agora42 03/2010 - Zeit

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DER FAKTOR

Interviews Oliver Rosenthal, Zeiten des Umbruchs Albrecht Puhlmann, Oper betrifft uns alle 03/2010 • 7,90€ (D)


W E D ON ‘ T L I K E T HE I R S O U N D, A ND GUI TA R MUSIC I S ON T HE WAY O U T. D e cca R e co rd i n g C o. re j e c t i n g th e B e a tl e s , 1 9 6 2

IC H BIN NUR F ROH, DA S S E S CL A R K G ABLE I S T, DE R AU F DI E F R E S S E FÄ L LT, U N D N IC H T G A RY CO OPE R .  G a r y C o o p e r z u s e i n e m E n t s ch l u s s , d i e Ha u p t rol l e i n „Vo m W i n d e ve r we h t“ n i cht a n z u n e h m e n

 S C HW E R E R A L S L U F T ? F L U G M A S C H I N E N S I N D U N M Ö G L IC H .  L o rd K elvin, P rä siden t der R oya l S o cie t y, 1895

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I N H A LT agora42

Personen

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Editorial

72 Interview • Oliver Rosenthal

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Prolog

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Parallaxe von millisekunden und menschenleben

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Ökonomische Theorien die zukunft der vergangenheit

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Philosophische Perspektive die zeit – ein phantom?

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Grundannahmen der Ökonomie lieber heute als morgen?

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Peter Finke nachhaltigkeit, wachstum, entschleunigung – visionäre leitbegriffe?

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Ina Schmidt der zucker im wasserglas – eine andere ökonomie der zeit

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Sambauer/Rohrmann/Brink temps mort oder die wiederbelebung der erschlagenen zeit

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Heike Klippel langeweile

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Peter Heintel geld ist zeit

56

Alicja Karkoszka medien-zeit

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Dirk Elsner erweckt das echtzeitweb den laplaceschen dämon?

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Auf dem Marktplatz

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Zu Gast auf dem 13th World Business Dialogue

Zeiten des Umbruchs

84 Interview • Albrecht Puhlmann Oper betrifft uns alle

96

Speaker‘s Corner

98

Portrait alfred marshall

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Gedankenspiele

106

Zahlenspiele

108

Plutos Schatten

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Impressum

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E DI T O R IA L

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Es ist zu spät. Wir können den Untergang all dessen, was uns selbstverständlich geworden ist, nicht mehr aufhalten. Wohlstand, freie Bewegungsmöglichkeiten, Sicherheit für Leib und Leben – all das ist vorbei. In Zukunft wird es müßig sein, die Arbeitslosenstatistik zu studieren, weil auch jene, die noch Arbeit haben, vom Lohn nicht mehr werden leben können. In Anbetracht von Gewalt, Krankheit und Hunger wird müde belächelt werden, wer sich über Fragen der gerechten Güterverteilung, der Grundrechte oder der Meinungsfreiheit den Kopf zerbricht. Zu schwarz gemalt? Wirklich? Das vergangene Jahrhundert war ja nun wahrlich nicht frei von Katastrophen. Warum sollte keine neue bevorstehen? Etwa, weil wir bessere Menschen geworden sind? Oder weil uns der technische Fortschritt vor dem Schlimmsten bewahren wird? Doch so, wie beispielsweise die Medizin fortgeschritten ist, sind es auch die Möglichkeiten, Menschen durch „fortgeschrittene“ Waffensysteme massenweise umzubringen. Was hilft uns außerdem Spitzentechnologie in der Medizin, wenn andererseits die medizinische Grundversorgung nicht mehr gewährleistet werden kann – oder nur noch für wenige? Wir bewegen uns auf einen Abgrund zu. Alles, was uns an Informationen zur Verfügung steht, spricht dafür. Nichts dagegen. Zunehmender sozialer Unfriede, unfassbare Staatsverschuldung, Klimakatastrophe, das Wiederaufflammen zwischenstaatlicher Konflikte – was ließe sich dem an Positivem entgegensetzen? Weil wir aber in der überwiegenden Mehrzahl nichts anderes kennen als das, was in der Nachkriegszeit selbstverständlich wurde und das nun immer weniger ist, nehmen wir diese Informationen nicht zur Kenntnis. Wir denken „Oh!“ oder „Schlimm!“, und das war’s. Wir sind Zugreisende, die seit vielen Jahren im selben Zug sitzen und darum das Innere des Abteils für das Ganze der Realität halten. Jetzt blicken wir aus dem Fenster und sehen, dass die Brücke, auf die der Zug zufährt, eingestürzt ist; wir sehen es, aber wir können es nicht begreifen.

agora42 • Editorial


Dennoch gibt es Hoffnung. Wir können den Absturz des Zugs zwar nicht mehr verhindern, weil die Brücke schon zu nah ist; aber wir können noch rechtzeitig abspringen. Dazu müssen wir uns frei machen von der Vorstellung eines vorherbestimmten – „ökonomiegegebenen“ – Schicksals. Wir lassen uns heute mit „historischer Alternativlosigkeit“ (Robert Menasse) erpressen. Die alles durchdringende ökonomische Logik mit ihren sogenannten Sachzwängen erscheint uns gleichsam als „Naturgesetzlichkeit“. Da unsere Gegenwart von dieser Gesetzlichkeit bestimmt wird, betrachten wir auch die Vergangenheit in ihrem Licht und sehen für die Zukunft keine anderen Perspektiven – die ökonomische Ordnung hat sich gewissermaßen verewigt. Vonseiten der sogenannten Volksvertreter wird diesem fatalen Ewigkeitsglauben zugearbeitet. Da werden von allen Parteien falsche Versprechungen gemacht, ökonomische Bewusstseinsdrogen unters Volk gemischt, die glauben machen sollen, dass der Zug in der Luft weiterfährt („Wachstum“) oder der Absturz nicht so schlimm sein wird („der Sozialstaat ist zu retten“); da wird die Fahrgeschwindigkeit sogar noch erhöht („Reformen“). Jedenfalls sollen wir im Zug bleiben. Man nimmt billigend in Kauf, dass sich immer mehr Menschen vor lauter Funktionieren-Müssen im Rahmen der ökonomischen Ordnung psychisch wie auch physisch kaputtmachen: Opfer auf dem Altar der ökonomischen „Vernunft“. Und auf der anderen Seite lässt man sich allzu bereitwillig mit Drogen vollpumpen, zum Gläubigen der Zug-Innenwelt machen. Wir müssen aufhören, gegen unsere eigenen Interessen zu handeln; verlassen müssen wir die gewohnten Verhältnisse sowieso, schon weil sie uns verlassen. Die Parteien, gefangen in „Sachzwängen“, sind dabei zum größten Hindernis geworden: Sie halten jenen Glauben aufrecht, der uns dem Abgrund näher bringt. Wie lange wollen wir uns das noch bieten lassen? Es ist Zeit, dass wir unsere Passivität ablegen und die politischen Koordinaten grundlegend verändern. Wir sind der oberste Souverän.

Frank Augustin Chefredakteur

agora42 • Editorial

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Ö ko no m i s c h e T heor ien

DI E ZU K U NF T DE R V E R G A N G E N H E I T » DE R D U M M KOPF B E S C HÄ F T IG T S IC H M I T DE R V E RG A N G E NHE I T, DE R NA R R MI T DE R ZUK U N F T, DE R W E I S E A B E R M I T DE R G E G E N WA RT. N i col a s C ha m fo r t

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agora42 • Ökonomische Theorien • DIE ZUKUNFT DER VERGANGENHEIT


Vom Schicksalsschlag gezeichnet, sitzt Professor Alexander Hartdegen regungslos auf einer Holzbank und denkt: „Hier finde ich keine Antworten. Hier nicht. Nicht in dieser Zeit.“ Aber welche Antworten sucht er? Und vor allem: Wer ist Professor Hartdegen? Professor Hartdegen ist ein Dummkopf, ein Narr, ein Weiser, und er ist der in H. G. Wells Roman Die Zeitmaschine (1895) noch namenlose Zeitreisende, der in der Verfilmung dieses Klassikers aus dem Jahr 2002 diesen Namen erhielt und dessen „Zeitreisenanalyse“ hervorragend für die Veranschaulichung der modernen Zeitreihenanalyse geeignet ist. Beginnen wir mit der Zeitreihenanalyse, die aus der Ökonomie nicht mehr wegzudenken ist und heute einen festen Bestandteil einer ökonometrischen Ausbildung darstellt. Ökonometrie: Aus dem griechischen oikos (Haus oder auch allgemeiner Wirtschaft) und metrein (messen). Im Allgemeinen wird der Beginn der Ökonometrie auf das Jahr 1930 datiert, als die Econometric Society in den USA gegründet wurde. Ziel der Ökonometrie ist es, ökonomische Hypothesen und Theorien quantitativ zu unterlegen und ihre Anwendbarkeit zu überprüfen, um der Wirtschaft quantitative Analysen (Modelle) zur Verfügung zu stellen, die für wirtschaftspolitische Entscheidungen genutzt werden können.

Mittels der Zeitreihenanalyse werden bestimme Daten in ihrem zeitlichen Verlauf analysiert, beispielsweise Aktienkurse, Arbeitslosenzahlen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) etc. Ökonometriker sprechen von einer Zeitreihe, wenn von einem beobachteten Phänomen, beispielsweise einem Aktienkurs, eine Reihe von Daten oder „Werten“ vorliegt, die zeitlich geordnet ist. Allerdings kann eine Zeitreihe in der Regel nicht exakt berechnet werden. In anderen Worten: Der zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit beobachtete Wert, zum Beispiel der Aktienkurs, ist das Resultat von „zufälligen“ Entwicklungen – das heißt bis zu dem Zeitpunkt (auf der Zeitreihe), an dem ein bestimmter Kurswert tatsächlich realisiert wurde, kann man nicht mit Sicherheit sagen, zu welchem Preis eine Aktie gehandelt wird.

Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die „Vergangenheitswerte“ für die Prognose des zukünftigen Verlaufs einer Zeitreihe einen wesentlichen Aspekt darstellen. So werden für die Prognose der zukünftigen Arbeitslosenzahl zum Beispiel die erwartete Inflationsrate, der Zinssatz, der Kreditzugang der Unternehmen, die Investitionstätigkeit der Unternehmen etc. berücksichtigt – alles Berechnungsgrößen, die sich an „Werten“ und Beobachtungen aus der Vergangenheit orientieren. Wenn es sich aber bei den beobachteten Daten um eine Realisation aus einem Zufallsprozess handelt, wie kann dann daraus eine Zukunftsprognose abgeleitet werden? Die Antwort lautet in diesem Fall: Zähmung. „Zähme“ die wilde, nicht vorherseh- und berechenbare Zeitreihe aus Zufallsvariablen mithilfe eines „zeitunabhängigen Erwartungswerts“, der „zeitunabhängigen Varianz“ (Abweichung vom Erwartungswert) sowie der „Kovarianz“ zweier Zufallsvariablen, die lediglich von ihrem zeitlichen Abstand zueinander und nicht vom Zeitpunkt der Messung abhängen darf. Erfüllt eine Zeitreihe diese drei Bedingungen, bezeichnen Ökonometriker sie als schwach stationären Prozess. Stationär (von lat. statio: „ortsgebunden, standortgebunden, beständig, gleich bleibend“), weil die Momente – der Erwartungswert, die Varianz wie auch die Kovarianz – keinen zeitlichen Bezug haben. In anderen Worten: Die Momente sind aus dem zeitlichen Ablauf herausgelöst. Die Bezeichnung „schwach“ wird übrigens deshalb verwendet, weil Ökonometriker auch noch einen „stark“ stationären Prozess kennen, bei dem die gleiche Wahrscheinlichkeitsfunktion, das heißt Verteilung, gegeben sein muss. An diesem Punkt wird es Zeit, zu Professor Hartdegen zurückzukehren. So sonderbar es auch klingen mag: Es ist seine Liebesgeschichte, die uns den schwach stationären Prozess anschaulich machen kann. Die Liebesgeschichte zwischen ihm und Emma. Während eines abendlichen Spaziergangs im Park wird das Paar überfallen. Der Räuber hat es auf den Diamantring von Emma abgesehen, den ihr Professor Hartdegen wenige Minuten zuvor geschenkt hat, als er ihr einen Heiratsantrag

agora42 • Ökonomische Theorien • DIE ZUKUNFT DER VERGANGENHEIT

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P h i l o s o p h i s c h e Pe r s p e k t i v e

DIE ZE I T – E I N PHA N T OM ? Warum interessieren wir uns eigentlich für Zeit? Zeit kann ja in keiner Weise sinnlich wahrgenommen werden; so wenig wie sie ein Aussehen hat, wird man ihr eine Duftnote, einen Geschmack, ein Klangbild oder eine Oberflächenstruktur zuordnen können. Auf der anderen Seite muss man sich nur vorstellen, was geschieht, wenn man die Zeit außer Acht lässt. Wer nicht zu gegebener Zeit am rechten Ort erscheint, verärgert seinen Chef, vergrault seine Freunde oder verpasst Sonderangebote. Wer Situationen wie diese vermeiden will, tut gut daran, sein Interesse für die Zeit zu bekunden und sie adäquat einzuteilen. Dass der Zeitbegriff aber nicht nur für alltägliche Belange wichtig ist, veranschaulicht der Strom an zeittheoretischer Literatur. Wer sich auf theoretische Weise mit der Zeit auseinandersetzt, der will auch dazu beitragen, gesellschaftliche Phänomene zu erklären, die Entwicklung des Universums zu beschreiben, die menschliche Existenz zu ergründen oder die Tiefen des Bewusstseins auszuloten. Und dennoch: Gerade aufgrund der Vielzahl und der Verschiedenartigkeit dessen, was mit dem Begriff Zeit in Verbindung gebracht wird, kommt die Zeit in den Verdacht, etwas Ungreifbares zu sein, ein Trugbild – ein Phantom.

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agora42 • Philosophische Perspektive • DIE ZEIT – EIN PHANTOM?


Das Phantom im Alltag Im Alltag scheint jeder ganz selbstverständlich mit der Zeit umzugehen. Der eine hat sie, der andere nicht; dem einen ist sie zu kurz, dem anderen zu lang. Wie unterscheidet sich aber eine kurze von einer langen Zeit? Kann man den Unterschied sehen? Wohl kaum. Und kann man Zeit verlieren, wie man einen Schlüssel verliert? Nein, auch das nicht. Trifft man dennoch auf Menschen, denen die Zeit „fehlt“, deutet dies deshalb weniger auf so etwas wie eine objektiv verfügbare Zeit hin als auf die augenblickliche Gemütsverfassung; wenn wir keine Zeit haben, sind wir angespannt, unzufrieden mit unserer Situation. Tatsächlich fehlt uns nicht die Zeit, sondern Energie, Verständnis, Geld etc. Darum können die Menschen, die Zeit „haben“, vielleicht über ein effektives Fitnesstraining, eine gesunde Ernährung, gute Umgangs- und Anlageformen Wissenswertes mitteilen; über das, was das spezifisch Zeitliche an einem Hometrainer, einem Salat oder einer Aktie ausmachen soll, wird man jedoch kaum etwas erfahren. Auf die Frage, was, wo oder wie die Zeit ist, folgt darum zumeist die zögerliche Entgegnung, dass der Fragesteller wohl wissen möchte, wie viel Uhr es ist. Aber die Uhr, auf die der Neugierige damit verwiesen wird, stellt nichts weiter dar als ein Gehäuse, das je nach Bauart vielleicht ein Räderwerk und ein Schwingsystem, Steuerund Antriebsschaltungen oder auch nur Sand enthält. In Anbetracht der Bedeutungsfülle des Zeitbegriffs wird darum wohl niemand ernstlich behaupten, dass eine Uhr selbst die Zeit beziehungsweise der Ort oder die Funktionsweise der Zeit ist. Dass eine Uhr kaum dazu geeignet ist, das Wesen der Zeit zu veranschaulichen, geht schon daraus hervor, dass es ihre eigentliche Bestimmung ist, die Zeit lediglich zu messen. lässt sich die zeit aber überhaupt messen? Die Zeit ist ja kein Seiendes, das durch unsere Sinne erfahrbar, also zum Beispiel sichtbar wäre, sondern sie wird nur mit dem sichtbaren Seienden in Verbindung gebracht.

Man muss sich zunächst mit der Stellungnahme des griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) zufriedengeben, demzufolge die Zeit etwas „an dem Bewegungsverlauf“ ist, und versuchen, durch die Betrachtung der Bewegung mehr Informationen über die Zeit zu gewinnen. Auch das Messinstrument Uhr taugt ja nur als ein solches, wenn es sich, im Gegensatz zu einem Maßband, in einer (möglichst gleichförmigen) Bewegung befindet. Da für uns aber außer den Bewegungen (im weitesten Sinne: das heißt neben den Orts- oder Lageveränderungen der Körper auch die Veränderungen von Eigenschaften wie zum Beispiel Farbe) nichts weiter zu beobachten ist, was in eine Beziehung mit der Zeit gesetzt werden könnte, bedeutet „zeitlich“ zu messen, nicht die Zeit, sondern Bewegungen an Bewegungen zu messen. Die Uhr selbst wäre demnach eine Bewegung (der Zeiger/der Ziffern), deren standardisiertes Bewegungsmuster Vergleiche mit anderen Bewegungen oder Geschehnissen zulässt. Aber wo Bewegung ist, muss noch lange keine Zeit sein. Doch es wäre immerhin möglich, dass die Uhren symbolisch für die Zeit stehen und eigentlich zur Koordination gesellschaftlicher Abläufe dienen. Der Vergleich mit der „Bewegung Uhr“ erinnert daran, dass man auch den eigenen Körper gezielt zu bewegen hat, um im gesellschaftlichen Raum zur „richtigen Zeit“ am richtigen Ort zu sein. In diesem Sinne wäre die Zeit beziehungsweise die Zeitbestimmung der Zivilisation – wie dies der Soziologe Norbert Elias ausführt – eine Form der individuellen und sozialen Selbstregulierung. Dies könnte erklären, warum die Zeit uns derart interessiert: wer mit der zeit umgehen kann, der hat sich selbst und sein umfeld im griff. Und die Gesellschaft funktioniert nur dort, wo die Individuen sich auf eine Zeit geeinigt haben – und gelernt haben, mit ihr umzugehen. Doch auch diese Art der „zeitlichen“ Selbstregulierung sagt nichts über die Bedeutung der Zeit selbst aus. Schließlich wird eine solche soziale Disziplinierung ja nicht durch „die Zeit“ hervorgebracht, sondern durch die Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens. Und

agora42 • Philosophische Perspektive • DIE ZEIT – EIN PHANTOM?

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Pe ter Finke

NAC HHALT IGK E I T, WAC HS T UM, E N T S C HL EUN IGUN G – V I S IO N Ä R E L E I T B E G R I F F E ? Zeitspeicherung in der Sprache Aus physikalischen Gründen kann es keinen Zeitspeicher im strengen Sinne geben, aber mit den Mitteln der Sprache können wir Erinnerungen an vergangene Ereignisse speichern („Geschichte“). Eine noch direktere Speicherung nimmt – ohne Umweg über uns als Dokumentierende – die Evolution vor: Alles, was sie erfunden und nicht durch Selektion wieder verworfen hat, speichert sie wie die Stufen einer Zeittreppe in den ihr unterworfenen Systemen. So weisen heute existierende Lebewesen die fortbestehenden strukturellen Merkmale ihrer Vorgängerwesen auf. Auch die Sprache selbst ist ein evolutionär entstandenes System und damit ein struktureller Zeitspurenspeicher. Wir finden deshalb in ihr Teile unterschiedlich alter Phasen ihrer Entstehung. Von den zwei elementaren Zeitformen Vergangenheit und Zukunft sowie der sie verbindenden Gegenwart ist freilich die Zukunft diejenige, welche die größeren Herausforderungen an uns stellt. Ich möchte mich in diesem Aufsatz daher auf Begriffe konzentrieren, die allgemein als Leitbegriffe für die Zukunft verstanden werden und ihre visionäre Funktion untersuchen. Vorbereitung auf die Zukunft In Bezug auf die Zukunft gibt es nichts zu speichern, sondern nur die Aufgabe, sich auch sprachlich darauf vorzubereiten. Die Vergangenheit ist abgeschlossen, die Zukunft ist offen. Die Vergangenheit ist ein Tatsachenraum, die Zukunft höchstens ein Raum möglicher

Tatsachen. die unkenntnis der zukunft ist unser grösstes problem. Schon die frühesten Menschen haben daher versucht, sich so gut es geht auf die Zukunft vorzubereiten. Unsere prognostischen Mittel hierfür mögen etwas professioneller geworden sein, im Prinzip aber stehen wir wie eh und je vor dem Zukunftsrätsel; bei sehr komplexen Systemen (Wetter, Wirtschaft, Meinungswandel) scheitern Vorhersagen ständig. War der Tatsachenraum der Vergangenheit eine Domäne der Beschreibung und Erklärung, kommen beim Wechsel in die Zeitdimension Zukunft zielorientierte und normative Aspekte ins Spiel. Auch in diesem Zusammenhang bedienen wir uns sprachlicher Mittel. Vor allem sind visionäre Begriffe wichtig, mittels derer wir Konzepte entwickeln können, die zur Bewältigung möglicher und zur Planung gewünschter Entwicklungen taugen könnten. Sie dienen uns als Leitmarkierungen, die unsere Fantasie anregen und uns Handlungsszenarien entwerfen lassen. Ich möchte im Folgenden drei Begriffe diskutieren, die gegenwärtig im Bereich des ökonomisch-politischen Handelns eine solche Funktion der Hinleitung auf die Zukunft übernommen haben: Nachhaltigkeit, Wachstum und Entschleunigung. Nachhaltigkeit Wenn ein Begriff Anspruch auf eine klare Spitzenstellung unter den visionären Leitbegriffen erheben kann, dann ist dies der Nachhaltigkeitsbegriff. Im strengen

agora42 • Peter Finke • NACHHALTIGKEIT, WACHSTUM, ENTSCHLEUNIGUNG – VISIONÄRE LEITBEGRIFFE?

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Sinn ist Nachhaltigkeit die Eigenschaft eines Systems, das seine Funktionen oder Leistungen dauerhaft (oder doch sehr langfristig) erbringen kann. In diesem Sinn sind nur nicht oder kaum gestörte natürliche Systeme, die von der Sonne permanent mit Energie versorgt werden, nachhaltig. Zum Beispiel ist ein nicht oder kaum gestörter Wald ein natürliches Wirtschaftssystem, in dem ein permanenter, unproblematischer Handel mit Biomasse und Energie stattfindet. abfälle gibt es nicht, alles wird wiederverwertet. Fast alle unsere menschlichen Wirtschaftskopien des Naturmodells sind bisher mehr oder weniger fehlerhaft. Die einzige Ausnahme, von der wir das Konzept der Nachhaltigkeit dann auch entlehnt haben, sind Formen der traditionellen bäuerlichen Landwirtschaft und insbesondere der schonenden, in biologisch sinnvollen Zeiträumen operierenden Forstwirtschaft. „Nicht mehr Holz entnehmen als im gleichen Zeitraum wieder nachwächst“ ist die einfache, aber auch richtige Anwendung des Nachhaltigkeitsprinzips auf unser eigenes Wirtschaften, hier auf die Waldbewirtschaftung. Hiervon ausgehend, hat Nachhaltigkeit eine geradezu atemberaubende Karriere gemacht als visionärer Leitstern einer zukunftsorientierten Politik. Doch in weniger als zwei Jahrzehnten wurde aus dem Zentralprinzip für einen sinnvollen und notwendigen Wandel unseres zu verschwenderischen Lebensstils ein nahezu sinnentleertes sprachliches Versatzstück zur beliebigen Bedienung durch jedermann, der sich publikumswirksam dem Zeitgeist anbiedern will. Angesichts der tatsächlichen Bedeutung des Konzepts Nachhaltigkeit ist es erschreckend zu sehen, wie es gegenwärtig bis zur Unkenntlichkeit zerredet wird. Hierbei tun sich vor allem Politiker hervor, die stets anfällig für die oberflächliche Verwendung ihnen attraktiv erscheinender Begrifflichkeiten sind. Tatsächlich gibt es keine Partei, die heute auf das Etikett „Nachhaltigkeit“ verzichtet. So haben die jetzige deutsche Bundeskanzlerin und ihre gesamte Koalition die Rede von Nachhaltigkeit, nachhaltiger Beschäftigung, Geldstabilität, Bildung, Friedenssicherung etc. zur Standardfloskel erhoben, ohne die kaum noch eine Wahl-, Fest- oder Parlamentsrede auskommt.

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Wer zum Beispiel die Formulierung „Ich bin nachhaltig dafür, dass …“ verwendet, sagt überhaupt nichts über Nachhaltigkeit aus und wäre verständlicher, wenn er „Ich bin sehr dafür und ich bleibe auch bei meiner Meinung“ sagen würde. Wer von einem „nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung“ redet, den er sich wünscht, könnte verständlicher von einem „anhaltenden“ Aufschwung reden, denn den meint er eigentlich. Und wer von „nachhaltigem Wachstum“ redet, streut sich und seinen Zuhörern Sand in die Augen (siehe unten); er verwirrt, statt aufzuklären. Das Ergebnis ist eine Sinnentleerung des Begriffs Nachhaltigkeit, der zu einem bloßen Wohlfühlbegriff wird und als simplifizierte „Nachhaltigkeit light“ die Köpfe verwirrt. Diejenigen, die seine wichtige visionäre Bedeutung aufrechtzuerhalten versuchen, haben es zunehmend schwer, das billige Nachhaltigkeitsgeschwätz als Verdummung zu entlarven und gleichwohl Verständnis für die unverkürzte Sache zu gewinnen, die den echten Begriff nach wie vor benötigt. Dies führt zum Verlust wertvoller Zeit, möglicherweise sogar zum Verlust der visionären Kraft des Begriffs und damit zu einer substanziellen Schwächung unserer Zukunftsfähigkeit. Wachstum Vollkommen anders stellt sich die Problematik beim ökonomischen Wachstumsbegriff dar. Auch bei ihm haben wir es mit einer Entlehnung aus der Natur zu tun. Nirgends ist Wachstum so selbstverständlich und unproblematisch wie bei jungen Organismen, die bis zu ihrer Reife eine so benannte Zeitspanne durchlaufen. Irgendwann ist dann Wachstum immer beendet. Auf die Idee, bei der Geldmenge, beim Marktvolumen, beim Bruttosozialprodukt, bei Gewinnen aller Art oder beim Welthandel könne es anders sein, ist nur der Mensch gekommen. Es könnte abermals ein Hinweis darauf sein, dass uns weniger unser Verstand als die Verlockung, ihn manchmal nicht zu gebrauchen, als Art charakterisiert. wachstum hat heute als visionäres leitkonzept ausgedient. Heute ist nicht die Wachstumsforderung, sondern die Forderung nach einem Verzicht auf Wachs-

agora42 • Peter Finke • NACHHALTIGKEIT, WACHSTUM, ENTSCHLEUNIGUNG – VISIONÄRE LEITBEGRIFFE?



Di r k E lsn er

ERWECKT DA S E C H T Z E I T W E B DE N L A PL AC E S C H E N DÄ MON? Das sogenannte Echtzeitweb verändert unsere Gegenwart. Aber verändert es auch unsere Zukunft in dem Sinne, dass wir sie besser vorhersehen können? Erwacht mit der umfassenden Verfügbarkeit von Informationen über das Internet der „laplacesche Dämon“, den der Mathematiker und Philosoph Pierre Simon Laplace (1749–1827) als Denkfigur geschaffen hat, zu neuem Leben? Dieser „Dämon“ soll bei Kenntnis sämtlicher Naturgesetze und Initialbedingungen jeden zukünftigen Zustand vorhersehen können. Laplace, der als Mitbegründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt, glaubte, dass eine wie auch immer geartete Intelligenz alle Orte, Bewegungen und allgemeinen Beziehungen für alle Zeitpunkte vorhersagen könne, wenn man den „richtigen Überblick“ hat und schnell genug rechnen könne. Ohne Zweifel beeinflusst das Echtzeitweb unsere Gegenwart und hat damit auch Auswirkungen auf die nähere Zukunft. Die Frage im Mittelpunkt dieses Beitrags ist aber, ob wir durch die jederzeitige Verfügbarkeit von Informationen aus Vergangenheit und Gegenwart mehr über unsere Zukunft erfahren und sie besser vorhersagen können.

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Information At Your Fingertips Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts machte Microsoft-Gründer Bill Gates mit einer Vision die Öffentlichkeit Staunen und prägte das Schlagwort von den „Information At Your Fingertips“. Die Idee, so erklärte er damals, bestehe darin, dass alle Daten, die für Geschäfte, Schule oder andere Zwecke notwendig seien, sofort per PC zugänglich sein sollten. Damals stellte Microsoft gerade Windows 3.0 vor und das Internet spielte nur in Kreisen der Wissenschaft und des Militärs eine Rolle. Online-Informationsquellen in Deutschland waren auf Mailboxen und den Bildschirmtext der Deutschen Bundespost begrenzt. Informationen standen in der Tiefe nur über Bibliotheken zur Verfügung. Die Vision von Bill Gates ist mittlerweile Realität geworden. Tatsächlich stehen uns an jedem Ort mit entsprechender technischer Infrastruktur gewaltige Informationsmengen zur Verfügung. Heute können wir per Smartphone und Tablet-PCs von beliebigen Plätzen auf das vermeintliche „Wissen der Welt“ zurückgreifen. Die online gespeicherten Informationen sind dabei kaum noch sinnvoll zu verarbeiten.

agora42 • Dirk Elsner • ERWECKT DAS ECHTZEITWEB DEN L APL ACESCHEN DÄMON?


bestand bis in die 90er-jahre des letzten jahrhunderts die herausforderung des wissenserwerbs darin, die richtigen informationen zu beschaffen, besteht sie heute darin, aus dem nahezu kostenlos zur verfügung stehenden informationsgebirge die richtigen informationen herauszufiltern. Echtzeitweb als Informationsfilter Seit einiger Zeit verspricht das Echtzeitweb uns bei der Filterung der Informationsfülle zu helfen. „Echtzeitweb“ ist ein schillernder und mittlerweile inflationär verwendeter Begriff. Darunter werden Informationsdienste, Nachrichtenseiten, Weblogs und Social-MediaDienste verstanden, deren Mitglieder oder Mitarbeiter sehr schnell über von ihnen für relevant gehaltene Ereignisse berichten oder diese kommentieren. Der Begriff suggeriert, dass Informationen über bestimmte Sachverhalte quasi im Moment ihrer Entstehung für jedermann verfügbar sind. Dies gilt aber nur für Fälle, in denen über ein bestimmtes Ereignis ein Livestream via Internet bereitgestellt wird. In den meisten Fällen werden die Informationen freilich erst nach dem betreffenden Ereignis von einer Person technisch erfasst und über ein Onlinemedium veröffentlicht. Insbesondere der US-Kurznachrichtendienst Twitter wird häufig als Synonym für das Echtzeitweb angesehen. Tatsächlich kann jeder über diesen Dienst Mitteilungen mit maximal 140 Zeichen pro Nachricht weltweit verbreiten. Unmittelbar nach dem Absenden eines Tweets, so heißen die Kurzmeldungen bei Twitter, können diese weltweit gelesen und mittlerweile auch per Suchmaschine gefunden werden. Die technischen Beschränkungen von Twitter schließen aus, dass qualitativ umfassendere Inhalte, wie auch immer diese definiert werden, mit diesem Dienst versendet werden. Allerdings erlaubt es der Dienst, auf URLs (Adressen im Internet) zu verweisen. Über diesen Weg schafft der Dienst eine Verbindung zu qualitativ

hochwertigen Informationen, die in Datenbanken und auf Websites liegen. Bevor das Internet zum Heiligtum für die Verfügbarkeit von Informationen erhoben wird, sollte nicht vergessen werden, dass immer noch sehr viel Wissen in Büchern verankert ist, auf die online nicht zugegriffen werden kann. Dazu gehören viele herausragende Werke, die sich möglicherweise auf Dauer der Digitalisierung entziehen. In der Echtzeitwelt, die sich zu sehr auf elektronische Informationen verlässt, neigen wir dazu, dieses Wissen zu vernachlässigen. Stattdessen wird jenen Informationen mehr Bedeutung beigemessen, die über soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook verbreitet werden. Die Relevanz von Informationen wird also nicht mehr danach bemessen, welchen Erklärungsbeitrag sie leisten können, sondern nur von wie vielen Personen sie wahrgenommen werden. Die Zukunft in Echtzeit? Kann nun das verfügbare Wissen genutzt werden, um mehr über die Zukunft zu erfahren? Wird unsere Zukunft besser vorhersehbar durch die Technik des Web 2.0? Web 2.0: Angelehnt an die Versionsnummern von Softwareprodukten wie zum Beispiel Windows bezeichnet Web 2.0 eine neue „Version“ des World Wide Web. Dieses „neue“ Web ist aber keine eigenständige Weiterentwicklung des Internets, sondern eine Sammelbezeichnung für neue Nutzungsarten des Internets sowie die veränderte Wahrnehmung des Internets selbst. So wird das Internet immer weniger als Informationsquelle und stattdessen vermehrt als Plattform wahrgenommen, auf der sich die Nutzer untereinander austauschen und in welcher Form auch immer zusammenarbeiten. Die Nutzung des Echtzeitwebs für Vorhersagezwecke ist übrigens keine Vision mehr, sondern bereits seit einiger Zeit Realität. So gibt es erste Versuche, das Echtzeitweb für Vorhersagen zu nutzen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) setzt zum Beispiel für verbesserte Prognosen der Arbeitslosenzahlen zusätzlich Daten aus dem Fundus von Google ein.

Eine Vorhersage setzt, in welcher Form auch immer, ein Modell voraus. Dieses kann zum Beispiel ein explizit

agora42 • Dirk Elsner • ERWECKT DAS ECHTZEITWEB DEN L APL ACESCHEN DÄMON?

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ausformuliertes Modell sein, das mit Daten aus Vergangenheit und Gegenwart gefüttert wird und nach einem bestimmten Verarbeitungsalgorithmus Zukunftsdaten auswirft. Gemeinhin akzeptierte Modelle kennen wir aus den Naturwissenschaften. So lässt sich etwa sehr präzise vorhersagen, zu welcher Uhrzeit am 1. 4. 2012 in Bielefeld die Sonne aufgehen wird. Neben solchen wissenschaftlichen Modellen verwenden wir im Alltag vor allem heuristische Ansätze, bei denen aus Erfahrungen und Beobachtungen der Vergangenheit Schlussfolgerungen für die Zukunft abgeleitet werden (Heuristik: die Kunst, auf methodischem Wege zu wahren Aussagen zu kommen. Hier: die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen). Diese Erklärungsheuristiken setzen wir bewusst oder unbewusst ein, wenn wir nach Erklärungen für bestimmte Ereignisse oder für bestimmtes Verhalten suchen. Wir begegnen heuristischen Erklärungsansätzen täglich im Umgang mit Menschen und der Medienlektüre. Besonders augenfällig sind die Erklärungen, die nach bestimmten Ereignissen schnell einen UrsacheWirkungs-Zusammenhang anbieten. Ich nenne das Post-hoc-Erklärungen. So versuchen insbesondere Journalisten mit Unterstützung von „Experten“ die Zusammenhänge besonderer Ereignisse zu erklären. In Wirtschaftsnachrichten sind sie täglich zu finden, etwa wenn besondere Kursbewegungen an Aktienbörsen erklärt werden oder der Erfolg oder Misserfolg von Unternehmen analysiert wird. Das Schema solcher Post-hoc-Erklärungen erinnert an wissenschaftliche Modelle, die herangezogen werden, um ein Ereignis X zu erklären. Dieses Schema lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Weil A, B und C gegeben sind, ist X passiert. Beobachten wir nun mehrere Ereignisse wie zum Beispiel die Ereignisse X1, X2 und X3, bei denen jeweils A, B und C die Voraussetzungen liefern, dann wird ein kausaler Zusammenhang vermutet und mit der Hypothese gearbeitet: Immer wenn A, B und C zu beobachten ist, dann wird X passieren.

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Nun könnte man auf die Idee kommen, dass mithilfe des Echtzeitwebs solche Modelle noch schneller gefunden und mit Daten gefüttert werden können und so die Zukunft besser vorhersehbar wird. Tatsächlich ist dies sehr problematisch. Man schließt also von wenigen ausgewählten Ereignissen (X1, X2, X3 …) auf die Ursachen (A, B und C) – die Problematik dabei ist, dass man dann behauptet, diese Ursachen seien für alle möglichen Ereignisse gültig und dabei außer acht lässt, dass auch Ereignisse Y oder Z möglich sein können. Abschreckende Beispiele hierfür liefert die Managementliteratur. Hier „erklärt“ eine Flut von Fachartikeln und Büchern, wie man ein Unternehmen durch die „richtige“ Neu- oder Umorganisation erfolgreich macht. Viele dieser Konzepte geben sich sogar einen wissenschaftlichen Anstrich und „beweisen“ ihr Modell anhand „wissenschaftlicher Forschung“. Phil Rosenzweig, Professor an der Lausanner Business-School IMD, hat in seinem Buch Der Halo-Effekt diese Managementkonzepte untersucht und kommt zu dem Schluss, dass kaum eines dieser Modelle die Versprechungen erfüllt. Chaos und Narren des Zufalls Nehmen wir einmal an, es würde methodisch sauber gearbeitet, dann bliebe immer noch die Frage, ob die verwendeten Modelle stimmen. Tatsächlich werfen aber gerade viele wissenschaftliche Modelle, die wirtschaftliches Verhalten erklären und vorhersagen wollen, große Probleme auf. Dies hat insbesondere die Finanzkrise gezeigt, die wirtschaftswissenschaftliche Erklärungsansätze und Vorhersagemodelle selbst in die Krise gestürzt hat. Zwei bei vielen Ökonomen noch um Akzeptanz kämpfende Wissenschaftler haben eindrucksvoll die Schwächen vieler Modelle und damit einhergehend die Grenzen der Vorhersehbarkeit aufgezeigt: Benoit Mandelbrot mit Fraktale und Finanzen und Nassim Nicholas Taleb mit Narren des Zufalls. Beide Autoren zeigen auf, dass

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Personen • Interview mit Oliver Rosenthal • ZEITEN DES UMBRUCHS


ZE I T E N DE S U MBRU C HS I n te r v i e w m i t O l i v e r R o s e n t h a l

Um die Zukunft besser vorhersagen zu können, werden oft Informationen und Trends der Vergangenheit analysiert und diese dann in die Zukunft projektiert. Durch das Internet sind alle Informationen der Vergangenheit jederzeit und überall verfügbar. Sehen Sie da die Gefahr, dass wir dadurch unsere Fantasie einschränken? Können wir die Zukunft nur noch in den Begriffen der Vergangenheit denken? Die Frage erinnert an Diskussionen, die schon seit Längerem in den deutschen Feuilletons geführt werden, wo zum Beispiel ein Frank Schirrmacher behauptet, dass das Internet unser Gehirn „vermansche“. Da diskutiert eine Generation über das Internet, die nicht mit ihm aufgewachsen ist. Ich selber gehöre wohl noch dieser Generation an, die in der Schule nur in Bücher geschaut hat und die höchstens einmal eine langweilige 8-mm-Projektion von der Landesbildstelle zu sehen bekam. Das Problem ist also, dass hier eigentlich von „Fachfremden“ über das Internet geurteilt wird. Wir von Saatchi & Saatchi haben zusammen mit einem Kunden eine Untersuchung über die sogenannte Net-Generation gemacht. Dabei haben Marketingstrategen ein ganzes Wochenende mit 14- bis 20-Jährigen verbracht, um herauszufinden, welche Auswirkungen das Internet auf deren Verhalten, Liebesbeziehungen, Beruf, Erwartungen an die Zukunft etc. hat. Nach allem, was wir in den Untersuchungen herausgefunden haben und was vergleichbare Studien ergeben, lässt sich folgern, dass die Frage, ob unsere Fantasie durch das enorme Angebot an Informationen erstickt wird, sich letztlich gar nicht stellt. Denn erstens wird das Internet nicht nur als bloße Informationsquelle genutzt, und zweitens wandelt es sich auch mit den Nutzern und durch die Nutzung. Natürlich stimmt es, dass die Möglichkeiten, an Informationen zu gelangen, nahezu unbegrenzt sind, aber schon in der Bibliothek von Alexandria war so viel Wissen versammelt, dass es für einen Menschen unmöglich gewesen wäre, all dies zu berücksichtigen.

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OPER BETRIFF T UN S ALLE I nte r v i e w m i t A l b rech t Puhlmann

Herr Puhlmann, was zeichnet Oper als eigenständige Kunstform aus? Die Verabredung in der Oper ist, dass man alles, was man zu sagen hat, singt – und deswegen steht für mich, als Hauptmerkmal der Oper, der singende Mensch im Mittelpunkt. Dass Emotionen singend und nicht einfach sprechend mitgeteilt werden, ist für mich eine enorme kulturelle Leistung, die zunächst eine entsprechende Voraussetzung erforderte: die agora, das heißt den Versammlungsplatz im Zentrum der antiken griechischen Stadtstaaten. An diesem Ort wurden die Themen und die Lebenswelt nochmals in einer anderen Art und Weise reflektiert. Daraus entstand das Theater, das in die Singform, die Oper, mündete. Für mich persönlich ist Oper ein einmaliger Ort – abseits einer Gesellschaft, die sich immer weiter beschleunigt und zunehmend die Belange des Einzelnen aus den Augen verliert; in der künstliche Welten mit anderen Mitteln herstellbar und als Sehnsuchtsorte definiert werden. Im 20. Jahrhundert war der Hauptkonkurrent von Theater und Oper das Kino, heute sind weitere Konkurrenten hinzugekommen. In der Oper erleben zu einem bestimmten Zeitpunkt alle – sowohl die Zuschauer wie auch die Akteure auf der Bühne – Situationen, die unberechenbar entstehen, und das ist ein ganz großer emotionaler Moment, der immer dann erreicht ist, wenn man spürt, dass es eine Verbindung zwischen den Zuschauern und den Sängern auf der Bühne gibt. Theodor W. Adorno zufolge verlangt Oper antirationalistische und antirealistische Leistungen. Sie sei eine bis ins Innerste illusionäre Form, die nicht in eine „entzauberte Welt“, bestimmt durch Realismus und Rationalismus, passe. Was bedeutet dies für unsere heutige Realität, die weitgehend ökonomisch bestimmt ist? Muss die Oper eine antiökonomische Position einnehmen? Adorno ist mit seiner Aussage in einer Zeit verhaftet, die mindestens vierzig Jahre zurückliegt. Sie hat zwar in mancher Hinsicht immer noch Gültigkeit und gehört, wie ich finde, reflektiert, wenn man Oper macht. Trotzdem gibt es

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seither Entwicklungen, die der These widersprechen, Oper sei ausschließlich das pure Gegenbild zu einer durchrationalisierten Gesellschaft. Insbesondere „antirealistisch“ würde ich so nicht stehen lassen wollen. Oper kann die Wirklichkeit hereinholen und tut es auch. Wir werden gleichermaßen mit Wirklichkeiten auf der Bühne konfrontiert und auch mit der Frage, wie ich mich dazu verhalten muss. Genau das führt zu den Reibungen – die ich wichtig finde – mit jenen Zuschauern, die mit der Oper immer noch die Vorstellung einer schönen heilen Welt verbinden. Oper ist bereits durch ihre grundsätzliche Nicht-Rationalisierbarkeit antiökonomisch. Beim Musical – um eine andere Form von musikalischem Theater zu nennen – findet laufend eine Ökonomisierung statt. Es gibt eine Urinszenierung, die gleichzeitig die Uraufführung der Musik ist und die wird wie ein Abziehbild in allen Städten rund um die Welt aufgeführt. In London wie in Hamburg und Stuttgart oder am Broadway sieht man die gleiche Version des Musicals. Damit es überall auch gerne gesehen wird, muss es sich entsprechend einem bestimmten Geschmack andienen – die Investition muss sich amortisieren. Die Oper ist das luxuriöse Gegenbild dazu. Jede Opernaufführung ist singulär. Der Aufführungsapparat – das fängt bei Orchester und Chor an – muss den jeweiligen Bedingungen eines Stücks, eines Opernstoffs entsprechen. Diese Aufführungsbedingungen, die an jedem Abend und an jedem Spielort andere sind, lassen sich nicht rational fassen und ökonomisch „berechnen“. Deswegen sind wir abhängig von den Zuwendungen, die wir vom Gemeinwesen bekommen – in unserem Fall vom Land Baden-Württemberg und von der Stadt Stuttgart. Kultur ist immer ein Gegenbild zu einer ökonomischen Wirklichkeit, weil Kultur Luxus ist. Kultur hängt davon ab, ob man sich Kultur leisten will. Was muss Oper leisten? Oper muss vor allem mehr als nur Unterhaltung sein. Oper darf nicht nur schöner Schein sein, sondern muss aufzeigen, dass es um die Sache des Menschen geht. Oper muss ein Ort sein, an dem ich etwas über mich selbst erfahre. Die Aufgabe von Oper wäre insofern vor allem, den klassischen Bildungsauftrag zu erfüllen. Ich erfahre in der Oper und im Theater mehr als nur die Bestätigung dessen, was ich eh schon weiß. Idealerweise verlasse ich die Oper als ein anderer Mensch. Der französische Schriftsteller André Malraux definierte Kultur als „die Gesamtheit aller Formen der Kunst, der Liebe und des Denkens, die … dem Menschen erlaubt haben, weniger Sklave zu sein“. Hat die Oper eine befreiende Wirkung, und wenn ja, wie drückt sich diese aus?

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Befreiend ist natürlich ein schönes Wort. Aber Kunst kann natürlich auch bedrängend wirken. Das Wichtigste ist, dass mich etwas trifft – und damit auch betrifft; dass etwas meine Emotionen auslöst oder auch mein Denken anstößt. Der Soziologe Oskar Negt hat es einmal gut zusammengefasst: Theater sei einer der wenigen Orte, an dem man in einer Gemeinschaft mit anderen zur Reflexion gezwungen wird. Er nannte das Theater einen „Rastplatz der Reflexionen“. In einer Zeit, wo ich alles gleichzeitig haben kann – ich kann Musik hören und lesen und dabei Zug fahren und vielleicht auch noch arbeiten –, werde ich im Theater auf mich selbst zurückgeworfen. Mit Alexander Kluges Ausdruck von der Oper als „Kraftwerk der Gefühle“ zusammengenommen, geht es nicht nur darum, mich als Individuum auszuschalten und dem zu überlassen, was ich auf der Bühne sehe, sondern dass da etwas in Gang gesetzt wird – durch das Erlebnis der Musik und des Theaters. Im griechischen Theater musste man zunächst durch verschiedene Schreckensszenarien gehen, um am Ende geläutert daraus hervorzugehen – die Katharsis. Interessanter ist aber der Schritt davor, den Karl-Heinz Bohrer mit „Erscheinungsschrecken“ und „Erwartungsangst“ bezeichnet. Das Ziel von Theater wäre in jedem Fall, dass ich nicht einfach schadlos davonkomme, sondern erst durch einen Erfahrungsprozess gehen muss – dass ich Erschrecken oder Erstaunen erlebe. Solche Erfahrungen machen zu können, die ich sonst nicht machen kann, stellt die Grundbedingung des Theaters überhaupt dar. Aber leben wir nicht eigentlich schon, so ist zumindest der Konsens, in einer freien Gesellschaft, wo jeder sagen und machen kann, was er will? Wir können uns ja vor lauter Freiheit oft gar nicht mehr entscheiden. Ist da nicht die befreiende Funktion der Kultur gar nicht mehr so wichtig? Sollte Kultur heute nicht vielmehr eine Orientierungsfunktion ausüben? Aber das schließt sich ja nicht aus. Ihrer Definition von Freiheit würde ich sofort zustimmen. Ein Zuviel an Freiheit ist durchaus auch eine Gefährdung dessen, was wir Demokratisierung nennen. Was sagt uns heute eigentlich noch die von Willy Brandt geprägte Formulierung „Demokratie wagen“? Ein Wagnis gibt es heute nicht mehr, wo jeder alles sagen kann und sich bei seinen Aussagen nur noch medial orientiert wie ein Guido Westerwelle, der provoziert, um die mediale Wirkung zu testen. Reflektiert er überhaupt, was er da sagt? Die Befreiung innerhalb einer Theateraufführung verstehe ich aber anders. Damit ich mich dort befreit fühlen kann, muss ich mich als Individuum erst einmal wieder spüren und ernst nehmen; ich muss nachvollziehen, dass da Dinge verhandelt werden, die mich unmittelbar betreffen. Es ist doch ein

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Ged ankenspiele

SUCHMASCHINE FINDET DIE LETZTE LÜCKE IM NETZ! Mountain View, 7. September 2030 Nach 32 Jahren hat die Suchmaschine des Weltraumkonzerns Google endlich das gefunden, wonach sie so lange gesucht hat: den letzten weißen Fleck im Evernet. Nach dem durchschlagenden Erfolg von Birthview und der weltweiten Implementierung von Streetview Live! stellten die Kalifornier nun den neuesten Coup ihrer sagenumwobenen Erfolgsgeschichte vor: Graveview soll auch den letzten toten Winkel auf der Erde beseitigen. „Die Perspektiven sind einzigartig, eine echte Revolution!“, sagte Google-Chef Evan Williams bei der intraplanetaren Pressekonferenz. Über mehr als zwei Jahrzehnte hatte der Konzern Millionen von Hochleistungs-Infrarotkameras installiert und präsentierte nun sein erdumspannendes Netzwerk, das Livebilder aus der unterirdischen Perspektive liefert. In guter alter Apple-Manier erfolgte die Präsentation nun doch live aus San Francisco und nicht, wie zunächst geplant, von einem Friedhof aus. Neben dem Konkurrenten Facebook, der sein Geschäftsfeld Gravebook gefährdet sieht und sich auf das geschützte Patent von Graveblogging™ beruft, hat auch der Weltverband der Vampirfreunde Protest angekündigt. Von Regierungsseite waren keine Stellungnahmen zu bekommen, Insider berichteten aber sogar von Verhandlungen über eine sicherheitspolitische Version von Graveview. Das traditionell Google-nahe FBI und die weltweiten Geheimdienste warten schon seit Längerem auf den neuen Service, um Übeltäter auch post mortem noch verfolgen zu können. Nach der Fusion von Nasa und Google im Jahre 2021 war es Analysten zufolge nur eine Frage der Zeit, bis sich der Konzern auch vertikal nach unten hin diversifiziert. Die Aufsichtsbehörde der USA, inzwischen eine Aktiengesellschaft, an der Google zu 20 Prozent beteiligt ist, berichtete nur von einer ausführlichen Prüfung und äußerte keinerlei Bedenken am Gruftprojekt des Konzerns. Ob das Grab von George Orwell von den Spezialkameras erfasst wird, konnte bis zum Redaktionsschluss nicht ermittelt werden. Michael Dietz

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UN WORT DE S JAHR E S 2013 Frankfurt/M., 17. Dezember 2013 Das Unwort des Jahres 2013 heißt „Schweinegrippe“. Wie die Jury der sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ mitteilte, habe man sich aus über 1200 eingesandten Vorschlägen für diesen Missgriff des öffentlichen Sprachgebrauchs entschieden, da er „auf besonders despektierliche Weise die schwächsten EU-Staaten für die aktuelle Wirtschafts- und Fiskalkrise sowie den Kollaps des spekulativen Finanzwesens verantwortlich“ mache. Interessanterweise landete das Wort bereits 2009 auf einem der vorderen Ränge bei der Wahl zum „Wort des Jahres“ – damals allerdings noch als Bezeichnung für das Influenzavirus H1N1. In seiner jetzigen Bedeutung geht es auf den ehemaligen Deutsche-Bank-Vorstand Josef Ackermann zurück, der den sogenannten PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien; „pigs“: engl. für Schweine) vorwarf, den Staatsbankrott „pandemiegleich“ über den gesamten EU-Raum verbreitet und somit die erneute staatliche Rettung der Finanzwirtschaft verhindert zu haben. Mittlerweile steht aber außer Frage, dass die Investmentbanker den Zweig, auf dem sie noch sitzen konnten, selbst abgesägt haben. Nach den US-Schrotthypotheken der letzten Krise stellte sich am Beispiel Griechenlands 2010 der Handel mit Credit Default Swaps (CDS) als neues lukratives Geschäft heraus. Private Banken kauf-

ten immer mehr staatliche Schuldtitel auf, die größtenteils überhaupt nur zum Zwecke der Bankenrettung zustande gekommen waren. Indem die schwachen Staaten von Rating-Agenturen unter dem steten Hinweis, sie seien „zu gierig“ gewesen und hätten „über ihre Verhältnisse“ gelebt, heruntergestuft wurden, konnten sie die hohe Zinslast schließlich nicht mehr tragen. Die Pleitewelle schwappte unerwartet schnell vom südlichen „Speck“gürtel der EU auf die stärkeren Mitgliedstaaten über und ließ mit dem Zerfall des Euroverbunds die gigantische Spekulationsblase endgültig platzen. In den seit Wochen andauernden Krisengesprächen über gegenseitige Rettungsmaßnahmen kristallisiert sich langsam die Forderung heraus, die Staatsschulden aller EU-Mitglieder auf null zu setzen. Internationale Folgereaktionen sind noch nicht abzuschätzen. Frankfurt, vormals eines der Zentren für das Zocken auf Staatsanleihen, bekommt das Ausmaß der Krise besonders deutlich zu spüren. Übrig geblieben sind hier nur noch die Sparkassen, die jetzt voll und ganz auf Wetterwetten setzen – laut Sparkassen-Sprecher Jürgen Schrampp „eine sichere Bank“. Entsprechend belegt „Treibhausprämie“ Platz 2 der diesjährigen UnwortListe.

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Patricia Nitzsche

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