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Exklusiv

Überlegungen von RICHARD DAVID PRECHT zum sozialen Pflichtjahr.

alt &

jung Generationengerechtigkeit

02/2012 04/2011 004 04/ 44// 220 201 0 1 • 7,90€ 01 7 , 990€ 7, 00€€ (D) (D D)



I N H A LT agora42

Personen

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Editorial

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Prolog

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Parallaxe zukunft braucht herkunft

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Ökonomische Theorien umlegen – zum wohle aller

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Philosophische Perspektive erwachsen werden von grenzen und grenzenlosigkeit

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Richard David Precht engagement in pragmatischer hinsicht überlegungen zur sozialen pflicht

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François Höpflinger generationen – eine begriffsbestimmung zu einem mehrdeutigen konzept

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Andreas Becker die verpfändung der zukunft finanzpolitik und generationengerechtigkeit

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Ottmar Schreiner muss das rentensystem in rente?

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David Fischer-Kerli warten auf den generationenkrieg

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Anne Idler auf dem weg zur wahlfamilie

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Interview • Margarete Mitscherlich und Julia Friedrichs Gegen die Angst

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Speakers’ Corner

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Portrait jacques lacan

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Gedankenspiele

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Zahlenspiele

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Impressum

Auf dem Marktplatz

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E DI TOR I A L

Wir leben in einer Demokratie. Wir sind frei. Wir tun das, wovon wir überzeugt sind. Wir wissen, dass Egoismus letztlich unseren eigenen Interessen zuwiderläuft. Weil jeder sein Bestes für die Gemeinschaft gibt, ist es für uns undenkbar, dass es zwischen Jung und Alt zu Konflikten kommen könnte. Nun, ganz so rosig ist es um unser Zusammenleben nicht bestellt. Hohe und ungebremst wachsende Staatsschulden, Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung und Klimawandel – bei den Jüngeren muss sich der Eindruck verstärken, mit den negativen Folgen des Wirtschaftens der vorherigen Generation(en) allein gelassen zu werden. Doch nicht nur zwischen Jung und Alt brodelt es; die politische Hilflosigkeit angesichts der großen ökonomischen Krise führt dazu, dass sich die Konflikte in allen gesellschaftlichen Bereichen vermehren und zuspitzen. Allzu viele Politiker haben sich ohne Not zu Marionetten des Marktes gemacht. Und weite Teile der Bevölkerung nehmen die betriebswirtschaftliche Rationalisierung aller Lebensbereiche wie eine Schicksalsfügung hin. Die Demokratie hat in die Melodie des Marktes eingestimmt. Woher rührt diese Dominanz des Ökonomischen? Hier lohnt der Blick zurück. Zu einer tiefgehenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich ist es, jedenfalls zunächst, nicht gekommen. Die historisch einmaligen Umstände nach 1945 boten den Westdeutschen die Möglichkeit, sich nach den ersten harten Jahren, in denen man Abstand gewinnen wollte und häufig auch einfach das Überleben sichern musste, in ein „Wirtschaftswunder“ zu flüchten – was man gleichsam als die eigentliche Geburtsstunde des neuen deutschen Staates

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bezeichnen könnte. Nicht umsonst sprach der französische Philosoph Michel Foucault 1979 in Bezug auf die Bundesrepublik von einem „radikal ökonomischen Staat“ – radikal in dem Sinne, dass „seine Wurzel (…) vollkommen ökonomisch“ ist. Demokratie wurde weithin als Mittel zum ökonomischen Zweck verstanden. Die Gelegenheiten, die sich später boten, um sich von dieser ökonomischen Kultur wieder zu lösen, wurden nicht konsequent wahrgenommen; stattdessen folgte man dem Diktat der Gewohnheit, dem – scheinbar – einfacheren und sichereren Weg. Wohl merkten die Jüngeren damals, dass hier irgendetwas nicht stimmte, die Eltern nicht wirklich mit dem Herzen dabei waren und seltsam fremd blieben. Doch letztlich trauten sie sich selbst nicht über den Weg. So konnte auch 1968 nichts daran ändern, dass die Gleichsetzung von Wohlstand und Wirtschaftswachstum mit Demokratie immer selbstverständlicher wurde. Wer heute jung ist, mag sich manchmal über das beinahe verzweifelte Festhalten an marktwirtschaftlichen Gegebenheiten wundern; ein Festhalten, das sich häufig in vollkommen sinnentleerter Arbeit äußert und das eigene Leben oft bloß komplizierter macht – oder sogar gefährdet (durch die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen). Könnte diese absurde Situation damit zu erklären sein, dass wirtschaftliche Aktivität hierzulande ursprünglich eben nicht in erster Linie dazu dienen sollte, das Leben zu erleichtern, sondern die Beschäftigung mit dem eigenen Versagen beziehungsweise dem Versagen der Freunde, der Eltern, Großeltern, Bekannten etc. mit „guten Gründen“ zu verhindern?

agora42 • Editorial


05/2011 – Risiko bleibt riskant

Differenzen wie jene zwischen Jung und Alt sind oftmals Symptome für tiefer liegende Probleme in der Gesellschaft. Vielleicht ist es in dieser Hinsicht gar nicht schlecht, dass durch die Große Krise die Art und Weise unseres Wirtschaftens grundlegend zur Disposition gestellt wird. Dies könnte sich in einem Land, in dem das Ökonomische zur zweiten Haut geworden ist, sogar als Vorteil erweisen, weil die notwendige Umstrukturierung der Ökonomie nur zusammen mit einer völligen Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens erreicht werden kann. Im Zuge einer solchen Neuordnung würde sich für Jung und Alt die Möglichkeit eröffnen, sich weitaus stärker als bisher politisch zu engagieren und eine fehlgeleitete Ökonomie wieder in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Ist dies nicht eine einmalige Gelegenheit, ein emanzipatorisches gesellschaftliches Projekt endlich einmal in Deutschland beginnen zu lassen?

06/2011 – Was kostet Geld – und wenn ja, wie viel?

01/2012 – Nachhaltigkeit – zwischen Zauberformel und Selbstbetrug

Frank Fr ran a k Augustin Chefredakteur

Heft verpasst? Foto: © Janusch Tschech

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Ö ko n o m i s c h e T he o r ie n

UMLEGEN – ZUM WOHLE ALLER „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ – So Otto von Bismarck zu seiner Motivation, die ersten Sozialgesetze in Deutschland auf den Weg zu bringen. 70 Jahre nach Bismarck erfuhr das Rentensystem unter Konrad Adenauer eine Neuausrichtung, die in ihren Grundzügen bis heute Bestand hat. Doch was hat das mit dem Präsidenten des Bundes Katholischer Unternehmer zu tun?

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Kann man die Entwicklung ökonomischer Theorien unabhängig vom gesellschaftlichen Wandel denken? Und wenn nein, muss dann nicht ein Konzept besonders überzeugen, das auf einer Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem Mittelalter basiert? Davon war auf jeden Fall „der Vater der dynamischen Rente“, Dr. Wilfried Schreiber (1904–1975), überzeugt, weshalb er mit seiner Analyse der gesellschaftlichen Situation in seiner Arbeit Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft irgendwann im Mittelalter begann. Ziemlich überzeugend fand dies wohl auch Konrad Adenauer (1876–1967), sodass 1957 das deutsche Rentensystem auf Grundlage von Schreibers Konzept eine grundlegende Neugestal-

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tung erfuhr, die es bis heute charakterisiert. Angesichts der Tatsache, dass unser Rentensystem von allen Seiten unter Beschuss steht, lohnt es sich doppelt, Schreibers Konzept genauer zu betrachten. War Schreibers Analyse fehlerhaft? Vernachlässigte sein Konzept wichtige Aspekte? Hat sich die Gesellschaft bis heute so sehr gewandelt, dass wir ein neues Rentensystem brauchen? Oder sind die richtungweisenden Ideen, die diesem Konzept zugrunde liegen, beim Übergang in die Praxis verloren gegangen? Fangen wir jedoch nicht mit dem letzten Schritt an, der Umsetzung des theoretischen Konzeptes, sondern mit seiner Analyse der gesellschaftlichen Situation, wie Schreiber sie vorgefunden hat.

Mittelalter und Mindset Im Gegensatz zu den Romantikern des frühen 19. Jahrhunderts, die das Mittelalter als Goldenes Zeitalter betrachteten, in dem der Mensch noch in völliger Verbundenheit mit der Natur und eingebettet in den familiären Strukturen lebte, weigerte sich Schreiber, diese Strukturen zu verherrlichen. Fakt aber ist, dass der Mensch im Mittelalter seine Existenzsicherheit im Schoß der Familie fand und in den meisten Fällen von dem lebte, was der Boden hergab. Für jedes Familienmitglied wurde gesorgt und jeder hatte in diesem sozialen Geflecht seine Funktion. Zum Beispiel war es Aufgabe

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R ich a rd Davi d P re c h t

ENGAGEMENT IN PRAGMATISCHER HINSICHT ÜBERLEGUNGEN ZUR SOZIALEN PFLICHT

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agora42 • R. D. Precht • ENGAGEMENT IN PRAGMATISCHER HINSICHT – ÜBERLEGUNGEN ZUR SOZIALEN PFLICHT


Je freiheitlich-demokratischer eine Gesellschaft sein möchte, umso stärker ist sie auf die Partizipation ihrer Bürger angewiesen. Um den künftigen gesellschaftlichen Herausforderungen gewachsen zu sein, muss in Bezug auf Bürgerpflichten ein Umdenken erfolgen. Soziale Pflichtjahre für Jung und Alt wären ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Bürgerkultur.

„N

icht diejenigen Menschen haben am meisten gelebt, die am ältesten geworden sind, sondern diejenigen, die am meisten gefühlt haben.“ Diesen Satz des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau wollte Immanuel Kant nicht unkorrigiert stehen lassen. Die Leidenschaften als Salz in der Suppe der Lebensbilanz erschienen ihm zu einseitig, möglicherweise sogar gefährlich im

Hinblick auf einen bedenklichen Hedonismus. „Je mehr du gedacht, je mehr du getan hast, umso länger hast du gelebt“, hielt er dem Franzosen preußisch entgegen. Die Frage, was ein erfülltes Leben ist oder sein könnte, erlaubt viele unterschiedliche Antworten. Meistenteils freilich wird sie mit der Vorstellung einer vita activa verbunden, einem tätigen und sozial erfüllten Leben. Einsamkeit, Tatenlosigkeit und Lethargie, selbst unaus-

agora42 • R. D. Precht • ENGAGEMENT IN PRAGMATISCHER HINSICHT – ÜBERLEGUNGEN ZUR SOZIALEN PFLICHT

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gesetzte Zerstreuung und permanente Lusterfüllung werden gemeinhin nicht als Erfüllung angesehen. Nur was mit sozialen Anstrengungen, Mühe und Verantwortung einhergeht, wird als Lebensleistung goutiert und als Sinnstiftung reflektiert und genossen. Ganze Wissenschaftsdisziplinen, wie die „Glücksökonomie“, kreisen um diese Einsichten. Dass die menschliche Gefühlsdynamik allerdings oft anderen Gesetzen gehorcht, dem Hang zur Faulheit und dem Drang nach schnellem Lustgewinnen physischer oder psychischer Art, ist ebenso bekannt. Pflichten werden nur selten genossen oder mit Lust angestrebt – es sei denn, sie sind mit Macht und Einfluss verbunden. Und stolz darauf, ihre Pflicht getan zu haben, sind oft diejenigen, die diese Pflichten unter dem Zwang von Erziehung, Religion und Berufsleben erfüllt haben, ohne sie doch jemals gewünscht oder angestrebt zu haben.

Die „goldene“ Generation All dies gilt auch für die Generation, die heute in der Bundesrepublik als Rentner oder Pensionäre im durchschnittlichen Alter von 63 Jahren in den sogenannten „Ruhestand“ tritt. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung dürfte bei 80 bis 85 Jahren liegen, Tendenz stark steigend. Der Ruhestand dauert also in Zukunft für viele mehr als 20 Jahre – mitunter 30 Jahre. Gegenüber der Generation ihrer Eltern oder Großeltern ist dies eine gewaltig lange Zeit. Aus der Sicht eines Arbeiters oder Angestellten von vor hundert Jahren ein geradezu paradiesischer Zustand. Auch der körperliche Verschleiß eines Rentners im Jahr 2012 ist im Durchschnitt unvergleichbar geringer als vor hundert Jahren. Die medizinische Versorgung, die gesündere Ernährung und vor allem der Wandel einer Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft haben dies ermöglicht. Noch nie in der Geschichte hat es so viele gesunde, vitale

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und belastbare Rentner und Pensionäre gegeben wie heute in der westlichen Welt. Etwa 1,5 Millionen Rentner kommen in Deutschland jedes Jahr dazu, Hunderttausende Pensionäre nicht eingerechnet. Viele dieser sogenannten „Senioren“ kümmern sich in dieser Zeit unter anderem um ihre Kinder und Enkelkinder; einige sind sozial engagiert und/oder in einem Ehrenamt tätig. doch diejenigen, die sich in die gesellschaft einbringen und sich um das allgemeinwohl verdient machen, sind gleichwohl in der minderheit. Der größere Teil engagiert sich jenseits des Privatlebens für nichts. Auf der anderen Seite wächst die Zahl der älteren Menschen, die sich einsam fühlen, und die darunter leiden, nicht mehr gebraucht zu werden. Auch die Umstellung vom Berufsleben in den (zuvor oft ersehnten) Ruhestand fällt vielen schwer. In dieser Lage – und auch angesichts der gewaltigen sozialen Probleme einer Gesellschaft, die ihre Wachstumsraten nicht wird aufrecht erhalten können – habe ich einen Doppelvorschlag gemacht: ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen im Alter von 19/20 Jahren (junge Männer wie junge Frauen) und ein zweites soziales Pflichtjahr für Menschen im Renteneintrittsalter. Aufgrund der geringeren Belastbarkeit dieses Personenkreises reduziert sich der Pflichtbeitrag hier auf 15 Stunden in der Woche. Das entspricht drei halben Tagen. Der Sinn beider Pflichtjahre besteht in der Erfahrung von „Selbstwirksamkeit“. Wer in eine andere Lebenswelt hineinriecht und einen sozialen Beitrag über den eigenen Tellerrand hinaus leistet, erlebt das bestätigende Gefühl der Nützlichkeit. Er lernt Neues kennen und bringt sich selbst in diesen neuen Kontext ein. Auf diese Weise kann es, im kantischen Sinne, zu sinnstiftenden Erfahrungen kommen. Wie viele Zivildienstleistende, die ihren Beitrag nie freiwillig geleistet hätten und wahrscheinlich noch nicht einmal auf die Idee gekommen wären, ihn zu leisten, waren im

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Nachhinein dann der Ansicht, dass sie eine sinnvolle Zeit verbracht und wertvolle Erfahrungen gemacht haben? Das Gleiche dürfte für Rentner und Pensionäre gelten, die die wertvolle Erfahrung machen können, ihr Wissen weiterzugeben und gebraucht zu werden – obwohl sie dies freiwillig oft nicht tun würden, sei es aus Bequemlichkeit, Verdrängung oder einer Unsicherheit, für was sie sich entscheiden sollen und wie so etwas anzustellen sei. Man stelle sich dies einmal vor: Es gäbe die beiden sozialen Pflichtjahre. Die Zahl der jährlich Betroffenen liegt etwa zwischen 2,5 und drei Millionen Menschen. Rechnet man aus dieser Summe einmal diejenigen Menschen heraus, denen ein Pflichtjahr aus gesundheitlichen oder psychischen Gründen nicht zugemutet werden sollte, so kommt man auf eine Zahl von mindestens zwei Millionen Menschen. Was könnte man mit dieser Energie und diesem versammelten Lebenswissen für die Gesellschaft nicht alles leisten? Dazu ein Fallbeispiel: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes verlässt etwa jeder zehnte Schüler in Deutschland die Schule ohne irgendeinen Abschluss. Jahr um Jahr sind dies mehr als hunderttausend. Würde man diese Schüler zu einem frühen Zeitpunkt intensiv fördern, betreuen und coachen, wäre in fast jedem Fall (bei wenigen Ausnahmen) ein späterer Schulabschluss möglich, und die Hartz-IV-Karriere wäre aufzuhalten. Dafür gebraucht würden einige Zehntausend Coaches beziehungsweise Nachhilfelehrer in der Grundschule mit der Bereitschaft zum persönlichen Engagement. Doch die Kommunen und Bundesländer können eine solche Zahl an hauptberuflichen Trainern bekanntlich nicht finanzieren. Würde man nur jeden zehnten (!) der jungen und älteren Menschen im sozialen Pflichtjahr nach entsprechendem Training als Coach in die Schule schicken, damit er dem achtjährigen Kevin und dem sieben-

jährigen Mustafa mit Rat und Tat unter die Arme greift, wären dies 200.000 Trainer – mindestens ebenso viele Mentoren wie Problemschüler. der erfolg wäre vermutlich gigantisch. Eine solche Arbeit gibt Schülern eine Chance und Trainern eine Bestätigung. Und sie entlastete überdies gewaltig die Sozialkassen. Dies ist nur einer von vielen möglichen Vorschlägen. Ungezählte andere Tätigkeiten (nach Beratung und bei freier Auswahl) sind vorstellbar. Soziale Pflichtjahre dienen dem sozialen Frieden, der Toleranz, der Sinnstiftung, der Entlastung der Sozial- und damit auch der Rentenkassen und dem Verständnis der Generationen füreinander. Mit anderen Worten: Sie wären ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Bürgerkultur, einem neuen Gesellschaftsvertrag!

Das Pflichtjahr für Senioren in der Kritik Statt über den wahrhaft monumentalen Nutzen dieses Vorschlags zu reden, überwogen beim Einbringen des Vorschlags im Dezember 2011 die Bedenken bis hin zur lautstarken Ablehnung. Darunter gibt es sowohl ernsthafte Einwände wie Missverständnisse. Ein Missverständnis ist der Vorwurf einer sogenannten Zwangsarbeit für hinfällige Greise. In der Talkshow Anne Will wurden Bilder von Greisen im Rollstuhl gezeigt, die nun von mir angeblich zur „Zwangsarbeit“ verdonnert werden sollten. Diese Dokumentation samt Vorwurf geht am Thema vorbei. Es geht weder darum, Greise arbeiten zu lassen, noch um die Verpflichtung von Menschen mit körperlichen Gebrechen. Ein zweiter Einwand bezieht sich auf etwaige finanzielle Engpässe und Schwierigkeiten. Wer sein soziales Pflichtjahr bei zu geringer Rente ableiste, der bringe sich um die Möglichkeit eines dringend benötigten Zuverdienstes

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O t t m a r Sc h re i ne r

M U S S DA S R E N T E NS Y S T E M IN R E N T E?

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agora42 • Ottmar Schreiner • MUSS DAS RENTENSYSTEM IN RENTE?


Gemeinhin wird die Tatsache, dass immer mehr ältere Menschen immer weniger jungen Menschen gegenüberstehen, als Grund dafür angeführt, dass eine solide Finanzierung der Rente nicht mehr möglich sei. Doch das ist nicht das entscheidende Problem. Viel problematischer ist es, dass es immer weniger auf Dauer angelegte, gut bezahlte (Vollzeit-) Arbeit gibt und dass die Gewinne, die mit der Steigerung der Produktivität verbunden sind, ungerecht verteilt werden. Und nicht nur das …

Ist die Rente sicher? Nein, ist sie nicht! Das heißt aber nicht, dass unser Rentensystem in Rente muss. Klar ist, dass mit den Rentenreformen im letzten Jahrzehnt die Renten für viele Menschen immer unsicherer werden. Besonders betroffen sind die Jüngeren, da das weiter sinkende Rentenniveau zu steigender Altersarmut führen wird. Daher steht besonders die junge Generation in der Verantwortung, sich für eine Rentenpolitik einzusetzen, die unser gesetzliches Rentensystem hinreichend gegen Altersarmut wappnet, es aber auch als tragende Säule der Alterssicherung verteidigt und stärkt. Noch ist für eine stabile Altersversicherung kein kaiserliches Dekret wie einst nach Gründung des Kaiserreichs notwendig. Aber: Wir brauchen den Aufstand der Jungen. Jetzt. Nicht Jung gegen Alt, sondern Jung und Alt müssen gemeinsam für ein leistungsstarkes, umlagefinanziertes Alterssicherungssystem eintreten.

Mythos Demografie Seit etlichen Jahren wird regelmäßig die „demografische Last“ beschworen, die das System der Sozialversicherung bedrohe. Die Überalterung der Gesellschaft sei schuld an den klammen Kassen. Politiker aller Parteien führen die Probleme in den Sozialversicherungen seit

geraumer Zeit auf demografische Ursachen zurück. Die Tatsache, dass unsere Gesellschaft immer älter wird, bedeute für die gesetzliche Rentenversicherung, dass sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern (Altenquotient) immer ungünstiger entwickle und damit eine solide Finanzierung im Umlageverfahren immer weniger möglich sei. Es stimmt und es ist gut so, dass unsere Gesellschaft immer älter wird. Es war aber grottenfalsch, die umlagebasierte Finanzierungskonzeption schwer zu beschädigen und durch Riester-Renten zu ersetzen. Denn der erste Denkfehler ist, dass das eigentliche Finanzierungsproblem des Rentensystems in der demografischen Altersstruktur bestehe und nur die ferne Zukunft betreffen würde – tatsächlich liegt das Problem in der Arbeitslosigkeit, der Lohnstagnation sowie der starken Zunahme prekärer Beschäftigung in den vergangenen Jahren und in der Gegenwart. die erosion der „normalbeschäftigung“ – also auf dauer angelegter, gut bezahlter (vollzeit-) arbeit, die sozial abgesichert ist – ist das hauptproblem. Wenn immer mehr Menschen in Minijobs beschäftigt sind oder als Solo-(Schein)-Selbstständige beziehungsweise mit Werkverträgen arbeiten, darf es keinen wundern, dass die Einnahmebasis und die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Alterssicherung immer

agora42 • Ottmar Schreiner • MUSS DAS RENTENSYSTEM IN RENTE?

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An n e Id ler

AUF DE M WEG W ZUR WA HL FA MI L IE

Laut so manchen Prognosen steht dem Sozialstaat Deutschland eine bittere Zukunft bevor. Gleich mehrere Damoklesschwerter hängen über uns: Demografie-Falle, Überschuldung des Staates, der Länder und der Kommunen, eine zunehmende soziale Vereinzelung. Doch wie sagte Friedrich Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ Es ist Zeit für neue Formen des Zusammenlebens.

Gefahren und Risiken – früher und heute er die Geschichtsbücher aufschlägt, stellt sehr schnell fest: Menschen drohten schon immer Gefahren – wirtschaftliche, gesellschaftliche, gesundheitliche, aber auch Konflikte innerhalb und zwischen den verschiedenen Generationen. Allerdings wirken die aktuellen Sorgen im Vergleich zum Leben früherer Generationen, die mit Hunger und Krieg zu kämpfen hatten, geradezu lächerlich. Zwar stellt man bei genauerem Hinsehen fest, dass die Risiken dieselben geblieben sind: Jeder Mensch ist auch heute noch potenziell von Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit, einem Unfall oder dem Verlust des Versorgers betroffen – und damit über kurz oder lang auf Hilfe von anderen angewiesen. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Risiken eintreten, heutzutage wesentlich geringer. Wie kommt es also – gerade angesichts der historisch noch nie da gewesenen politischen Stabilität innerhalb und außerhalb Deutschlands – dass man sich heute solche Sorgen um die Zukunft macht? Was hat sich im Vergleich zu früher verändert?

Soziale Sicherung gestern und heute Das System, welches den einzelnen Bürger bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend gegen Lebensrisiken absicherte, hieß Familie. In der Praxis bedeutete dies,

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agora42 • Anne Idler • AUF DEM WEG ZUR WAHLFAMILIE



Gegen die Angst I n ter v i e w m i t M a r g a re te M i t s c h e r l i c h u n d J u l i a F r i e d r i c h s Fotos: Janusch Tschech

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agora42 • Interview mit Margarete Mitscherlich und Julia Friedrichs


agora42 • Interview mit Margarete Mitscherlich und Julia Friedrichs

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Margarete Mitscherlich-Nielsen wurde 1917 in Dänemark geboren. Die Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin studierte Medizin und Literatur in München und Heidelberg und wurde 1950 in Tübingen zum Dr. med. promoviert. 1947 traf sie in der Schweiz den Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908–1982), den sie 1955 heiratete. Gemeinsam mit Alexander Mitscherlich bemühte sie sich nach dem Krieg um die Wiederbelebung der Psychoanalyse in Deutschland. 1960 war sie Mitbegründerin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, wo sie fortan vorrangig arbeitete, und fungierte viele Jahre als Herausgeberin der Zeitschrift Psyche. Gemeinsam mit ihrem Mann veröffentlichte sie 1967 das Buch Die Unfähigkeit zu trauern, das zu einem der wichtigsten Bücher für die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem nationalsozialistischen Regime wurde. Es folgten unter anderem die Bücher Die friedfertige Frau (1985), Die Zukunft ist weiblich (1987), Die Mühsal der Emanzipation (1990) und Die Radikalität des Alters (2010). Margarete Mitscherlich lebt in Frankfurt am Main.

Frau Mitscherlich, was unterscheidet jüngere von älteren Menschen? M: Dass die Jugend den Großteil ihres Lebens noch vor sich hat, während ich schon an meinen fünf Fingern abzählen kann, wann ich ins Gras beißen muss. Und in Bezug auf Werte und Einstellungen? M: In der Jugend ist man schon sehr viel mehr auf Zukunft eingestellt. Man hat bestimmte Ziele, die man erreichen, und bestimmte Interessen, die man verfolgen will. Ich persönlich habe mich immer sehr für andere Menschen und deren Leben interessiert. Wie denken sie, was tun sie? Ich war immer ein großes Mutterkind und habe mich sehr auf meine Mutter eingestellt, wollte wissen, was in ihr vorgeht. Das waren meine Interessen, und wenn Sie so wollen, ist das auch später mein Beruf geworden. Frau Friedrichs, denken Sie, es gibt spezifisch junge und alte Perspektiven auf das Leben? F: Ich denke, theoretisch ist es schon so, wie Frau Mitscherlich sagt: In der Jugend befindet man sich in einer Aufbruchphase; man will Dinge verändern. Das ist auch das Bild, das ich von Jugend hatte, bevor ich mit meinen Recherchen für mein letztes Buch begann. Was ich aber herausgefunden habe, ist, dass dieses Bild für die jetzige junge Generation nicht mehr so recht zutrifft. Denn ich bin oftmals auf verzagte, verängstigte Leute getroffen, die in vielem rückwärtsgewandter sind als die mittlere Generation. Dieses Aufbrechen, das Wissen, wo man hinwill, und das Anpackenwollen von Dingen – viele Jugendliche glauben, sich das nicht mehr leisten zu können. Viele Jugendliche, die ich nach ihren Zielen befragte, hatten die Vorstellung, sich mit ihren Ehepartnern in ihren Häusern einzubauen und alles Fremde und auch Lebendige außen vor zu lassen.

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agora42 • Interview mit Margarete Mitscherlich und Julia Friedrichs


Julia Friedrichs wurde 1979 in Gronau/Westfalen geboren. Sie studierte Journalistik in Dortmund und Brüssel. Nach einem Volontariat beim Westdeutschen Rundfunk arbeitet sie heute als freie Autorin von Fernsehreportagen und Magazinbeiträgen, unter anderem für die WDR-Redaktion die story und für die Zeit. Einem größeren Publikum wurde sie durch eine Zeitungsreportage über die Unternehmensberatung McKinsey bekannt. Um herauszufinden, wie Beraterfirmen arbeiten, nahm sie dort 2006 an einem Rekrutierungsprozess für Nachwuchsberater teil – eine verdeckte Recherche. Als sie von McKinsey tatsächlich ein Jobangebot bekam, lehnte sie ab und verzichtete damit auf einen Dienstwagen sowie 67.000 Euro Einstiegsgehalt. Zuletzt sind von ihr die Bücher Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen (2008), Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht (mit Eva Müller und Boris Baumholt, 2009) und Ideale. Auf der Suche nach dem, was zählt (2011) erschienen. Julia Friedrichs lebt in Berlin.

»Ich wurde schon bei meinem Start ins Berufsleben mit dem Gerede über die Krise konfrontiert, das einem heute überall entgegenschlägt.«

Woher rührt diese Angst? Die Jugendlichen wachsen doch in einem sehr sicheren Umfeld auf. M: Ich bin im Ersten Weltkrieg geboren worden, als eine Welt zusammenbrach. Die Frauen nach dem Ersten Weltkrieg brachen in eine neue Welt auf. Dies wurde bereits an der stark veränderten Kleidungsweise deutlich. Die Frauen hatten plötzlich einen Bubikopf und trugen kurze Kleider. Es war aber auch eine gefährliche Zeit, ein einziger Aufruhr mit vielen Gefahren: Bomben, Hitler, Tod – endlos. Es war eben ganz anders als heute, wo sich alles nur noch um Sicherheit dreht. Ich habe noch nie in meinem Leben so sicher gelebt wie in den letzten Jahrzehnten. Die Menschen waren in diesen gefährlichen Zeiten sehr viel aufbruchslustiger. Heute sind sie viel ängstlicher. F: Ich glaube, das ist eine gefühlte Angst. Ich wurde schon bei meinem Start ins Berufsleben mit dem Gerede über die Krise konfrontiert, das einem heute überall entgegen-

agora42 • Interview mit Margarete Mitscherlich und Julia Friedrichs

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Speakers ’ Cor ner

Speakers’ Corner („Ecke der Redner“) ist ein Versammlungsplatz im Hyde Park in London. Durch einen Parlamentsbeschluss vom 27. Juni 1872 kann dort jeder ohne Anmeldung einen Vortrag zu einem beliebigen Thema halten, seine Meinung über die gesellschaftlichen Verhältnisse kundtun und auf diesem Weg die Vorübergehenden um sich versammeln.

Maria Arenz hat sich nach einigen Jahren wissenschaftlicher Tätigkeit an einem Lehrstuhl für Zivilrecht in Tübingen im Jahr 1980 für eine Laufbahn als Wirtschaftsjuristin in der Automobilindustrie entschieden. Dies gab ihr Gelegenheit, wesentliche Entwicklungen (und Fehlentwicklungen) dieser Branche mitzuerleben und mitzugestalten. Von den Tätigkeiten, auf die sie insbesondere nicht mehr stolz ist, wären die „erfolgreichen“ Auseinandersetzungen mit EU-Organisationen in Sachen Vertriebssysteme und Abgasreduzierung zu nennen. Das meiste ihrer 2006 beendeten beruflichen Vergangenheit war aber in Ordnung. Seit 2008 arbeitet sie als ehrenamtliche Schuldnerberaterin beim Familienzentrum Korntal, seit Januar 2009 bei der Social Angels Stiftung (Mundelsheim) und seit August 2009 bei der Zentralen Schuldnerberatung der Stadt Stuttgart. Bis Ende 2009 war sie Mitglied des Präsidiums der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission.

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agora42 • Speakers’ Corner • DIE ENTDECKUNG ANDERER WIRKLICHKEITEN


DIE ENTDECKUNG ANDERER WIRKLICHKEITEN

Als ich in meiner Firma, die bis dahin „mein Leben“ war, einige Jahre vor dem geplanten Ruhestand plötzlich zur Persona non grata wurde und von einem Donnerstagabend auf den nächsten Freitagmittag meinen Schreibtisch räumen musste, ging es mir zunächst wie so manchem Hahn, dem gerade der Kopf abgeschlagen worden ist: Ich lief erst einmal einfach weiter – und zwar gleich am darauf folgenden Montag zur Freiwilligenagentur meiner Stadt, um mich nach einer neuen Aufgabe umzusehen. Dort traf ich auf zwei liebe Damen, die mich weder fragten, was ich denn bisher so alles gemacht hatte, noch sonst was mit mir anstellten, um Neigungen und Potenzial für eine geeignete ehrenamtliche Tätigkeit aufzuspüren. Sie drückten mir vielmehr einen Haufen weitgehend sinn- und zweckfrei bedrucktes Papier in die Hand und wollten mich sogleich zum Suppe-Ausschenken in einem Kindergarten und Hefezopf-Verkaufen bei einem „Event“ der Stadt einteilen. Nichts gegen Suppe und nichts gegen Hefezopf und diejenigen, die sich für diese Aufgaben hoffentlich noch gefunden haben, sind aller Ehren wert. Ich jedoch hatte mir unter ehrenamtlicher Tätigkeit etwas anderes vorgestellt.

Mehr als ein Jahr später, als ich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, noch eine sinnvolle Aufgabe zu finden, boten sich mir, mehr oder weniger zufällig, innerhalb einer Woche gleich drei Gelegenheiten, ehrenamtlich tätig zu werden: Die mir bekannte Leiterin eines Kinderheims bat mich, mich einer jungen Frau anzunehmen, die wegen ihrer Schulden nicht mehr ein noch aus wisse. Das Jugendamt der Stadt Stuttgart, bei dem ich mich zuvor aufgrund eines aus reiner Langeweile gelesenen Zeitungsberichts für eine Familienpatenschaft beworben hatte, meldete sich endlich doch noch mit der Mitteilung, man habe eine geeignete Familie für mich gefunden. Und schließlich sprach mich Brigida Röser, die ich im Rahmen einer Ferienakademie kennengelernt hatte, darauf an, ob ich nicht bei einem neu anlaufenden Projekt, der von ihr und ihrem Mann gegründeten Social Angels Stiftung, mitmachen wolle. Social Angels Stiftung: Die Social Angels Stiftung wurde 2007 vom Unternehmerehepaar Jürgen und Brigida Röser gegründet. Die Stiftung hat sich die Förderung ehrenamtlichen Engagements zum Ziel gesetzt. Durch ihr Projekt „Weiterbildung zum Engagementberater/zur Engagementberaterin“ sollen Führungskräfte, die bereits im Ruhestand sind oder kurz vor dem Ende der Erwerbstätigkeit stehen, darin ausgebildet werden, Unternehmen und deren Mitarbeiter zu sozialem Engagement zu motivieren – sowohl im eigenen Unternehmen wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen (www.social-angels.de).

Das Engagement für die junge überschuldete Frau führte zu einer regelmäßigen ehrenamtlichen Tätigkeit bei der Zentralen Schuldnerberatung Stuttgart und der Familienhilfe Korntal. Der Kontakt zu der mir vom Jugendamt vermittelten Familie hält bis heute. Die Tätigkeit bei der Social Angels Stiftung für das Projekt „Weiterbildung zum Engagementberater“ hat mir – gerade aufgrund meiner negativen Erfahrungen mit öffentlichen Beratungsstellen – gezeigt, wie wichtig es ist, Unternehmen zu motivieren, frühzeitig ein Bewusstsein für das Ehrenamt bei den Mitarbeitern zu schaffen; sie hat mir außerdem das Know-how dazu verschafft, ehrenamtliche Tätigkeit qualifiziert zu vermitteln. Im Rahmen dieses Projekts, das seit Beendigung der Förderung im

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K a i Ham m e r m e i s te r

JAC Q UE S L AC A N UND DIE L IEBE Z U M N E U R O T I S C HE N S U B J E K T Por t ra i t Die ganz Jungen und die ganz Alten waren bei Sigmund Freud (1856–1939) von der psychoanalytischen Therapie ausgeschlossen. Die ganz Jungen, weil sie als noch ungenügend sprachbegabt nicht die erforderliche Ausdruckskapazität besaßen, welche in einer Therapie vonnöten war, die das Unbewusste zum Sprechen bringen wollte. Der gleiche Vorbehalt traf übrigens auf alle mit deutlich unterdurchschnittlicher Intelligenz zu. Die ganz Alten hingegen blieben außen vor, weil ihre neurotischen Symptome über die Jahrzehnte eine solche Verhärtung erfahren hatten, dass sie nur mit größter Anstrengung aufgebrochen werden konnten.

Die psychoanalytische Pest Ziel der psychoanalytischen Arbeit darf niemals die erfolgreichere Eingliederung in die bestehenden Verhältnisse sein, wie Lacan das seiner Ansicht nach vollkommen missgeleitete Unternehmen der Ich-Analyse in Nachfolge Anna Freuds sieht. Gegen solcherlei integrative Analyse insbesondere amerikanischer Couleur gilt es, psychoanalytische Subversion zu praktizieren. Lacan berichtet über eine Anekdote, die ihm angeblich der Schweizer Psychiater C. G. Jung (1875–1961) bei einem Besuch erzählt hat, die aber wahrscheinlich von ihm selbst erfunden wurde. Als ihr Schiff 1909 in

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den Hafen von New York City einlief, wo eine jubelnde Menge auf sie wartete, raunte Freud Jung, mit dem er sich auf Amerikafahrt befand, zu: „Sie wissen nicht, dass wir ihnen die Pest bringen.“ Für Lacan war es durchaus Aufgabe der Psychoanalyse, sich zur gesellschaftlichen Pest zu machen, um so gegen den Zwang zur Übernahme amerikanischer Lebensmodelle zu opponieren, die immer mehr den Rest der Welt infiltrierten. von anfang an war lacans verständnis der psychoanalytischen praxis eher an modellen des widerstands und der rebellion als am medizinischen diskurs der heilung ausgerichtet. Bereits in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts teilte er mit den französischen Surrealisten seines Bekanntenkreises die Hoffnung auf ein befreiendes Potenzial des Unbewussten, und vom Konzept der Heterologie (heterolog: abweichend, fremd) seines Freundes Georges Bataille (1897–1962), die in Sex, Exkrement, Lachen und Ekstase Widerstandsmomente gegen politische und ökonomische Institutionen ausmachte, borgte Lacan sich viel für die theoretische Unterfütterung seiner psychoanalytischen Arbeit. Lacan wurde 1901 in Paris geboren. Nach einer jesuitischen Schulausbildung studierte er Medizin und wurde Facharzt für Psychiatrie. Schon während des Studiums befreundete er sich mit Salvador Dali (1904–1989) und André Breton (1896–1966); später wurde er der Haus-

agora42 • Portrait • JACQUES L ACAN


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