agora42 06/2010 - Krieg light

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06/2010 • 7,90€ (D)


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Altgriechisch ĮȖȠȡĮ Im antiken Griechenland Versammlungsplatz oder Markt im Zentrum einer Stadt Politische, juristische und philosophische Versammlungsstätte freier Bürger Kultisches Zentrum der Polisgemeinschaft Bedeutender Schritt in der Entwicklungsgeschichte der attischen Demokratie

Im ersten Buch von Douglas Adams The Hitchhiker‘s Guide to the Galaxy wird folgende Geschichte erzählt: • Eine weit fortgeschrittene außerirdische Kultur sucht die Antwort auf die Frage aller Fragen, nämlich jene nach „life, the universe and everything“ • Dazu entwickelt und baut sie den Supercomputer Deep Thought • Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren erbringt Deep Thought die Antwort „42“ • Auf die Ratlosigkeit der Erbauer hin entgegnet Deep Thought, dass die Frage nicht präzise gestellt worden sei und schlägt vor, einen von ihm erdachten, noch größeren Computer zu bauen, der fähig ist, die zur Antwort passende Frage zu finden • Dieser Computer wird gebaut und das Programm zur Suche der Frage auf die Antwort wird gestartet • Es stellt sich heraus, dass dieser noch größere Computer der Planet Erde ist


I N H A LT agora42

Personen

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Editorial

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Prolog

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Parallaxe währungskrieg

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Ökonomische Theorien militärstrategen als vorbild für manager

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Philosophische Perspektive mut statt krieg!

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Grundannahmen der Ökonomie krieg – ein schlechtes geschäft

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Herfried Münkler die ökonomie der neuen kriege

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Sandro Gaycken der krieg im netz

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Imke Schmidt konsum – um jeden preis?

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Oliver Eberl ewiger friede? – jenseits des naturzustands

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Jochen Bittner klima-kriege – die konflikte der zukunft

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Interview: Wolfgang Schuster • Jens Loewe Der Konflikt um Stuttgart 21 – Zeichen für eine lebendige Demokratie oder Chance für eine echte Demokratie?

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Portrait carl von clausewitz

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Gedankenspiele

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Zahlenspiele

Auf dem Marktplatz

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Plutos Schatten

Auf dem linken/rechten Auge blind

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Impressum

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P h i l o s o p h i s c h e Pe r s p e k t i v e

MU T STAT T K R IEG! krieg ist, wenn es zu spät ist, wenn die entscheidenden fehler schon gemacht worden sind.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Soldat im Ersten Weltkrieg. Sie laufen auf den gegnerischen Schützengraben zu. Die ersten Gewehrsalven fliegen heran, zwei Kameraden, die vor Ihnen gelaufen sind, fallen. Das Gelände bietet kaum Deckung. Jetzt hören Sie auch das Maschinengewehr des Gegners knattern: „Tack, tack, tack, tack, tack“. Keuchend stapfen Sie weiter durch aufgeweichten Boden. Immer mehr Kameraden fallen, Sie hören die Schreie der Verwundeten. Jetzt läuft niemand mehr vor Ihnen. Die Lage ist aussichtslos. Sie blicken sich um, hoffen auf den Befehl zum Rückzug, wollen nur noch Ihr Leben retten. Aber hinter Ihnen ein Offizier, die Pistole in der Hand – bereit, jeden, der umkehrt, zu erschießen. Verzweiflung, Angst, Panik. Es ist aus. Ein extremes Beispiel. Aber es verdeutlicht, dass jedem Nachdenken über den Krieg etwas Akademisches anhaftet. Welches Verhalten soll man einem Soldaten in der beschriebenen Situation anraten? Selbstmord? Den Offizier erschießen? – Alles Blödsinn. Es gibt schlicht kein richtiges oder falsches Verhalten mehr in einer solchen – oder ähnlichen – Situation. das ist das verwunderliche am thema krieg: man spricht mit ernster miene und ganz vernünftig über den totalen wahnsinn. Im Krieg sind die meisten Beteiligten hoffnungslos mit den Umständen überfordert, oft körperlich und seelisch schwer beschädigt – gewissermaßen

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nur halbe Menschen. Warum soll man sich mit solchen Umständen befassen, wenn man nicht im Krieg ist? Was soll man für Lehren ziehen? Eigentlich nur eine: Augen zu und durch. Aber die bringt uns im Frieden nicht weiter. Natürlich wird man nicht gänzlich umhinkönnen, sich Diskussionen zu stellen, in denen es darum geht, was im Krieg sein darf und was nicht, wie Kriege geführt werden sollen, welche Taktik die richtige ist oder welche Waffen verwendet werden. Kriege gibt es nun einmal und wird es immer geben. Aber viele Kriege könnten eingegrenzt oder ganz vermieden werden. Das ist das Entscheidende, und das kann nur gelingen, wenn man klar und deutlich aufzeigt, was grundsätzlich falsch lief, bevor es zum Krieg gekommen ist.

Ich bin nicht gut Solche Erkenntnis gewinnt man allerdings nicht, ohne sich vor den Spiegel zu stellen. Was Sie da sehen, ist eine potenzielle Killermaschine. Vielen Menschen ist das bewusst (sie können gleich zum nächsten Kapitel springen). Es gibt aber Menschen, die allen Ernstes glauben, nicht in der Lage zu sein, andere Menschen bedenkenlos und massenhaft umzubringen (direkt oder indirekt).

agora42 • Philosophische Perspektive • MUT STATT KRIEG!


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He r f r ie d Münk ler

DIE ÖKONOMIE DE R NEUE N K R IE G E

im gegensatz zum herkömmlichen krieg, an dessen ende eine entscheidungsschlacht und ein friedensabkommen standen, zeichnen sich die „neuen kriege“ vor allem durch ihre unbegrenzte dauer aus. mächtige gruppen sorgen mithilfe einer komplexen kriegsökonomie dafür, dass die versorgungskette des für sie lukrativen kriegs niemals abbricht. dabei spielen insbesondere die verbindungslinien zu den westlichen wohlstandszonen eine wichtige rolle.

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agora42 • Herfried Münkler • DIE ÖKONOMIE DER NEUEN KRIEGE


Die Veränderung in der Art und Dauer von Kriegen, die wir in Deutschland während der letzten Jahrzehnte mehr beobachtet als erfahren haben, ist nicht nur die Folge eines kreativen Wandels der militärischen Strategien und neuer Strukturen bei der politischen Einbettung von Kriegshandlungen, sondern resultiert auch aus neuen Konstellationen der Kriegsfinanzierung wie überhaupt der gesamten Ökonomie der neuen Kriege.

Dass „der Westen“ den Herausforderungen dieser neuen Kriege zumeist ebenso hilf- wie ratlos gegenübersteht, hat wesentlich mit deren elastischer Ökonomie zu tun. Da sich die Versorgungskanäle der Warlords mit den Verbindungslinien der Schattenglobalisierung verbunden oder in anderer Form an die Prosperitätszonen angedockt haben, ist die Ökonomie der neuen Kriege für die westlichen Mächte tendenziell unangreifbar. Sie wird

agora42 • Herfried Münkler • DIE ÖKONOMIE DER NEUEN KRIEGE

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Der Rückgriff auf moralische Wertungen sollte das einseitige Gewicht ökonomischer Faktoren ausgleichen. über diese Verbindungslinien letztlich durch die Friedensökonomie der reichen Länder in Schwung gehalten. Eine Folge dessen ist die schier grenzenlose Durchhaltefähigkeit der neuen Kriegsökonomien. Sie hat dazu geführt, dass sich einige dieser neuen Kriege über Jahrzehnte hinziehen und es nicht absehbar ist, dass sie infolge wirtschaftlicher Erschöpfung enden oder durch eine konsequent durchgeführte Wirtschaftsblockade beendet werden können. Vor allem haben sich in den neuen Kriegen mächtige Gruppen herausgebildet, die buchstäblich vom Krieg leben und demzufolge kein Interesse an dessen Beendigung haben. Sie sind die strategischen Vetospieler einer jeden Pazifizierungsintervention, und wer sie nicht auf seiner Rechnung hat, wird zwangsläufig an ihnen scheitern. ohne eine sorgfältige beschäftigung mit den ökonomischen strukturen der neuen kriege bleiben interventionen zu deren beendigung mit grosser wahrscheinlichkeit erfolglos. Bislang gibt es jedoch keine überzeugende Antwort auf die Frage, wie die Ökonomien der neuen Kriege in robuste Friedensökonomien transformiert werden können. das wichtigste merkmal einer friedenswirtschaft ist das vertrauen der menschen, dass sie die früchte ihrer arbeit morgen geniessen können und diese ihnen nicht mit Gewalt weggenommen oder zerstört werden. In Verbindung mit den Wohlstandsversprechen der EU und einer beachtlichen Truppenpräsenz ist das auf dem Balkan gelungen; in Afghanistan und andernorts hingegen nicht. Gleichzeitig wächst die Gefahr, dass die Ökonomien der neuen

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Kriege die Friedensökonomien der Prosperitätszonen „infizieren“, das heißt immer tiefer in sie eindringen und sich in ihnen dauerhaft festsetzen.

Klassische Staatenkriege: nur begrenzt durchhaltefähig Um die weitreichenden Folgen der neuen Kriegsökonomien zu verstehen, ist ein Vergleich mit der Ökonomie herkömmlicher Kriege hilfreich. Die klassischen zwischenstaatlichen Kriege endeten entweder durch die militärische Entscheidung auf dem Schlachtfeld oder infolge der wirtschaftlichen Erschöpfung einer der kriegführenden Parteien. Diese bat um Waffenstillstand und schloss Frieden, weil die für die Fortführung des Kriegs erforderlichen Ressourcen nicht mehr vorhanden waren oder der Verbrauch der noch vorhandenen Mittel und Kräfte politisch schwerwiegendere Folgen gehabt hätte als das Eingeständnis und die Hinnahme der Niederlage. Demgemäß waren Strategien, die auf das Abschneiden der feindlichen Truppen von ihren Versorgungslinien oder gar die Lähmung des gesamten gegnerischen Wirtschaftslebens abzielten, in den klassischen Staatenkriegen immer ein geeignetes Mittel der Kriegführung; vor allem die großen Seemächte haben sich seiner bedient, da sie kaum daran interessiert waren, mit jedem beliebigen Herausforderer eine direkte militärische Konfrontation einzugehen. Der Einsatz ihres Militärs zielte dann nicht auf die „gepanzerte Faust“ des Gegners, sondern auf dessen Blut- und Nervenbahnen, auf seine Sehnen und Gelenke. Häufig war auch vom „weichen Unterleib“ die Rede, den zu attackieren sehr viel effektiver und kostengünstiger war, als sich auf einen längeren Schlagabtausch einzulassen. Aber nicht alle Akteure waren zu einer solchen Strategie in der Lage, zumal dann nicht, wenn es sich um eine Landmacht handelte, deren Stärke und Reputation auf einem kriegserprobten Militärapparat beruhte. Für sie galt die Einmischung ökonomischer Faktoren in die Kriegführung als „unritterlich“. Aber wenn der Vorwurf der Feigheit und Hinterhältigkeit

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keine Wirkung erzielte und die Gegenseite bei ihrer Strategie der wirtschaftlichen Strangulation blieb, blieb den „Ritterlichen“ nichts anderes übrig, als den Krieg nach den Regeln der Gegenseite zu führen. Durch den unterschiedlichen Zugriff auf ökonomische Faktoren als Bestandteil der Kriegführung wurden die im Prinzip symmetrischen Konstellationen der Staaten asymmetrisch überformt. In Reaktion darauf suchten die durch die Asymmetrie ins Hintertreffen Geratenen den Krieg zu moralisieren und insistierten auf einem Ethos des Kampfs, in dem die ökonomische Durchhaltefähigkeit keine Rolle spielen sollte. Die deutsche Benennung Englands als perfides Albion ist dafür ein Beispiel. Der Rückgriff auf moralische Wertungen sollte das einseitige Gewicht ökonomischer Faktoren ausgleichen. Perfides Albion: Der Ausdruck „perfides Albion“ (perfide: boshaft, hinterhältig; Albion: alter Name für Großbritannien) stammt aus einem 1793 verfassten Gedicht des Augustin Marquis de Ximenez und bezeichnet die angebliche Hinterhältigkeit der englischen Außenpolitik. Berühmt wurde der Ausdruck, weil Napoleon ihn verwendete, um damit die, aus seiner Sicht, skrupellose Machtpolitik Englands zu bezeichnen. Im deutschen Sprachraum wurde der Ausdruck insbesondere im Zeitraum von 1890 bis 1918, der durch zunehmende Spannungen zwischen Deutschland und Großbritannien und schließlich den Ersten Weltkrieg geprägt war, häufig verwendet.

Die neuen Kriege: außerhalb jeder Kontrolle Bei der Herstellung von Kriegführungsfähigkeit wie bei der Kriegführung selbst spielte also neben den genuin militärischen Faktoren immer auch die wirtschaftliche Potenz eine Rolle: als Faktor der Stärke, der die eigene Durchhaltefähigkeit erhöhte, aber auch als Element der Verwundbarkeit, das zu attackieren oftmals attraktiver war, als sich den Unwägbarkeiten des Kriegsglücks auf dem Schlachtfeld anzuvertrauen. Die Staaten waren somit bestrebt, ihre Durchhaltefähigkeit für den Notund Ernstfall eines Kriegs zu erhöhen, und dafür exerzierten sie nicht nur ihre Soldaten, sondern legten auch Depots sowie eine entsprechend gefüllte Kriegskasse an und suchten bei Rüstungswettläufen mitzuhalten.

Im Zeitalter des Nationalismus kamen zur Kriegskasse noch Sondersteuern und Kriegsanleihen dazu. Kurzum: Die gesamte Palette der Kreditschöpfung und Verschuldung wurde ins Spiel gebracht. So konnte man die Durchhaltefähigkeit im Kriegsfall erhöhen; das änderte aber nichts daran, dass diese Durchhaltefähigkeit prinzipiell begrenzt war: Wenn die Ressourcen einer Seite erschöpft waren, war der Krieg zu Ende. eines der merkmale der neuen kriege ist, dass sie endlos dauern und eine beendigung der kampfhandlungen infolge von ressourcenerschöpfung nicht festgestellt werden kann. Nun ließ sich derlei bereits in der Ära der „Stellvertreterkriege“ beobachten, als die Supermächte USA und Sowjetunion je eine der kriegführenden Parteien – Regierung oder Aufständische – mit Waffen, Munition und anderen Hilfsgütern versorgten und so deren militärische wie ökonomische Durchhaltefähigkeit sicherstellten. Infolgedessen wurde die Führung von Kriegen durch Parteien möglich, die von sich aus dazu nie und nimmer in der Lage gewesen wären. Und gleichzeitig waren diese Kriege nicht durch Ressourcenerschöpfung oder Zerstörung der ökonomischen Infrastruktur zu beenden, denn die Nachschubbasis lag außerhalb des Kriegsgebiets und war nicht angreifbar – außer man riskierte, einen regional begrenzten Krieg zu einem Weltkrieg eskalieren zu lassen. Das war das amerikanische Dilemma in Vietnam. Aber es war auch klar, dass diese Kriege endeten, sobald eine der Supermächte den Versorgungshahn zudrehte. Die Entscheidung über die Fortdauer des Kriegs lag also in Washington, Moskau, gelegentlich in Peking und mitunter auch in einer der europäischen Hauptstädte. Aber mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem bereits zuvor erfolgten Kurswechsel Chinas war die Ära dieser Stellvertreterkriege zu Ende. – Wie war es also möglich, dass auf sie Kriege folgten, für die charakteristisch ist, dass die großen Mächte sie nicht mehr durch das Auf- und Zudrehen der Geldhähne und Waffenlieferungen steuern? – die ökonomien der neuen kriege haben sich gegenüber den grossen mächten verselbstständigt. Sie saugen aus den Prosperitätsöko-

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agora42 • Imke Schmidt • KONSUM – UM JEDEN PREIS?


Imke Schmid t

KON S U M  U M J E DE N PR E I S ?

als bürger einer industrienation steht uns, über lebenswichtige güter wie nahrung, wasser und sicherheit hinaus, eine fülle von produkten und dienstleistungen fast selbstverständlich zur verfügung. konsumoptionen sind zweifellos ein indiz für persönlichen und volkswirtschaftlichen wohlstand. der gedanke aber, dass konsum auch zu wirtschaftlicher armut und politischem ungleichgewicht zwischen arm und reich bis hin zu kriegen führt, wird häufig verdrängt.

agora42 • Imke Schmidt • KONSUM – UM JEDEN PREIS?

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O l i ve r E b erl

E W IG E R F R IE DE? Je n s e i t s d e s Nat u r z u s t a n d s

immanuel kant legt in seiner schrift zum ewigen frieden (1795) dar, dass sich der krieg nicht allein durch seine moralische verurteilung abschaffen lässt. zu leicht fällt es den monarchen, ihre bereitstehenden heere in die schlacht zu schicken, wenn sie sich beleidigt fühlen oder eine vergrösserung ihres landes anstreben. doch allein mit der abschaffung der stehenden heere und ihrer umwandlung in milizen ist kant zufolge der frieden nicht zu gewinnen. seiner meinung nach gibt es strukturelle gründe für den krieg. deshalb müssten die gesamten rahmenbedingungen verändert werden.

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agora42 • Oliver Eberl • EWIGER FRIEDE? – JENSEITS DES NATURZUSTANDS


agora42 • Oliver Eberl • EWIGER FRIEDE? – JENSEITS DES NATURZUSTANDS

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agora42 • Interview mit Wolfgang Schuster und Jens Loewe • DER KONFLIKT UM STUTTGART 21


DER KONFLIKT UM STU T TG ART 21  Zeichen für eine lebendige Demokratie oder C hance für eine echte Demokratie? I n te r v i e w m i t Wol f g ang S chus ter und Jens L o e we

Fotos: Björn Geissler (www.monow.de) und Wolfram Bernhardt

agora42 • Interview mit Wolfgang Schuster und Jens Loewe • DER KONFLIKT UM STUTTGART 21

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stuttgart 21 steht längst für mehr als nur ein bauprojekt. im protest der bürger drückt sich eine generelle unzufriedenheit mit vertretern von politik und wirtschaft aus. in einer sowohl finanziell wie auch weltpolitisch schwierigen situation scheint die bürgerschaft der ansicht zu sein, dass jene, die in den letzten jahren und jahrzehnten das sagen hatten, den problemen der zukunft nicht mehr gewachsen sind. wolfgang schuster als befürworter von stuttgart 21 und jens loewe als gegner äussern sich zu grundlegenden fragen zu stuttgart 21, demokratie, wirtschaft und gesellschaft.

Wolfgang Schuster ist seit Anfang 1997 Oberbürgermeister von Stuttgart. Im Herbst 2004 wurde er für weitere acht Jahre wiedergewählt. Er studierte in Tübingen, Genf und Freiburg Rechts- und Staatswissenschaften. 1976 erfolgte die Promotion im Zivilrecht. Nach seiner Referendariatszeit setzte er sein Studium an der Pariser Ecole Nationale d’Administration (ENA) fort. Von 1978 bis 1980 war er Referent im Staatsministerium Baden-Württemberg unter den damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger und Lothar Späth. 1985 wurde er persönlicher Referent des Stuttgarter Oberbürgermeisters Manfred Rommel. In den Jahren 1986 bis 1993 lenkte Wolfgang Schuster als Oberbürgermeister die Geschicke der Stadt Schwäbisch Gmünd. Danach war er bis 1996 Bürgermeister für Kultur, Bildung und Sport der Landeshauptstadt Stuttgart.

Jens Loewe ist Autor und Aktivist, Mitbegründer des Stuttgarter Wasserforums und des Bürgerbegehrens „100-Wasser“ zur Rekommunalisierung der Stuttgarter Wasserversorgung; Mitbegründer des Netzwerks Wasser in Bürgerhand (W!B) und Mitglied der Initiative Omnibus für direkte Demokratie. Er war ferner Mitglied der 1997 durchgeführten Bürgerbeteiligung zu Stuttgart 21 und dabei Sprecher des Arbeitskreises Stadtplanung. Zuletzt erschienene Buchtitel: Das Wassersyndikat, Pforte Verlag, Schweiz; Water Ablaze, Verlag NWWP, Stuttgart.

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agora42 • Interview mit Wolfgang Schuster und Jens Loewe • DER KONFLIKT UM STUTTGART 21


Für die Befürworter von Stuttgart 21 ist das Bauprojekt demokratisch legitimiert, weil ihm die zuständigen Gremien mehrheitlich zugestimmt haben. In der „Rhein-Neckar-Zeitung“ war in Bezug auf Stuttgart 21 sogar zu lesen: „Es geht um die Machtfrage, bei der eine ‚überparlamentarische‘ Opposition die Beschlüsse der gewählten Gremien und rechtsgültige Verträge nachträglich delegitimieren möchte. Wenn das geschieht, haben wir eine andere politische Realität, die aber den ständig behaupteten Politikverdruss nicht lindert, sondern die Parlamente zu Kabarettbühnen degradiert.“ Ist die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 eine Gefahr für die Demokratie? WS: In meinen Augen ist friedlicher Protest ein Zeichen für die lebendige Demokratie. Als Oberbürgermeister weiß ich, wie wichtig der Ausgleich widerstrebender Interessen ist. Das ist nicht immer einfach, und man kann es nicht jedem recht machen. Diese Polarität muss und kann eine Stadt wie Stuttgart aushalten. Was wir in den letzten Wochen erlebt haben, zeigt doch: Die Menschen in Stuttgart sind wach, sie beschäftigen sich mit dem, was vor ihrer Haustür geschieht. Im Übrigen ist es spannend zu sehen, wie sich Bürger, die das Projekt positiv sehen, immer deutlicher zu Wort melden. JL: Nein, die Protestbewegung in Stuttgart ist nach meiner Überzeugung keine Gefahr, sondern vielmehr eine enorme Chance für die Durchsetzung einer echten und vollständigen Demokratie. Demokratie ist ein Prinzip, demzufolge alle Gewalt vom Volke ausgeht. Das bedeutet, dass das Volk der Souverän ist, also die am höchsten legitimierte Institution oder, salopp gesagt, der Chef, so wie es auch im Grundgesetz steht. Danach sind Politiker und Parlamente Dienstleister auf Zeit, die bestimmte Aufgaben übernehmen sollen. Das Problem ist, dass es die Politik seit Inkrafttreten des Grundgesetzes verstanden hat, dem Souverän den Zugang zu wichtigen Entscheidungen weitgehend zu verbauen. So gibt es bis heute keinen Volksentscheid auf Bundesebene – mit Begründungen wie: „Die Bevölkerung versteht die komplexen Zusammenhänge nicht“. Wenn man aber dem Souverän die Mündigkeit abspricht, dürfte er auch keine Parteien wählen, man müsste letztlich Demokratie als Prinzip ablehnen. Die Alternative zur Demokratie kann jedoch nur eine Form von Despotismus sein, eine Herrschaftsform, bei der sich Despoten willkürlich über das Volk stellen. Ein Repräsentantensystem ist sicher sinnvoll, es sollte nicht abgeschafft werden. Es muss aber dringend um die Möglichkeit einer direkten Entscheidung durch den Souverän ergänzt werden. Der Souverän als Auftraggeber muss jederzeit den „Generalschlüssel“ in Händen halten, weil er der „Chef“ ist, weil er alles verantwortet und alles bezahlt. Die Möglichkeit einer direk-

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B e a t r ice He u s e r

DE N K R I E G V E R S T E H E N C A R L VON C L AU SEWI TZ Por t ra i t Illustrationen: Matthias Seifarth

Der britische Militärhistoriker und Strategie-Theoretiker J. F. C. Fuller hat Clausewitz mit Kopernikus, Newton und Darwin verglichen. Aber kaum ein Schriftsteller ist so missverstanden worden wie Clausewitz. Auch heute noch zuckt manch einer in Deutschland zusammen, wenn sein Name fällt, und schüttet den Analytiker Clausewitz mit dem Bade seiner Rezeptionsgeschichte im Dritten Reich aus. Dagegen glauben amerikanische Unternehmer, man könne aus Clausewitz’ Werken über den Krieg Lehren für den Erfolg in der Wirtschaft ziehen. Was kann man wirklich über Clausewitz sagen, was von seinen Lehren erwarten?

Clausewitz’ Hintergrund Beginnen wir mit dem Manne selbst. Clausewitz’ Elternhaus war eher kleinbürgerlich: Sein Vater bezog als preußischer Veteran eine kleine Rente, von der viele Kinder gefüttert werden mussten. Der Adelstitel der Familie konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, und drei der Söhne wurden schon im Kindesalter zur Armee geschickt – nicht nur, weil dies der Beruf des Vaters gewesen war, sondern auch, weil sie dadurch keine Bürde mehr auf der schmalen Geldbörse waren. Schon im Alter von 13 und 14 Jahren sammelte Clausewitz durch die

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Teilnahme an Feldzügen gegen das revolutionäre Frankreich erste kriegerische Erfahrungen; erst danach durfte er weiter eine Ausbildung genießen. Über eine Grundschulausbildung hinaus hatte Clausewitz keine weitere formale Schulbildung im zivilen Kontext erhalten, ganz zu schweigen von irgendeinem Universitätsabschluss. Mit 21 Jahren genoss er in Berlin zum ersten Mal so etwas wie eine akademische Bildung, als er in die von Gerhard von Scharnhorst gegründete Akademie für junge Offiziere aufgenommen wurde. Dort schrieb Clausewitz Studien über vergangene Feldzüge und las über vergangene Kriege – zumeist chronikähnliche Schriften, die von Zeitzeugen verfasst waren. Daneben befasste er sich aber auch mit Machiavelli und den Werken des wichtigsten Militärtheoretikers der französischen Aufklärung, Graf Guibert. Als strahlendes Junggenie war der Offizierskadett Carl von Clausewitz Lieblingsschüler von Scharnhorst und später Zögling von Gneisenau; offensichtlich hatte ihn dies zum Träumen von einer großen Karriere verleitet. Er verkehrte bald in höchsten Kreisen: Als Adjutant des preußischen Prinzen August erlebte er 1806 die Doppelschlacht von Jena und Auerstedt sowie kurz darauf die Niederlage der Truppen, die nach Prenzlau und Lübeck entkommen waren. Zusammen mit Prinz August wurde Clausewitz in Ehrenhaft genommen und nach Paris

agora42 • Portrait • CARL VON CL AUSEWITZ – DEN KRIEG VERSTEHEN


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Z a h len spiel e

4.

Es ist noch nicht einmal 3 Monate her, dass die ganze Nation auf den für Deutschland hoffte. Gemeint ist der 4. Titel als Fußballweltmeister. Aus dem 4. Stern wurde der 3. Platz. Die Enttäuschung war groß, aber der Fußballverdruss hielt sich in Grenzen. So saßen am 9. Oktober schon wieder (15.000.000) vor dem Ferngegen die Türkei anzuschauen. quote von wie der Fan schaft, die 3:0 ge wann. jubelt, und zwar nicht nur Deutschland stehe, so hört das „stärkste Wachstum

15 Millionen

knapp seher, um sich das Spiel Deutschland Mit einer durchschnittlichen Zuschauerjubelte das mindestens so laut der deutschen MannAber auch die Politik wegen des Fußballs – denn man aus Regierungskreisen, seit der Wiedervereinigung“

3,5%

bevor. Man vernimmt die Zahl von und hofft heimlich schon wieder auf den Titel des Exportweltmeisters, den Deutschland bereits 6 Mal für sich reklamieren konnte – das wäre, um den Fußballerslang zu bemühen, dann schon der

Stern.

Ist die Weltmeisterschaft 1 Stern wert, sollte die Europameisterschaft doch zumindest 1 Sternchen wert sein. Von denen hat die deutsche Fußballnationalmannschaft übrigens auch schon 3. Und während die Regierungsvertreter noch auf den großen Stern des Exportweltmeisters hoffen, hat Deutschland im März dieses Jahres bereits den des im Export von

Europameisters

Rüstungsgütern an die Brust geheftet bekommen. Die Zahlen können sich sehen lassen: Lag der deutsche Anteil für Waffenexporte am Weltmarkt noch 2004 bei

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agora42 • Zahlenspiele


, so betrug er 2009 bereits . Damit liegt Deutschland sogar noch vor Frankreich (8%), die übrigens auch nur 2 Fußball-Sternchen haben und Großbritannien (4%), die nur 2 3. Plätze bei den Fußball-Europameisterschaften für sich beanspruchen können. Was bedeuten die Prozentangaben in Euro? Die Waffenexporte aus Deutschland beliefen sich 2009 auf circa Die FIFA, also der Ausrichter der Fußball-WMs wird 2010 circa 1 Mrd Euro einnehmen. Für 2006, als die WM in Deutschland sattgefunden hat, weist die FIFA Einnahmen in Höhe von ungefähr 600 Millionen Euro aus. Da die FIFA jedoch eine vollständige Steuerbefreiung für die WM in Deutschland forderte und ihr diese auch gewährt wurde, hatte der deutsche Fiskus nichts von der WM. Aber immerhin wurde die Fußball-WM dazu verwendet, um gute Dinge zu tun: So hat zum Beispiel der Bierhersteller Krombacher während der Fußball-WM 2006 für jeden verkauften Bierkasten 1 m2 Regenwald gerettet. Allerdings hätte der Urwaldschützer auch die Möglichkeit gehabt, durch eine Spende von (ungefähr der Preis eines Kasten Krombachers) an WWF, die gleiche Fläche Regenwald zu schützen wie mit

150 Bierkästen und hätte seine

1 Leber

geschont.

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