unternehmen durchführen, um ihrer sozialen und ökologischen Verantwortung der Gesellschaft gegenüber gerecht zu werden. Allerdings gibt es bislang noch keine einheitliche Definition, worin diese Verantwortung genau besteht. Insofern lässt sich auch kaum beurteilen, in welchem Maß ein Unternehmen seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht wird.

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nternehmen sind keine Menschen. Sie haben weder Bewusstsein noch Wünsche oder Ansichten über die Welt. Bereits die Frage, ob man das, was sie tun als „Handlung“ bezeichnen kann, ist philosophisch umstritten, da Unternehmen keinerlei Absichten im menschlichen Sinn besitzen, an welchen sie ihr vermeintliches Handeln ausrichten könnten. Will man das „Handeln“ von Unternehmen dann noch einer moralischen Bewertung unterziehen und ihnen eine moralische Verantwortung zuschreiben, begibt man sich schnell auf philosophisches Glatteis. Es gibt jedoch gute Gründe, Unternehmen trotzdem die Fähigkeit zuzugestehen, moralische Verantwortung tragen zu können. Denn Unternehmen erfüllen wie Menschen elementare Bedingungen der Verantwortungsfähigkeit. Sie weisen eine innere Entscheidungsstruktur auf, können auf gesellschaftliche Forderungen, bestimmte Werte einzuhalten, reagieren und dieses Engagement sogar kommunizieren. Man denke zum Beispiel an die Bemühungen von Unternehmen wie Nike, die Kinderarbeit in ihren Zulieferbetrieben abzuschaffen, nachdem die Zustände in den sogenannten Sweatshops öffentlich angeprangert wurden.

Wem nutzen CSR-Aktivitäten?

Für Unternehmer ist klar: CSR-Maßnahmen sollten dazu dienen, den Nutzen beziehungsweise Profit ihres Unternehmens zu steigern. Die Managementliteratur spricht vom „Business Case for CSR“. Besonders im Bereich des Reputations- und Risikomanagements, zur Steigerung der Energie- und Materialeffizienz sowie der Kunden- und Mitarbeiterbindung sollte CSR nach dieser Sichtweise strategisch genutzt werden. Als positiver Nebeneffekt entsteht dann automatisch ein Nutzen für die breitere Gesellschaft. Dieses Verständnis von CSR löst häufig Kritik aus. Der Tenor: Unternehmen würden, selbst wenn sie mit ihren Maßnahmen auch gesellschaftlichen Nutzen schaffen, aus einer falschen Absicht heraus agieren. Ihr wahres Motiv sei die Profitmaximierung und CSR eine willkommene Möglichkeit, über die Schäden hinwegzutäuschen, die aufgrund ihres Profitstrebens verursacht werden. Diese Kritik suggeriert jedoch, Unternehmen besäßen eine menschliche Intentionalität, an welcher man Anstoß nehmen könnte. Es wird implizit unterstellt, man könnte Unternehmenshandeln mit den Kategorien einer deontologischen Ethik bewerten. Da Unternehmen jedoch gesellschaftliche

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Was nutzt Corporate Social Responsibility?



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Portrait

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„Das Vergnügliche ist nützlicher als das Nützliche“ —

Giacomo Leopardi und das Unnütze Text: Diana Di Maria

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Portrait

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Giacomo Leopardi wird am 29. Juni 1798 in dem kleinen Städtchen Recanati, das damals dem Kirchenstaat angehört und in der heutigen Region der Marken liegt, als erstgeborener Sohn des Grafen Monaldo Leopardi (1776–1847) und der Marquise Adelaide Antici (1778–1857) geboren. Recanati untersteht zu diesem Zeitpunkt der Macht der französischen Truppen unter Napoleon Bonaparte. Der aus einer langen Linie von Aristokraten und Geistlichen stammende Monaldo, der sich beim Einmarsch der Franzosen einer Delegation antifranzösischer Rebellen angeschlossen hatte, wird kurzerhand zu deren Anführer ernannt. Als 1799 der jüngere Bruder Carlo zur Welt kommt, ist Recanati noch immer in französischer Hand und Monaldo droht wegen Aufrührertums die Todesstrafe. Der Schwager Carlo Antici kann letztlich eine Widerrufung des Urteils erwirken. Wieder rehabilitiert, zählt Monaldo, als 1800 Giacomos Schwester Paolina zur Welt kommt, zu den vier höchsten Abgeordneten der Stadt. Im Jahr darauf erfüllt Monaldo sich einen Herzenswunsch, indem er in Recanati die Akademie für Sprache und Dichtung Disuguali placidi aus dem 15. Jahrhundert wiederbelebt und diese in den ersten Jahren ihres Bestehens im heimischen Palais tagen lässt. Giacomo und Paolina werden bald Mitglieder dieses illustren Kreises, der sich gleichermaßen der Verfeinerung der Sprache und der Sitten verpflichtet sieht. Die Gräfin hingegen wird als überaus strenge und gottesfürchtige Frau beschrieben, die selbst ihren Kindern gegenüber distanziert und kühl auftritt. Nachdem sich Monaldo bei einem Geschäft verspekuliert und die Familie aufgrund hoher Rückzahlungen an Gläubiger ihren – dennoch weiterhin aristokratischen Mindeststandards entsprechenden – Lebenswandel stark vereinfachen muss, übernimmt sie auch die Verantwortung über die Finanzen. Das Wunderkind

Das ist das familiäre, moralische, politische und intellektuelle Umfeld, in dem Giacomo Leopardi aufwächst. In Heimunterricht genießen die Kinder bei jesuitischen Lehrern, die Monaldo sorgsam auswählt, eine umfassende humanistische Bildung. In jährlich stattfindenden öffentlichen Prüfungen führen die Geschwister einem größeren Kreis von Freunden und der Familie die Früchte ihrer Studien vor. Giacomo lernt auf diesem Wege zunächst die Schriften Homers kennen (und lieben) und vertieft seinen Unterricht im autodidaktischen und zurückgezogenen, zum Teil nächtlichen Studium in der reich gefüllten väterlichen Bibliothek. Schon ab dem Alter von elf Jahren beginnt er, an ersten literarischen Erzeugnissen – Gedichten, Tragödien, philosophischen Aufsätzen und Epigrammen – zu arbeiten und erwirkt sich infolgedessen die Erlaubnis zur Lektüre der kirchlich indizierten Bücher, für die Monaldo über einen päpstlichen Erlass verfügt und die sich in einem abgeschlossenen Regal der väterlichen Bibliothek befinden. Er lernt Französisch, Spanisch, Latein, Griechisch und Hebräisch, fertigt poetische Übersetzungen an und verfasst schon im Alter von 14 Jahren eine umfangreiche Geschichte der Astronomie von den Anfängen bis 1811. Der Astronomie spricht er als Wissenschaft den Vorrang gegenüber allen anderen Errungenschaften des menschlichen Geistes zu und bezeichnet sie in der Einleitung zum Traktat als die erhabenste und nützlichste derer aller, weil sie Erkenntnis bedingt und damit den Menschen zu veredeln und vervollkommnen vermag. Zugleich klingt hier bereits der an Rousseau geschulte Fortschrittspessimismus an, wenn skeptisch über den tatsächlichen Nutzen der Wissenschaften insgesamt geurteilt wird. Der zu jener Zeit in Europa vorherrschenden romantischen Dichtung steht er in den frühen Jahren seines Schaffens skeptisch gegenüber. So verfasst er 1816 die Lettera ai compilatori della „Bibiloteca italiana“, einen Antwortbrief an die Herausgeber der Zeitschrift, in der zuvor ein Pamphlet der einflussreichen französischen Schriftstellerin Madame de Staël erschienen war. In ihrem Aufsatz Über die Art und Weise und den Nutzen der Übersetzungen wendet sich die Autorin an die italienischen Dichter mit der Auf-

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forderung, sich in ihrer literarischen Produktion an den europäischen Beispielen französischer, deutscher und englischer Autoren ihrer Zeit zu orientieren. Dem Vorschlag begegnet der kaum 18-jährige Leopardi in einem empörten Brief mit einem pathetischen Lobgesang auf das Können der antiken Dichter, die es nachzuahmen gelte. Er offenbart darin seine klassizistische Prägung sowie eine tiefe Abneigung gegen das Finstere und Fantastische der Romantik. Die Replik wird nicht publiziert, aber gerade Madame de Staëls Buch Über Deutschland, welches das Deutschlandbild vieler Europäer stark beeinflusste, wird prägend für Leopardi und seine Vorstellung von der deutschen Literatur. Der Vorschlag des Onkels mütterlicherseits, Carlo Antici, Giacomo in der kirchlichen Akademie in Rom einzuschreiben, scheitert daran, dass Monaldo sich von dem Sohn und „einzigen Freund“ in Recanati nicht zu trennen vermag. Im Jahr 1817 macht Leopardi Bekanntschaft mit dem Literaturkritiker Pietro Giordani, nachdem er ihm seine Übersetzung des zweiten Buches von Vergils Äneis zugeschickt hat. Damit beginnen ein reger Briefkontakt, der Leopardi tiefer in die Debatte um die romantische Dichtung eintauchen lässt, sowie eine ehrliche Bewunderung und enge Freundschaft, die bis zu Giacomos Lebensende halten wird. Giordani, der zwei Jahre älter als Monaldo Leopardi ist, fungiert für Giacomo dabei als Freund und väterlicher Lehrer. Zu dieser Zeit entsteht neben weiteren Dichtungen auch ein Terzinengedicht, Il primo amore (Die erste Liebe), verfasst aus Anlass der unglücklichen Liebe zur Cousine Gertrude Cassi Lazzari und somit das früheste Gedicht, das in die spätere Sammlung der Canti (Gesänge) aufgenommen werden wird. Das neben seiner Dichtung wichtigste Werk Leopardis, der Zibaldone, entsteht ebenfalls ab dem Sommer des Jahres 1817. Es handelt sich dabei um eine Sammlung verschiedener philosophischer, literarischer und sprachtheoretischer Überlegungen. Diese Aufzeichnungen, die im Umfang vom Aphorismus bis zum Traktat variieren, setzt Leopardi bis 1832 fort. Der Titel – Zibaldone – kann mit dem Begriff „Sammelsurium“ wiedergegeben werden und ist inhaltlich etwa zwischen Lichtenbergs Sudelbüchern und Pessoas Buch der Unruhe zu verorten. Der Zibaldone bildet eine wesentliche Quelle für jegliche Auseinandersetzung mit dem Denken und dem Werk Leopardis und ist doch durch seine Ablehnung jeglichen Systems ein komplexes, ungeordnetes und vielschichtiges Werk.

»So geschieht es, dass mir das Vergnügliche über allen Nutzen das Nützlichste zu sein scheint, und die Literatur wahrhaft und sicherlich die nützlichste unter allen diesen staubtrockenen Disziplinen.«

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Giacomo Leopardi und das Unnütze


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Der Morgen danach – Interview mit Srecko Horvat

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Srecko Horvat

Fotos: Janusch Tschech

Srecko Horvat wurde 1983 in Osijek/Kroatien geboren. Er lebte die ersten sieben Jahre seines Lebens im Exil in Deutschland und kehrte 1990 nach Kroatien zurück. Er studierte Philosophie und Linguistik an der philosophischen Fakultät in Zagreb, wo er zurzeit als Dozent tätig ist. Horvat schreibt zudem unter anderem für The Guardian, Al Jazeera, Il Manifesto, El Pais und die The New York Times. Er nahm an zahlreichen Protestbewegungen teil, angefangen bei Fakultätsbesetzungen an der Universität bis hin zu großen Versammlungen in Sarajevo, im Rahmen von Occupy Wall Street in New York und des Weltsozialforums in Senegal und Tunesien. Er ist Mitbegründer und war lange Zeit Direktor des Subversive Festivals in Zagreb, einer der wichtigsten Veranstaltungen zu gesellschaftspolitischen Themen in Südosteuropa. Prominente Gäste waren zum Beispiel Oliver Stone, Slavoj Žižek und Zygmunt Bauman. Im Jahr 2013 waren auch Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis auf dem Subversive Festival, kurz bevor SYRIZA an die Regierung kam. Zuletzt sind von ihm folgende Bücher erschienen: Nach dem Ende der Geschichte – Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung (LAIKA-Verlag, 2013); Was will Europa? Rettet uns vor den Rettern (zusammen mit Slavoj Žižek; LAIKA-Verlag, 2013). Im Winter erscheint The Radicality of Love (Polity Press).

Ich stimme voll mit Ihnen überein, dass die Austeritätsmaßnahmen nicht funktionieren. Aber mit dieser Ansicht stehen wir von der radikalen Linken ja nicht allein. Auch Christine Lagarde vom Internationalen Währungsfond, zahlreiche renommierte Ökonomen, ja sogar zahlreiche deutsche Parlamentsabgeordnete weisen immer wieder darauf hin, dass Griechenland seine derzeitigen Schulden wohl nie wird zurückbezahlen können. Die Tatsache, dass nun dennoch ein neues Rettungspaket beschlossen wurde, das sich grundsätzlich nicht von den vorherigen Rettungspaketen unterscheidet, wirft die Frage auf, warum man wider besseres Wissen dennoch an diesem Weg festhält. Ich wüsste nicht, wie man das erklären sollte, wenn nicht mit Ideologie: Es wird der ideologische Standpunkt eingenommen, dass die Banken ihr verliehenes Geld unter allen Umständen zurückbekommen müssen. Man hätte ja auch darüber diskutieren können, ob die Banken, die Griechenland Geld geliehen haben, nicht einfach unvorsichtig waren und für ihre Fehler nun bezahlen müssen. Aber nein! Stattdessen flossen von den Geldern aus den sogenannten Rettungspaketen 77 Prozent an die Banken und kamen so gar nicht bei den Menschen an, die das Geld wirklich benötigen. Wesentlich interessanter als die Diskussion über das Für und Wider der Austeritätsmaßnahmen ist jedoch eine Entwicklung, die ich in Griechenland beobachtet habe, als ich zuletzt dort war; eine Entwicklung, welche die wenigsten Menschen in Europa kennen und die tatsächlich einen dritten Weg darstellen kann. Denn sie führt zu einer ganz anderen Wahrnehmung der eigenen Rolle in der Wirtschaft und der menschlichen Interaktion. So sind beispielsweise die griechischen Landwirte dazu übergegangen, die sogenannten Marktgesetze einfach zu umgehen. Das begann im Jahr 2009, als die Zwischenhändler den Landwirten aufgrund der Krise große Mengen ihrer Kartoffeln nicht mehr abnahmen und die Landwirte so buchstäblich auf den Kartoffeln sitzen blieben. Damals haben die Landwirte einfach den Zwischenhändler außen vorgelassen und sich direkt an die Abnehmer gewandt. So trivial das klingt, unterscheidet sich diese Form der Wirtschaft doch grundsätzlich von der Art und Weise, wie Wirtschaft heute funktioniert. Schließlich wird dadurch nicht nur die machtvolle Verhandlungsposition der Zwischenhändler durchbrochen, sondern auch die Abhängigkeit von ausländischen Märkten und somit von weltweiten Warenströmen. Da das Beispiel dieser sogenannten Kartoffelbewegung inzwischen Karriere gemacht hat und heute immer mehr Waren in Griechenland direkt von den Erzeugern an die Konsumenten verkauft werden, entwickelt sich dort ein Versorgungssystem, aus dem tatsächlich ein alternatives Wirtschaftssystem hervorgehen kann. In Kreta sind sie sogar noch weiter gegangen und haben eine eigene Währung eingeführt, die regional organisiert ist und sich mehr an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Parallel dazu hat in Griechenland außerdem die Zivilbevölkerung neue Dinge hervorgebracht, beispielsweise rund 40 Kliniken, in denen die Ärzte umsonst arbeiten und wo man kostenlos Medikamente bekommen kann; oder die Suppenküchen, die im ganzen Land für die Bedürftigen eingerichtet wurden. 53

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Angesichts der Entwicklungen in Griechenland wird deutlich, dass Austeritätsmaßnahmen nicht zur Bekämpfung der Krise taugen. Auf der anderen Seite weiß man aber auch, dass eine expansive Geldpolitik – wie sie schon allzu lange betrieben wird – auch keine Lösung ist, weil sie riesige Blasen und neue Krisen produziert. Gibt es noch einen dritten Weg, wie man mit der Krise und ihren Folgen umgehen kann?


Auf zu neuen Ufern! Wie l채sst sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Ver채nderungen herbeif체hren?


H HORIZONT


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Essaywettbewerb der Bayreuther Dialoge 2015 und der agora42

Zu gewinnen gab es eine Freikarte für die Bayreuther Dialoge 2015, ein Jahresabo der agora42 sowie die Veröffentlichung der beiden Gewinner-Essays in der agora42. Wir danken allen, die mitgemacht haben und freuen uns, die Gewinner-Essays von Martin Urschel und Lukas Wetzel auf den kommenden Seiten abdrucken zu dürfen. Viel Freude bei der Lektüre!

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Die Bayreuther Dialoge sind eine Veranstaltung, die jährlich von Studenten des Programms „Philosophy & Economics“ der Universität Bayreuth organisiert werden. Seit 2004 treffen sich jedes Jahr Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer und Studierende in Bayreuth, um Themen an der Schnittstelle von Philosophie und Ökonomie zu diskutieren. In diesem Jahr dreht sich bei den Bayreuther Dialogen alles um das Thema „Nützlicher Mensch – menschlicher Nutzen“. „Das passt!“, dachten wir uns, ist doch auch die vorliegende Ausgabe dem Thema Nutzen gewidmet. So ist eine Kooperation entstanden, deren Sahnehäubchen ein Essaywettbewerb ist, den wir gemeinsam mit den Veranstaltern der Bayreuther Dialoge ausriefen. Viele spannende, originelle und visionäre Texte haben uns daraufhin erreicht, die sich mit folgenden Leitfragen beschäftigt haben:

1. Wohin mit dem ganzen Nutzen? – Zeit den Nutzenbegriff zurecht zu stutzen? 2. Aufwärts, schneller, weiter, besser! Wohin soll uns das denn bringen? Zeit vom Aufwärtstrend abzuspringen? 3. Was nutzt uns wirklich?

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Essaywettbewerb

Gewinneressay

Nr.1

Martin Urschel promoviert seit 2014 an der University of Oxford über kreativitätsfördernde und einengende Strukturen in der deutschen Filmlandschaft, zudem entwickelt er seit 2013 als freier Redakteur im ZDF das fiktionale Programm strategisch weiter.

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Diktat der Nützlichkeit? — Neue Perspektiven für den Nutzen Text: Martin Urschel

Wer nur tut, was nützlich erscheint, verpasst das Beste. In jedem Sinn. Das entspricht der gängigen Kritik am Homo oeconomicus und liegt ganz einfach daran, dass wir nicht immer im Voraus wissen können, was in jeder Situation nützlich sein wird. Wir können nur spekulieren. Wenn ich etwa ein Gebäude baue und die Grundregeln der Statik beherrsche, so ist das nützlich. Denn mit Statik kann ich das Gebäude so bauen, dass es nicht gleich wieder zusammenbricht. Aber wir dürfen nicht vergessen, woher die Regeln

der Statik kommen: Wir haben aus ähnlichen Situationen in der Vergangenheit gelernt und übertragen das, was damals funktioniert hat, auf das aktuelle Projekt. Die Spekulation kann in so einem Fall auf einigen soliden Erfahrungen aufbauen, von denen wir manchmal sagen: „Hier wissen wir, wie diese Sache funktioniert.“ Dabei vergessen wir leicht, dass man nie sicher sagen kann, ob aus der Erfahrung eine so klare Ableitung für den konkreten Fall möglich ist.

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Essaywettbewerb

Gewinneressay

Nr.2

Lukas Wetzel studiert Philosophie und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen.

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Der Philosoph – Paradebeispiel für einen Nichtsnutz? Text: Lukas Wetzel

Studenten der Altphilologie und Kunstgeschichte teilen ein gemeinsames Schicksal mit mir: Sie leiden unter einem Tinnitus, der eigentlich gar keiner ist. Mit einem echten Tinnitus gemeinsam hat dieser Tinnitus, dass er zum ständigen Begleiter geworden ist, sich dabei als äußerst unangenehm erweist

und man ihn wohl nur los wird, wenn man lernt wegzuhören. Doch anstatt mich unaufhörlich piepsend um meine innere Ruhe zu bringen, raubt er mir beständig quasselnd den letzten Nerv: „Aber was fängt man denn bitte mit Philosophie nach dem Studium an?“

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agora42 in der ehemaligen Maschinenfabrik

Das internationale Sommerfestival 2015 auf Kampnagel 94


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aufgeschoben. Und weil diese Melange aus alten Fabrikhallen und Theateraufführungen vom Publikum so gut angenommen wurde, blieben die Hallen stehen. Und so, wie es gerade aussieht, ist die Existenz dieses Kulturorts für weitere 30 Jahre gesichert.

Im Jahr 1865 beschließt der Kongress der Vereinigten Staaten den 13. Zusatzartikel in die Verfassung aufzunehmen, mit dem die Sklaverei auf dem gesamten Gebiet der USA endgültig abgeschafft wird. Im gleichen Jahr schafft das Fürstentum Rumänien als einer der ersten Staaten in Europa die Todesstrafe ab, der Augustinermönch Gregor Mendel stellt die mendelschen Regeln der Vererbung anhand von Pflanzenkreuzungen vor und die Bildergeschichte Max und Moritz von Wilhelm Busch wird zum ersten Mal publiziert. Außerdem wird in Hamburg-Winterhude die Maschinenfabrik „Nagel & Kaemp, Zivilingenieure“ gegründet. Doch während die Sklaverei in Amerika und die Todesstrafe in Rumänien nach wie vor verboten sind, die mendelschen Gesetze weiterhin Bestand haben und Max und Moritz die Bücherregale bevölkern, gibt es die – zuletzt als Kampnagel firmierende – Maschinenfabrik nicht mehr. Einzig die leeren Fabrikhallen existieren noch – und auch das nur aufgrund eines glücklichen Zufalls. Schließlich war der Abriss der Hallen schon beschlossene Sache, nachdem der Betrieb 1981 eingestellt wurde. Doch weil just zu diesem Zeitpunkt das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg aufgrund von Bauarbeiten am Stammhaus ein Ausweichquartier benötigte und dieses in den alten Maschinenhallen fand, wurde der Abriss

Seitdem füllen Kunst und Kultur die Hallen und bieten Inspiration für zahlreiche Festivals auf dem Gelände. Zugleich haben die Verantwortlichen von Anfang an ihren Anspruch – mit ihrem Schaffen einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten – dadurch untermauert, dass der Kulturbetrieb regelmäßig durch Vorträge und Diskussionsrunden ergänzt wird. So ging man beispielsweise beim sogenannten Zukunftscamp, das zur Spielzeiteröffnung 2014 gemeinsam mit der ZEIT-Stiftung ausgerichtet wurde, der Frage nach, ob angesichts von NSA-Skandal, Schuldenkrise, Erderwärmung, Terrorismus, wachsender Ungleichheit und Kämpfen um Ressourcen eine andere Welt möglich oder ob schon alles verloren ist. Zuletzt diskutierte man im Theorieteil des Internationalen Sommerfestivals 2015 die Frage, warum deutsche Medien in der Griechenland-Krise so einseitig und überraschend einstimmig berichteten. Griechenland wurde als „‚Trickser’, a swindler, a ‚Betrüger’, ‚ein unaufrichtiger Kleinkrimineller’, a corrupt little criminal. And also as a undisciplined schoolchild“ beschimpft, wie die Kuratorin des Theorieteils, Margarita Tsoumou, in ihrem Eröffnungsvortrag ausführte. Weil man klarstellen wollte, dass das von den Medien gezeichnete Bild nicht dem wahren Griechenland entspricht, standen die Vorträge und Diskussionsrunden unter dem Motto „This is not Greece“. Und weil es beim Thema Griechenland letztlich um die Frage geht, wie sich Europa künftig definieren und aufstellen will, lagen für die Gäste auch zahlreiche Exemplare der agora42Ausgabe zum Thema Europa bereit.

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