agora42 06/2009 - Ökonomie & Gerechtigkeit

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agora42 Ökonomie | Philosophie | Leben

Gerechtigkeit _____ ein Phantom?

Thema:

Ökonomie & Gerechtigkeit 06/2009 | 7,90 € (D)



agora Altgriechisch αγορα | Im antiken Griechenland Versammlungsplatz oder Markt im Zentrum einer Stadt. | Politische, juristische und philosophische Versammlungsstätte freier Bürger. | Kultisches Zentrum der Polisgemeinschaft. | Bedeutender Schritt in der Entwicklungsgeschichte der attischen Demokratie.

42 Im ersten Buch von Douglas Adams The Hitchhiker‘s Guide to the Galaxy wird folgende Geschichte erzählt: | Eine weit fortgeschrittene außerirdische Kultur sucht die Antwort auf die Frage aller Fragen, nämlich jene nach „life, the universe and everything“. | Dazu entwickelt und baut sie den Supercomputer Deep Thought. | Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren erbringt Deep Thought die Antwort „42“. | Auf die Ratlosigkeit der Erbauer hin entgegnet Deep Thought, dass die Frage nicht präzise gestellt worden sei und schlägt vor, einen von ihm erdachten, noch größeren Computer zu bauen, der fähig ist, die zur Antwort passende Frage zu finden. | Dieser Computer wird gebaut, und das Programm zur Suche der Frage auf die Antwort wird gestartet. | Es stellt sich heraus, dass dieser noch größere Computer der Planet Erde ist.

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INHALT

Seite 72 Ein Interview mit Gesine Schwan Die geistige Zahlungsunfähigkeit

Seite 90 Portrait: John Stuart Mill John Stuart Mill und die Kunst der Weltverbesserung von Michael Schefczyk

Seite 82 Ein Interview mit Werner Marnette „Wir müssen uns neue Ziele setzen“

Seite 54 Klaus Mössle Keine Frage der Gerechtigkeit. Das Missverständnis mit dem Shareholder-Value

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| Editorial

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Prolog Parallaxe Ökonomische Theorien Philosophische Perspektive Grundannahmen der Ökonomie Nathan Weis Birger P. Priddat Thomas Gutknecht Martin Hochhuth Klaus Mössle Nathan Weis Alicja Karkoszka Martin Hablitzel Umfrage

| Personen Ein Interview mit Gesine Schwan Ein Interview mit Werner Marnette Portrait

72 Die geistige Zahlungsunfähigkeit „Wir müssen uns neue Ziele setzen“ John Stuart Mill und die Kunst der Weltverbesserung

| Gedankenspiele

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| Zahlenspiele

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| Plutos Schatten

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Stefan Reusch Aus dem Englischen

Zwischen Gut und Börse A slow day in Texas

| Impressum

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Jedem das Seine und ich will mehr Gleichheit oder Gerechtigkeit? Gerechtigkeit – „nur“ eine Illusion? Eigentum Die physikalische Saite der Ökonomie Moderne Gerechtigkeit in Ökonomie und Politik Die andere Gerechtigkeit Die sichtbare Hand der Demokratie Keine Frage der Gerechtigkeit Schizophren oder geistig bankrott? Bildung und Gerechtigkeit Mit Doppelpass in die Finanzkrise Auf dem Marktplatz

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Philosophische Perspektive:

Gerechtigkeit – „nur“ eine Illusion? Philosophie soll nicht zum Abstrakten, sondern zum Konkreten führen. Eine abstrakte Position ist durch innere Widersprüche gekennzeichnet, die zu Entscheidungsschwierigkeiten und schließlich zur Passivität führen. Um solche Widersprüche thematisieren zu können, muss der vorgegebene Denkrahmen, in dem ein Problem diskutiert wird, verlassen werden. Philosophie, zumindest die, die diesen Namen verdient, geht darum immer mit einem radikalen Wechsel der Perspektive einher. Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht überhaupt erst wieder konkretes Handeln, d.h. ein Handeln, das frei von inneren, es lähmenden Widersprüchen ist. Was heißt dies in Bezug auf Gerechtigkeit? Die Frage, was „das Gerechte“ (griechisch: to dikaion) sei, hat schon die athenische Gesellschaft im fünften Jahrhundert v. Chr. beschäftigt wie keine andere. Im Jahr 427 v. Chr., als Platon geboren wurde, gab es einige Parallelen zu unserer gegenwärtigen Situation: Gerechtigkeit war zwar die Zielvorstellung der demokratischen Volksgerichte im Stadtstaat Athen, doch die faktische Rechtsprechung wurde beeinflusst durch geschulte Redner – heute würde man sagen Lobbyisten –, die nur an der Durchsetzung der von ihnen vertretenen Position interessiert waren. Auch nach außen hin, heute würden man wohl sagen: global gesehen, war man mit Gerechtigkeitsdilemmata konfrontiert. So waren die Athener zwar strikt gegen jede Form der Tyrannis (Alleinherrschaft), aber es war kein Geheimnis, dass ihre eigene Stadt bei den Griechen als polis tyrannos verschrien war, die eine Hegemonialpolitik betrieb. Die Bundesgenossen Athens verlangten eine gerechtere Behandlung, doch sie bekamen diese nur selten.

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Nicht zuletzt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise scheinen Fragen der Gerechtigkeit – in Bezug auf die inneren Verhältnisse wie auch im außenpolitischen Kontext – ähnlich drängend zu werden wie einst in Athen. So stellt sich z.B. die Frage, ob es gerecht ist, wenn manche Firmen staatliche Garantien bekommen und andere nicht. Ist es gerecht, wenn die Automobilindustrie durch eine Prämie subventioniert wird und dadurch andere Wirtschaftszweige Umsatzeinbußen hinnehmen müssen, weil die Ersparnisse in den Kauf des Automobils fließen und für den Kauf anderer Produkte nicht mehr zur Verfügung stehen? Oder ist es gerecht, wenn unsere Kinder und Enkel einen Großteil der Schulden abzahlen müssen, die wir jetzt machen? Ist es gerecht, wenn viele der Entwicklungsländer, die an den Entscheidungen, die zur Krise geführt haben, nicht beteiligt waren, nun, z.B. durch sinkende Rohstoffpreise oder dadurch, dass Hilfszahlungen reduziert oder Gastarbeiter entlassen werden, ebenfalls – und in noch größerem Ausmaß – von den Folgen der Krise betroffen sind? Übersteigt Ungerechtigkeit ein bestimmtes Maß, können wir sie nicht mehr mit dem Anspruch an unser Staatswesen vereinbaren. An dem, was uns über Sokrates (469–399 v. Chr.), den Lehrer Platons, überliefert ist, lassen sich Anspruch und Wirklichkeit in Bezug auf das Selbstverständnis Athens ablesen. Sokrates gilt als die klassische Figur des Gerechten, dessen Gerechtigkeitsmaßstab nicht von zufälligen Konstellationen, z.B. von der Frage, wer gerade die Macht innehat, abhängig ist. Als zum Beispiel eine kleine Gruppe von Herrschern zeitweise die Macht in Athen übernommen hatte, weigerte sich Sokrates, trotz großer Gefahr für sein Leben, an deren Unrechtstaten mitzuwirken. Aber es war nicht das Urteil von Tyrannen, welches ihn schließlich das Leben gekostet hat, sondern das eines demokratischen


Volksgerichts. Sokrates wurde angeklagt, weil er nicht jene „für Götter halte, welche das athenische Volk dafür halte“ und weil er „die Jugend verführe“ – eine hanebüchene, „politisch motivierte“ (Thomas A. Szlezák) Anklage. Nach athenischem Recht wurde er aber zumindest nicht unbegründet zum Tode verurteilt. Sokrates schlug

sächliche Rechtsprechung nicht viel gemein hatten. Letztlich stellt auch das Hauptwerk Platons, die Politeia (Der Staat. Einer der Untertitel lautete: Über das Gerechte) eine Reaktion auf eine Gesellschaft dar, in der die Verlogenheit unerträglich geworden war. Nur durch eine radikale Abwendung von allen bisherigen Denkge-

die Möglichkeit der Flucht aus, weil er auf das faktische Unrecht, das ihm die Stadt angetan hat, nicht seinerseits durch Unrecht in Form der Missachtung des Gerichtsentscheids reagieren wollte. Sokrates zeigte also durch sein eigenes Leben die inneren Widersprüche der athenischen Demokratie auf, in der Gerechtigkeit und tat-

wohnheiten lässt sich Platon zufolge eine Besserung der Verhältnisse erreichen. Das Resultat ist Platons Entwurf eines idealen Staates. Im idealen Staat gibt es zwischen dem Individuum und dem Staat eine strukturelle Verbindung: die Gerechtigkeit des Staates und die des Einzelnen ist wesensmä-

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Birger P. Priddat

Moderne Gerechtigkeit in Ökonomie und Politik Umverteilung als staatliche Gerechtigkeit Für den amerikanischen Philosophen John Rawls setzt soziale Gerechtigkeit voraus, dass es etwas Gemeinschaftliches gibt, an dem jeder Anteil hat. Dieses Gemeinsame definiert er als eine Kooperation der Bürger untereinander im gegenseitigen Interesse ihrer selbst. Um die Funktionsfähigkeit und Legitimation dieser Kooperation gewährleisten zu können, bedarf es Institutionen des Rechts, der Politik und der Ökonomie und es muss gewährleistet werden, dass die Zustimmungsfähigkeit der institutionellen Grundstruktur gegeben ist. Für die nachhaltige Funktionsfähigkeit und Produktivität dieser institutionellen Grundstruktur muss ferner sichergestellt werden, dass diese Institutionen legitimiert und entscheidungsfähig sind. Darüber hinaus werden Grundfestlegungen über die Zuordnung von Rechten, die Gewährleistung von Handlungsmöglichkeiten und die Verteilung bestimmter Güter (in einem allgemeinen Sinn) benötigt, die im Hintergrund operieren. Gerade die institutionelle Festlegung der jeweiligen Anteile provoziert natürlich eine Reihe von Fragen: Welches Maß gilt? Wonach ist der Anteil zu bemessen? Ausgangspunkt der Bemessung muss eine Gleichverteilung dieser Anteile sein: Gleichheit ist der Nullpunkt der Messung von Gerechtigkeit, Ungleichheit dagegen ist rechtfertigungsbedürftig. Dieses Verständnis ist der Ausgangspunkt der Demokratie in der Gleichheit und Gleichbehandlung demokratische Idealmaße darstellen; de facto sind die Anteile und Ansprüche ungleich und

Politik, zumindest in dem westlich-demokratischen Verständnis, ist somit eine Verteilungsinstanz: Es geht um die angemessene Umverteilung des common good – des Steuerfonds, der Sozialhaushalte, der Einkommen und Vermögen etc., aber auch um die Dimension öffentlicher Güter – Bildung, Infrastruktur etc. Folglich hat jede Bevölkerungsschicht Ansprüche, weil es nicht nur um Kompensation geht, nicht nur um Ausgleich der Nachteile der Armen durch Zahlung der Reichen etwa. Das wäre bloße Armutsvermeidung (Karitas), eine quasiarithmetische (Bedarfs-)Gerechtigkeit, die für ein politisches Gemeinwesen selbstbestimmter Bürger unzulänglich ist. Gleichzeitig gilt es sicherzustellen, dass die Interessen bestimmter Personen nicht (ohne Rechtfertigung) bevorzugt werden, sondern dass die Umverteilung angemessen proportioniert wird. Nur so kann sie für den Zusammenhalt der Gemeinschaft Rechnung tragen. Die Norm der Politik ist nicht der Sieg der einen über die anderen, sondern die des institutionalisierten Wettbewerbs oder der institutionalisierten Kooperation im Interesse aller. Soziale Gerechtigkeit ist politische Gerechtigkeit nicht als Macht, sondern als governance: als eine Form der Macht, die sich als angemessene und produktive Anteiligkeit aller Beteiligten darstellt. Ideen und Konzepte sozialer Gerechtigkeit verändern sich in der Zeit. Sie sind nicht vom Wandel von Institutionen, ökonomischen und sozialen Bedingungen, Akteurskonstellationen und politischen Entscheidungen zu entkoppeln. Vor allem wandeln sie sich mit den Gerechtigkeitsintuitionen der Menschen. So verschieben sich die Maßstäbe, und es entwicklen sich langsam neue

Politik ist ein ständiger Prozess der Angleichung und Rechtfertigung von Unterschieden. | 37


Es ist eine

alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu.

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Heinrich Heine


Schizophren

oder geistig bankrott? So beängstigend die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auch sind, so handelt es sich dabei doch auch um „alte Geschichten“, die regelmäßig wiederkehren. Als Beispiel seien der Staatsbankrott Spaniens (1557), die Tulpenmanie (1637), die Mississippi-Spekulation (1719), die Internationale Wirtschaftskrise (1837), die Große Weltwirtschaftskrise (1929), der Schwarze Montag (1987), die Tequila-Krise (1994), die Asienkrise (1997), die Dotcom-Blase (2000) und nun die Finanzkrise genannt. So lassen sich für die neue Geschichte immer Analogien zu alten Geschichten finden – im Fall der aktuellen Finanzkrise zur Großen Weltwirtschaftskrise. Beide Krisen kamen über Nacht und bereiteten unserem sorglosen Leben ein jähes Ende. Beide wurden ausgelöst durch massive Spekulationsorgien – damals durch Investmenttrusts, heute durch Zweckgesellschaften, die aufgrund von Regulierungsdefiziten entstehen konnten. Gleiche Entwicklung, andere Protagonisten; eine alte Geschichte, die neu bleibt. Damals angetrieben von „Bankern“ und „Brokern“, heute angetrieben von den „Master of the Universe“, das heißt den Herrschern des Universums, wie sich die neuen „Banker/Broker“ selbst nannten. Diese „Master of the Universe“ waren eine eingeschworene Gemeinschaft von Mitzwanzigern, die sich ihren Weg durchs Leben mit dem Messer quer im Mund bahnten – immer auf der Jagd nach dem nächsten Boni-Deal. Ihr Motto lautet:

Diesen Herrschern haben wir (die Main Street) die Herrschaft bereitwillig übertragen. Wurden wir doch alle durch die „Master“ großzügig mit hohen Renditen beschenkt. Diese neuen Herrscher erfüllten ihrer Main Street fast jeden Wunsch: neue Autos, Immobilien, renditeträchtige Anlagen etc. Es war eine kurze prosperierende Zeit, die ein abruptes Ende fand. Die Herrscher hatten Alchemie betrieben und das der Main Street geschenkte Gold war wertlos. Die Herrschaft der „Business Punks“ brachte die gesellschaftliche Ordnung ins Wanken. An deren Ende stand ein Schuldenberg von unvorstellbarer Dimension. Ein Schuldenberg, der den Horizont und den Weg zurück in die „Normalität“ verdunkelt. Wir müssen das neu entstandene Terrain klären – wir müssen verstehen, wie wir hierher gelangten und wie wir wieder aus der verfahrenen Situation herauskommen. Aber, wie schon gesagt, es ist ja auch eine alte Geschichte; Parallelen zur Großen Weltwirtschaftskrise können gezogen werden: Wie die Große Weltwirtschaftskrise fordert auch die Finanzkrise Superhelden, die den Schuldenberg abtragen und uns neue Wege aufzeigen.

„We like to work hard. We like to play hard. We love money and all the happiness it brings us. We like to close the bar at 4 am on a Monday night and be at the office a few hours later. We are 'Business Punks'.“

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PERSONEN

Ein Interview mit Gesine Schwan

Die geistige Zahlungsunfähigkeit

Proportionale Gerechtigkeit besagt nach Aristoteles, dass nicht jedem das Gleiche, zum Beispiel das gleiche Einkommen, zusteht, sondern jeder das bekommen soll, was ihm, gemessen an der axia (griechisch für Würdigkeit; auch: Wert, Verdienst), zusteht. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies: jedem das Seine.

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Für Platon und Aristoteles war Gerechtigkeit die höchste Tugend, gerechtes Handeln gleichermaßen das Beste für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Heute scheint es, dass Gerechtigkeit nur noch thematisiert wird, wenn es darum geht, die eigenen Interessen durchzusetzen. Wie definieren Sie Gerechtigkeit? Aristoteles unterscheidet zwischen proportionaler und geometrischer Gerechtigkeit. Am Begriff der proportionalen Gerechtigkeit orientiert sich in der Politik das Konzept der Ergebnisgerechtigkeit. Dabei wird unter diesem Begriff die Proportionalität zwischen Leistung und Anerkennung verstanden. Allerdings stellt sich für Politik schnell das grundsätzliche Problem, eine objektive Leistungsbemessungsgrundlage zu finden. Würde man sich wirklich danach richten, könnte man die eklatanten Lohnunterschiede zwischen einer Kindergärtnerin und einem Spitzensportler oder Investmentbanker nicht rechtfertigen. Deshalb wird hier von vielen einfach der Markt an die Stelle von Gerechtigkeit gesetzt, was ich nicht annehmbar finde. Für mich konzentriert sich Gerechtigkeit heute auf die gleiche Chance zur Selbstbestimmung. Ich glaube, dass unser Leben in den nächsten Jahrzehnten immer unübersichtlicher wird. Dadurch wird vom Individuum immer mehr Selbststeuerungsfähigkeit erwartet. Dies bedeutet, dass die Individuen über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinaus, über die man sich auch politisch einigen muss, die Chance haben müssen, ihr Leben freiheitlich zu gestalten. Welche Möglichkeiten gibt es, zu gewährleisten, dass diese Chance für jeden in gleicher Weise gegeben ist?


Da ich unter Selbststeuerungsfähigkeit die Herausbildung einer eigenen Persönlichkeit und die individuelle Urteilsfähigkeit verstehe, konzentriere ich mich auf die gleiche Chance zur Bildung. Wir müssen zu einem Bildungsverständnis gelangen, das die Unterschiedlichkeit von Individuen und damit die Stärkung ihrer individuellen Fähigkeiten fördert. Durch Bildung soll der Einzelne befähigt werden, eine Erwerbstätigkeit ausüben zu können, die zumindest den materiellen Unterhalt garantiert. Idealerweise sollte es sich auch um eine Arbeit handeln, die als Sinn stiftend erfahren werden kann.Allerdings ist heute ein Bildungsverständnis vorherrschend, das vom Wettbewerbsdenken und einer Ellenbogenmentalität bestimmt wird. Dabei geht es vor allem um Eigennutzenmaximierung, was ich für äußerst destruktiv halte. Dieses Verständnis verhindert, dass die Menschen in ihren je eigenen Fähigkeiten gestärkt werden, viel Potenzial bleibt so ungenutzt. Welche Rolle spielt dabei die Tatsache, dass immer weniger Menschen in dauerhaften Arbeitsverhältnissen stehen?

Gesine Schwan, geboren 1943 in Berlin, studierte Romanistik, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Berlin und Freiburg/Breisgau. 1971 wird sie Assistenzprofessorin am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin und habilitiert sich 1975 mit einer Arbeit über die philosophischen und politökonomischen Voraussetzungen der Gesellschaftskritik von Karl Marx. 1977 wird sie Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere für politische Theorie und Philosophie, an der Freien Universität Berlin. Von 1999 bis 2008 ist sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Im Jahr 2005 übernimmt sie das Amt der Koordinatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnischen Beziehungen. Von 1977 bis 1987 und erneut seit 1996 ist sie Mitglied der Grundwertekommission der SPD. 2004 und 2009 wird sie zur Kandidatin der SPD für das Amt des Bundespräsidenten gewählt.

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Michael Schefczyk

John Stuart Mill Angesprochen darauf, ob er nicht meine, dass seine egalitaristischen Ideale utopisch seien, antwortete der jüngst verstorbene Politikphilosoph Gerald Cohen in einem Interview: „Es gab einmal einen Utopisten im neunzehnten Jahrhundert, der meinte, Frauen sollten gleiche Rechte haben und Homosexualität sollte nicht strafbar sein: Sein Name war John Stuart Mill.“

Utilitarismus (von lat. utilitas: Nutzen): Theorie, der zufolge der Wert einer Handlung (Aktutilitarismus) oder einer Regel (Regelutilitarismus) ausschließlich nach ihren Folgen bewertet wird. Bewertungsmaßstab ist der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Anzahl von Menschen. Mill war Regelutilitarist.

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Die moralischen Selbstverständlichkeiten ändern sich; was gestern noch als unerhört galt, kann in wenigen Jahrzehnten zur Grundüberzeugung aller „billig und gerecht Denkenden“ werden. Wer heute Mills On Liberty (1859), The Subjection of Women (1869) oder die Principles of Political Economy seit der dritten Auflage (1853) zur Hand nimmt, ist erstaunt darüber, dass Überzeugungen, die dem Engländer seinerzeit Spott und Verachtung eintrugen, mittlerweile zu den Grundwerten der westlichen Welt zählen: Gleichberechtigung der Geschlechter, individuelle Selbstbestimmung, eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands. Während Philosophie – wie es in einem Diktum Hegels heißt – allzu oft „ihre Zeit in Gedanken gefasst“ ist, war Mill der seltene Fall eines moralischen Pioniers.


und die Kunst der Weltverbesserung Erziehung Wie wurde Mill zu dem, der er war? Eine wichtige Rolle spielte sicherlich die Erziehung, die in jeder Hinsicht das Etikett „bemerkenswert“ verdient. Einer der führenden Intellektuellen des vorletzten Jahrhunderts hat weder eine Schule noch eine Universität besucht, er war ganz und gar „home-schooled“. Das Lernprogramm seines Vaters und Lehrers James war, um das Mindeste zu sagen, straff. Mit drei Jahren konnte John Stuart lesen und begann Altgriechisch zu lernen; es folgte mit sechs Latein. Mit elf studierte der junge Mill unter Anleitung des Vaters die aristotelische Logik. James Mill war ein enger Freund und Weggenosse des Erzvaters des Utilitarismus, Jeremy Bentham. Gemeinsam bildeten sie die Leitgestirne einer Gruppe politischer Intellektueller, die sich die „philosophical radicals“ nannten. Die Erziehung seines Sohns John Stuart war einerseits darauf angelegt, eine Kerntheorie der „radicals“, die Form- und Verbesserbarkeit des Menschen, am Beispiel zu beweisen; andererseits sollte die Bewegung mit einer intellektuellen Speerspitze von überragenden Fähigkeiten versehen werden. James Mill legte dabei nicht nur äußersten Wert auf eine gnadenlose Arbeitsdisziplin. Bereits früh schulte er bei seinem Sohn auf langen Spaziergängen die Fähigkeit, theoretische Zusammenhänge zu durchdringen, nach Grundlagen zu fragen und leeren Phrasen zu misstrauen. Teil des Erziehungsplans war auch, John Stuart von den Lehrstätten der Anpassung und des Vorurteils fernzuhalten: Schule und Kirche. So erfolgreich das Erziehungsexperiment zu verlaufen schien, so war eine ungesunde Einseitigkeit in James Mills Lektionen doch unverkennbar. Es kam, wie manche Zeitgenossen es hatten kommen sehen: Im trü-

ben Winter 1826/1827 – John Stuart war damals 21 Jahre alt – versank er in einer Depression, die ihn beinahe das Leben kostete. Die „mental crisis“ bildete einen tiefen Einschnitt für die intellektuelle Entwicklung des jungen Mill. Das Auftauchen aus der Depression, das langsame Wiedererwachen seines Gefühlslebens veränderte sein Denken. Er löste sich von dem einseitigen Rationalismus, der so typisch war für seinen Vater und Bentham und der in Worten wie „Gefühlsduselei“ so vortrefflich zum Ausdruck kommt.

Es geht im Leben – so entdeckt Mill – nicht nur um Interessen und deren Kalkulation, sondern auch und vor allem um die Kultivierung des Gefühls. Die Medien emotionalen Ausdrucks, wie Poesie und Musik, hält er nun für zentrale Bestandteile eines guten Lebens. Mills Öffnung für die Einsichten der Romantik – eines Coleridge, Wordsworth und Carlyle – führten bei ihm jedoch nicht zur Übernahme ihres politischen Konservatismus oder zu einer Preisgabe seiner analytischen Grundhaltung.

Mill blieb zeitlebens ein bestechend klarer und unbeirrbar progressiver Denker. Sein wohl tiefgründigstes und abstraktestes Werk, das 1843 erschienene A System of Logic, verstand er als einen Beitrag zur Bekämpfung konservativer Ideologien, die – wie er meinte – ihre feste Burg in Begriffen wie „Intuition“ und „Erkenntnis a priori“ haben. Ziel von A System of Logic ist der Nachweis, dass das gesamte Gebäude menschlicher Erkenntnis – einschließ-

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Liberalismus (von lat. liber: frei) Politische Strömung, in deren Zentrum die Freiheit des Individuums steht. Daraus ergibt sich die Forderung nach weltanschaulicher Neutralität des Staates und nach einer möglichst geringen staatlichen Gestaltungs- und Regelungstätigkeit. Vom Anarchismus unterscheidet sich der Liberalismus dadurch, dass der Staat zur Sicherung der individuellen Freiheit als notwendig erachtet wird.

lich der Erkenntnis von „richtig und falsch“ sowie „gut und schlecht“ – auf Erfahrung beruht. Aus seiner Depression zog Mill nicht die Lehre, dass der Rationalismus und die politisch progressive Haltung Benthams falsch wären; doch sah er sie nun in ihrer Einseitigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit. „HalfTruths“, Teil-Wahrheiten, war fortan ein Leitbegriff für Mill, der auch für seine Liberalismustheorie eine maßgebliche Rolle spielte. Weder die Romantiker, wie Carlyle, noch die Rationalisten, wie sein Vater James, konnten für sich beanspruchen, die „ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ zu kennen. Mill warb daher für eine Grundhaltung, die systematisch die Teil-Wahrheiten in abweichenden Meinungen und Lebensformen sucht und respektiert.

Rationalismus (von lat. ratio: Vernunft, Verstand): Im weiten Sinn ein Denken, das davon ausgeht, dass die Wirklichkeit rational/vernünftig erkennbar ist. Im Gegensatz zum sogenannten Empirismus (von gr. empeiria: Erfahrung) wird der Vernunft als Erkenntnisquelle Vorrang gegenüber der durch die Sinne vermittelten Erfahrung eingeräumt.

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Die Begrenztheit der Ökonomie Das Bewusstsein für die Gefahren der Verabsolutierung von Teil-Wahrheiten sah Mill auch mit Blick auf die Herausbildung von Einzeldisziplinen, die sich im neunzehnten Jahrhundert forciert vollzog. Mills Principles of Political Economy (1848), die lange als die maßgebende Darstellung des ökonomischen Wissens galten, waren als eine zeitgemäße Version von Adam Smiths’ Wealth of Nations angelegt. Obwohl das Werk schon geprägt ist von einem einzelwissenschaftlichen Verständnis und nach dem spezifischen Forschungsgegenstand der Politischen Ökonomie fragt, ist es noch merklich in einen sozialphilosophischen Rahmen eingebettet. So wird bei der Lektüre immer wieder spürbar, was Mill zu Beginn des Buches betont: dass die Politische Ökonomie keine umfassende Sozialwissenschaft, noch nicht einmal eine umfassende Theorie der Wirtschaft sein kann; und dass sie sich ihrer eigenen Begrenztheit stets bewusst sein muss, insbesondere wenn sie politische Ratschläge erteilt. Die Politische Ökonomie beschreibt nach Mill eine Modell-Welt unter der kontrafaktischen Annahme, dass das menschliche Handeln im Wesentlichen durch ein einziges Motiv bestimmt wird: die Vermehrung des materiellen Wohlstands. Mill war weder der Meinung, dass Menschen sich durchgängig so verhalten, noch dass sie sich so verhalten sollten. Dennoch liefert die Ökonomie wichtige und brauchbare Einsichten – für bestimmte Bereiche menschlichen Handelns, wie das Verhalten auf Märkten, sind von ihr sogar Einsichten über die wirkliche Welt zu erwarten.

Weltverbesserung Wohl kaum eine Bezeichnung trifft Mill besser als die eines „philosophischen Weltverbesserers“. Obwohl es eigentlich für etwas höchst Begrüßenswertes stehen sollte, wird das Wort „Weltverbesserer“ heute vornehmlich gebraucht, um Personen abzuwerten. Weltverbesserer sind dem üblichen Gebrauch zufolge Leute, die zwar entsprechende Ambitionen haben, aber tatsächlich


PLUTOS SCHATTEN 102 |

Stefan Reusch

Zwischen Gut und Börse Sommer 2009. Dank einer Studie des Bankenverbands erfährt man (mal wieder): Die Jugend weiß nix! Denn auf die Frage, was sie mit sozialer Marktwirtschaft verbänden, hatten vier von zehn jungen Leuten geantwortet: „Nichts Bestimmtes.“ Mal ernsthaft: Kann man besser antworten? – Bestimmt nicht. Die Börse zu personifizieren ist sicher unredlich. Aber wer über Wirtschaft redet, darf’s in Kauf nehmen. Also: Die Aktienkurse waren wie dumme Jugendliche – man tat alles für sie, aber lohnten sie’s einem? Nein: sie brachen ein. Das ist undankbar. Und – wie bei einbrechenden Jugendlichen – kriminell! Wir leben in einer Welt zwischen Gut und Börse. Aktiengewinne wurden mit dem eigenen Instinkt und mit Recherche begründet, Verluste, besonders die gigantischen der letzten Monate, waren Machenschaften derer da oben, möglich durch einen Staat, der seine Aufsicht vernachlässigte. Wir – „wir“ als schutzlose Individuen – haben uns noch nichts zuschulden kommen lassen. Wir – „wir“ als Gemeinschaft – haben uns zu nichts noch Schulden kommen lassen. Wer ist „wir“? „Deutschland schröpft Geringverdiener“, so fassten Schlagzeilen unlängst das Ergebnis einer internationalen Studie zusammen. Ist es wahr? Zahlen denn bei uns nicht 20 Prozent der Bürger 80 Prozent der Steuern? Genau. Und deswegen will doch keiner mehr als Tellerwäscher anfangen! Aus Angst vor dem späteren Spitzensteuersatz! So war das. Aber nach/in der Krise ist es nicht mehr bloß schick, Verständnis zu zeigen für die Nöte der Geringverdiener, es ist ernsthaftes Anliegen: Schließlich ist man ja selber einer. Jawohl, alle sind in einem Boot, einem morschen Boot und alle sind Teil eines einzigen Jammerkontextes.


Beispiel: die Ärzte. Früher stand auf jedem Arzt-Terminkalender: 3mal täglich – einnehmen! Jetzt können sie sich offensichtlich nicht mal mehr ’nen Terminkalender leisten. Nichts mehr. Früher Klassenerste, heute Kassenärzte. Auch sie hat das Institut der deutschen Wirtschaft wohl gemeint, als es seine Weisheit verbreitete: „Es muss Vollzeitjobs unterhalb der Existenzsicherung geben.“ Zugegeben, das sagte das Institut vor der Krise. Da war die Arbeitslosigkeit so niedrig wie seit 16 Jahren nicht mehr. Es gab „damals“ immer mehr Jobs, von denen leider immer weniger leben konnten. Schade, so merkten die Leute gar nicht, dass es ihnen gut ging. Andererseits: Jetzt stehen die „alten“ Geringverdiener gut da. Sie kennen das Gefühl ja schon: Wer wenig Geld hat, der hat einfach weniger, was ihm weniger wert werden kann. Weniger sarkastisch: Der Mensch wird nach wie vor in den April geschickt. Zwar nicht jeder Mensch, aber der größer gewordene Rest dafür ganzjährig. Aber hilft ja nix: Unsere Wirtschaft muss wieder auf die Beine kommen, koste es uns, was sie wolle. Moment: Es gibt aber reiche Menschen. Nach wie vor. Es gibt Menschen, die andauernd ihren Kontostand verwechseln mit der Kontonummer. Menschen, die ein

Leben führen am Rande des Existenzmaximums. Menschen, die niemals eine Chance hatten, z.B. auf Wohngeld. Es gibt sie auch in der, ja: durch die Krise. Aber ein Beispiel macht klar: Diese Menschen sind tragische Figuren, schuldlos schuldig geworden. Wir nehmen das Beispiel Postbank. Sehr gesund ist die Postbank – nicht. Milliardenverluste – halt das übliche Jahresbilanzgeld der Genies der Finanzwelt –, aber es gab 11,5 Millionen an Bonuszahlungen für den Postbank-Vorstand. Ein Sprecher meinte: Ein Rückzieher bei der Sondervergütung sei – Zitat – „unmöglich gewesen“. Da kann man nix machen. Man sieht förmlich wie der Vorstand bettelte: „Bitte kein Geldregen, ich ekele mich!“ – Zu spät, das Geld brach über die Vorstände herein, überschwemmte ihre Konten, gnadenlos. Eine Geldflut, ein „Tsumoney“.

Arme Schweine. Alle. Alle Opfer der gleichen Katastrophe. Schuld? Die Banken – wegen mehr Vorstand als Verstand? Die wiegeln ab und halten es mit den Profis der Nächstenliebe, den Kirchenmännern. Die verabreichen mit Vorliebe die pauschale Einseife, alle seien ja irgend-

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