agora42 02/2011 - Was macht das Leben komplex?

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02/2011 • 7,90! (D)


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Altgriechisch ĮȖȠȡĮ! Im antiken Griechenland Versammlungsplatz oder Markt im Zentrum einer Stadt Politische, juristische und philosophische Versammlungsstätte freier Bürger Kultisches Zentrum der Polisgemeinschaft Bedeutender Schritt in der Entwicklungsgeschichte der attischen Demokratie

Im ersten Buch von Douglas Adams The Hitchhiker‘s Guide to the Galaxy wird folgende Geschichte erzählt: • Eine weit fortgeschrittene außerirdische Kultur sucht die Antwort auf die Frage aller Fragen, nämlich jene nach „life, the universe and everything“ • Dazu entwickelt und baut sie den Supercomputer Deep Thought • Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren erbringt Deep Thought die Antwort „42“ • Auf die Ratlosigkeit der Erbauer hin entgegnet Deep Thought, dass die Frage nicht präzise gestellt worden sei und schlägt vor, einen von ihm erdachten, noch größeren Computer zu bauen, der fähig ist, die zur Antwort passende Frage zu finden • Dieser Computer wird gebaut und das Programm zur Suche der Frage auf die Antwort wird gestartet • Es stellt sich heraus, dass dieser noch größere Computer der Planet Erde ist


I N H A LT agora42

Personen

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Editorial

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Prolog

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Parallaxe vom überwürzen des einfachen und der gefrässigkeit des unendlichen

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Ökonomische Theorien wenn alle alles wissen

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Philosophische Perspektive komplexität: strafe für zynismus

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Grundannahmen der Ökonomie die maschine, der schleimpilz und die finanzmärkte

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Dirk Elsner komplexität in der wirtschaftspraxis – kein entkommen aus der zwickmühle?

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Markus Gabriel komplexität und nihilismus – wie orientierungslos sind wir?

Interview • Constanze Kurz Mir geht es um die Veränderung des gesellschaftlichen Grundkonsenses.

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Speaker‘s Corner

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Autorenkollektiv chaos – eine unordentliche einführung

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Portrait vilfredo pareto

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Mark Linzmajer entscheiden in komplexen situationen

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Gedankenspiele

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Zahlenspiele

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Auf dem Marktplatz

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Plutos Schatten

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Auf dem linken/rechten Auge blind

90

Impressum

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agora42 • Ökonomische Theorien • WENN ALLE ALLES WISSEN


Ö ko n o m i s c h e T he o r ie n

W ENN ALLE ALLES WI SSEN der erfolg der boulevardmedien spricht für sich. wer über prominente berichtet oder quasi-prominente in einen dschungel schickt (leider mit rückfahrschein), erfreut sich grösster beliebtheit. und schon wieder steht ein grosses boulevardereignis vor der tür: am 27. februar 2011 findet im kodak theatre in los angeles die 83. verleihung des academy award statt – im volkmund besser bekannt als oscar-verleihung. dieses jahr möchten wir von der agora42 mit dabei sein und stellten uns die frage: wie können wir dieses mediale ereignis gewinnbringend ausschlachten und das öffentliche interesse daran in klingende auflagenmünze verwandeln?

Bei Redaktionsschluss waren wir uns einig, dass der ideale Einstiegszeitpunkt der 26. Februar 2011 ist. Denn an diesem Tag wird die „Goldene Himbeere“ verliehen – eine Ehrung, die kein Hollywood-Star gerne entgegennimmt. Die Goldene Himbeere ist ein Alternativpreis, der im Vorfeld der Oscar-Verleihung die schlechtesten filmischen Leistungen des Jahres kürt. Mit gleich acht Auszeichnungen im Jahr 2008 hält der Film Ich weiß, wer mich getötet hat den Rekord – kein Film zuvor in der Geschichte des Preises hat mehr Auszeichnungen erhalten. Dabei erhielt die Hauptdarstellerin und SkandalProminudel Lindsay Lohan gleich drei Auszeichnungen. Und wenn ein Film den Rekord in den schlechtesten filmischen Leistungen hält, ist auch die Story schnell erzählt: Die in einer Kleinstadt lebende Aubrey Fleming

(gespielt von Lindsay Lohan) wird eines Tages von einem Serienmörder entführt und gefoltert. Später findet man sie schwer verstümmelt am Straßenrand auf. Im Krankenhaus streitet sie ab, Aubrey Fleming zu sein und behauptet, sie sei die Stripperin Dakota Moss (ebenfalls von Lindsay Lohan gespielt). Die Eltern und behandelnden Ärzte denken, es handle sich um Gedächtnisverlust und um eine Fantasieidentität. Dakota Moss begibt sich auf die Suche nach ihrer wahren Identität und findet heraus, dass die entführte Aubrey Fleming ihre eineiige Zwillingsschwester ist. Bei der Geburt wurden die Zwillinge aufgrund eines tragischen Ereignisses getrennt. Im Rahmen ihrer Recherche findet Dakota heraus, dass die Verletzungen, die sie scheinbar ohne fremde Einwirkung erlitten hatte, auf eine ganz banale Ursache

agora42 • Ökonomische Theorien • WENN ALLE ALLES WISSEN

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agora42 • Philosophische Perspektive • KOMPLEXITÄT: STRAFE FÜR ZYNISMUS


P h i l o s o p h i s c h e Pe r s p e k t i v e

KOMPLEXI TÄT: ST R AFE FÜR ZYNI SMUS die klage, dass die welt immer komplexer werde, hört man allerorten. aber was ist es denn eigentlich, das da immer komplexer wird? was ist mit „welt“ eigentlich gemeint? nur so viel ist klar: der „welt“ ist noch niemand begegnet …

Über „die Welt“ oder „das Leben“ lässt sich nichts sagen. Ganz einfach aus dem Grund, weil man keine Position abseits der Welt oder abseits des Lebens beziehen kann; keine Position, von der aus man „über“ Welt oder Leben sinnieren kann. Man steht eben nicht „über“ der Welt oder „über“ dem Leben, sondern befindet sich immer in der Welt und im Leben. Deshalb ist es auch unsinnig, vom Menschen auf der einen und der Welt auf der anderen Seite zu sprechen; beides, Mensch und Welt, sind immer schon auf das Innigste miteinander verwoben. „In-der-Welt-Sein“ nannte Martin Heidegger (1889– 1976) dementsprechend unsere Seinsweise. Das heißt, wir sind stets in gewisse Umstände, in ein bestimmtes Umfeld eingebettet. Wir sind eben nicht einfach nur „da“, sondern befinden uns stets in einer bestimmten Situation, zu der wir uns verhalten. In einer Situation,

die durch eine Wechselwirkung zwischen dem Sein, das ich als das meinige, und dem Sein, das ich als das Sein der Dinge oder das Sein anderer Menschen, bezeichne, gekennzeichnet ist. „Es ist absurd zu fragen: ,Na, was wirst Du wohl heute in der Außenwelt unternehmen?‘ In allem, was wir tun, sind wir schon ,in‘ dieser Welt zugange, ohne dass dies bedeuten würde, dass es ein Außen dieser Welt gäbe, aus dem man erst in sie eintreten müsste … Vielmehr ist das Dasein welthaft. In-sein in einer Welt heißt etwa ,vertraut sein mit etwas oder jemandem‘, ,zutunhaben mit etwas oder jemandem‘, ,herstellen von etwas‘ …“ (Andreas Luckner) Um also präzise zu sein, müsste man sagen, dass man nicht in einer „Welt“, sondern „in Situation“ lebt. Diese Situation ist immer ganz, das heißt wir gehen stets ganz in unserem jeweiligen Umfeld auf. Insofern ist es falsch zu sagen, die Welt sei komplex, weil dadurch der Anschein erweckt wird, als gebe es eine Welt, die vollkommen unabhängig existiert – irgendwo „da draußen“. Doch wenn man sich eine solche an und für sich existierende Welt vorstellt, dann handelt es sich dabei um ebendies: unsere Vorstellung – und die ist geleitet von unseren Erfahrungen, unseren Interessen, unserer Fantasie. Wenn man über „die Welt“ spricht, gaukelt man sich vor, dass man sich selbst aus der Situation, dem „In-der-Welt-Sein“, ausklammern könnte; man tut so, also ob man nicht an der Komplexität dieser Situation beteiligt wäre. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wirkt gerade das, was man als „normal“ bezeichnen würde, nämlich dass Menschen von einer unabhängig von ihnen existierenden Welt (einem Universum, einer Wirklichkeit) ausgehen, ziemlich verwunderlich. Man müsste sich eigentlich fragen, wie es möglich sein kann, dass wir, die „In-Situation-Wesen“, auf die Idee kommen können, es könne ein „Darüber-hinaus“ geben – ein unabhängig von unserer Vorstellung existierendes Universum, ein Gott, aber auch übergreifende Prinzipien beziehungsweise Ideale wie Freiheit, Gerechtigkeit etc.

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agora42 • Dirk Elsner • KOMPLEXITÄT IN DER WIRTSCHAFTSPRAXIS


Di r k E lsn er

KOMPL EXI TÄT IN DE R W I R T S C H A F T SPR A X I S  K E IN E N TKOMME N AU S DE R Z WICK MÜHL E? A L L E S L E B E N I S T PROB L E M L Ö S E N.  K a rl Po p p e r

ob man sich heute mit konkreten fragen der unternehmensführung oder den finanzmärkten befasst – fast automatisch stösst man auf das thema komplexität. genauer: auf das schlagwort von der „gestiegenen komplexität“ und die mit ihr verbundenen probleme. die vorschläge zur bewältigung dieser probleme basieren jedoch zumeist auf einer einseitigen sichtweise, die der komplexen ökonomischen praxis nicht gerecht wird.

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agora42 • Markus Gabriel • KOMPLEXITÄT UND NIHILISMUS


Markus Gabr iel

KOMPL EXI TÄT UND N IHIL I SM U S 

W I E OR I E N T I E R U N G S L O S S I N D W I R ? philosophen befragen verbreitete, furcht oder hoffnung erregende begriffe wie „gerechtigkeit“, „wahrheit“ oder eben „komplexität“ auf ihre voraussetzungen hin. diese befragung kann man besinnung nennen. besinnen wir uns also auf komplexität, anstatt uns unkritisch in ihren bann ziehen zu lassen!

Wir leben in einer immer komplexer werdenden Welt. Damit verbinden wir eine Steigerung von Unsicherheit, eine erhöhte Lebensgeschwindigkeit, unüberschaubarere Verhältnisse in allen Lagen. Unsicherheit, deren Ursachen sich nicht überschauen lassen und die folglich auch nicht behoben werden kann, führt notgedrungen zu Orientierungslosigkeit. Diese Orientierungslosigkeit kompensieren wir wiederum durch die Erhöhung unserer Lebensgeschwindigkeit, wodurch wir noch mehr Komplexität erzeugen. So scheint es, als ob wir zu Gefangenen dieser komplexen Welt würden. Mit anderen Worten: Wir sind entfremdet. Das heißt, wir finden uns in einer komplexen Lage vor, mit der wir nur dadurch zurechtkommen können, dass wir ihre Komplexität imitieren. Wir sind gezwungen, unsere Lebensformen an einer bedrohlichen Komplexität zu orientieren – einer Komplexität, die aber gar keine inhaltliche Orientierung bieten kann. wenn man sich nur noch an seiner eigenen orientierungslosigkeit orientieren kann, ist irgendetwas schiefgelaufen. Genau dieses Phänomen beschreibt der Nihilismus.

Nihilismus: Nihilismus (von lat. nihil = nichts) bezeichnet eine radikale Form der Verneinung: die Verneinung der Existenz einer objektiven Grundlage für Erkenntnis, die Verneinung jeglichen Sinngehalts des Daseins sowie die Verneinung von Werten und moralischen Normen.

Der Nihilismus erklärt alles für sinnlos. Wenn man sich die Etymologie des Wortes „Sinn“ ansieht, wird man feststellen, dass Sinn unter anderem „Richtung“ bedeutet. Dieser Aspekt ist in den romanischen Sprachen bis heute bewahrt. So heißt die Einbahnstraße im Italienischen „senso unico“ und die Pfeilrichtung eines Verkehrszeichens im Französischen „sens de la flèche“. Wenn wirklich alles sinnlos ist, dann hat dies eine fundamentale Richtungs- und damit auch Orientierungslosigkeit zur Folge. Wenn der Nihilismus zuträfe, dann wäre unsere Orientierungslosigkeit unsere Orientierung. Dies wäre ein geringer Trost in einer trostlosen Welt. Allerdings ist unsere Lage keineswegs so ausweglos, wie sie eingangs beschrieben wurde. Denn wir können frei darüber entscheiden, welche Einstellung wir der Welt gegenüber einnehmen. Der Nihilismus ist dabei nur

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agora42 • Marc Linzmajer • ENTSCHEIDEN IN KOMPLEXEN SITUATIONEN


M a rc L i n z m a j e r

E N T S C H E I DE N IN KOMPL EXE N S I T UAT ION E N  S C IE N T I S T S H AV E F I N A L LY DI S CO V E R E D WHAT ‘ S WRONG WI T H T HE BR A IN: O N T H E L E F T S I DE , T HE R E I S N O T H I N G R IG H T, A ND ON T HE R IGHT SIDE , T HE R E I S N O T HIN G LEF T...  A n ony mou s

was lernen wir aus der beschäftigung mit unserem gehirn über die art und weise, wie wir entscheidungen treffen?

agora42 • Marc Linzmajer • ENTSCHEIDEN IN KOMPLEXEN SITUATIONEN

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M A R K TPL ATZ

WA S M AC H T DA S L E B E N KOMP L E X ?

»

F R E I H E I T. UND DA S I S T AUC H GU T S O!

DE R ÖFF E N TL IC HE NAHVERKEHR IN S TU T TG A RT.

Versicherungskaufmann, 54

DIE E N TGR E NZUNG DE R

GELD!

A R B E I T, DI E Z U N E H M E N D

DIE E NOR ME FÜL L E A N WAHLMÖGL IC HK E I T E N;

Student, 25

Astrophysiker, 34

A L L E F R E I Z E I T V E R S C HL I N G T. Kreativdirektor einer Werbeagentur, 45

DIE SE S G E F Ü H L , E S KÖN N T E I M M E R N O C H E T WA S B E S SE R E S G E B E N . DA S FÄ N G T B E I M K Ä S E R E G A L I M S UPE R M A R K T A N U N D HÖRT B E I DE R PA RTN E R WA H L N O C H L A N G E N IC H T AUF. M A N C H M A L

W E N N M A N S E I N E FA M I L I E E R N S T N I M M T U N D V E R S U C H T, S I E M I T DE M B E RU F Z U V E R E INE N, DE N M A N AUC H ERN S T NIM MT.

W Ü N S C H E IC H M I R E I N E W E LT, I N DE R IC H N IC HT U N U N T E R B R O C HE N E N T S C HE I D U N G E N T R E F F E N MÜSSTE.

Angestellter einer Bank, 45

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agora42 • Marktplatz

Controllerin, 32


V I E L L E IC H T, DA S S W I R I M M E R Z U V E R S U C H E N , E S E I N FAC H E R Z U M AC H E N , Z U M B E I S P I E L M I T T E C HNIK UND F OR S C HU N G , AB ER DA M I T N ATÜR L IC H AU C H A B H Ä N G IG K E I T E N S C H A F F E N . U N D DIE S E G A N Z E N Z WÄ N G E , DI E S IC H Ü B E R L AG E R N ,

E I N OFF E N E S , L I E B E NDE S H E R Z U N D E I N OFF E N E R , L I E BE NDER V E R S TA ND. Lehramtsstudentin, 22

S T E H E N I M G E G E N S AT Z Z U E I N E M E I N FAC H E N L EBE N.

Buchhalter, 42

DA S W I S SE N Ü B E R KOMPL EXI TÄT M AC HT DA S

DIE S C HIER UNFA S SB A R E INF OR M AT ION S F L U T, DA S U N E N D L IC H E A NG E B O T A N A L L E N E R DE N K L IC HE N S AC HE N U N D VOR A L L E M U N S E R E U N B E R E C H E N B A R K E I T. Student (BWL), 23

L EBE N KOMPL E X . Designerin, 32

L IEBE UND F R AUE N.

Fachinformatiker, 30

M O DE R N E KOM M U N I K AT ION M AC H T M E I N L EBE N KOMPL EX . S TÄ NDIG UND ÜBER A L L E R R E IC H B A R S E I N Z U M Ü S SE N. Studentin (VWL), 21

DA S N AC H DE N K E N ÜBER DIE KOMPL EX I TÄT, L E T Z T L IC H DI E E R K E N N T N I S , DA S S A L L E S , WA S

DA S OF T NIC HT

E X I S T I E RT, E I N E

AU S G EWO G E NE

UNE NDL IC H E

S P I E L Z W I S C HE N

KOMPL EXI TÄT BE-

KOPF UND HER Z .

I N H A LT E T.

Musikredakteur, 36

agora42 • Marktplatz

Elktroingenieur, 32

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Constanze Kurz wurde 1974 in Ostberlin geboren und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin am Lehrstuhl „Informatik in Bildung und Gesellschaft“. Derzeit schreibt sie an ihrer Dissertation über Wahlcomputer und forscht zu Themen wie Ethik in der Informatik, Datenschutz, Biometrie und technisierte Überwachung. Sie war technische Sachverständige beim Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Beschwerdeverfahrens gegen die Vorratsdatenspeicherung, ist ehrenamtliche Sprecherin des Chaos Computer Clubs und technische Sachverständige in der Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestags.

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agora42 • Interview mit Constanze Kurz


»MIR GEHT ES UM DIE VER ÄNDERUNG DES GESELL SCHAF TLICHEN GRUNDKONSENSES . I nte r v i e w m i t Co ns ta nz e Kur z

Fotos: Alexander Klebe

Frau Kurz, man vernimmt immer häufiger die Klage, dass die Welt komplexer wird. Hat daran auch das Internet Anteil? Komplexität hat für den Einzelnen meist etwas mit einem Mangel an Überschaubarkeit zu tun. Man spricht beispielsweise von Komplexität, wenn man die Funktionsweise von etwas nicht versteht oder auch Funktionen nicht steuern kann. Das Internet ist in dieser Hinsicht natürlich von einer wachsenden Komplexität gekennzeichnet – allein schon vor dem Hintergrund, dass sich viele und ganz verschiedene technische Standards herausgebildet haben, die nur noch von sehr wenigen in allen Aspekten verstanden werden. Dazu kommt, dass das Internet in immer mehr Bereiche des alltäglichen Lebens vordringt, und diejenigen, die sich bisher wenig oder gar nicht damit auseinandergesetzt haben, zwingt, sich mit dieser Thematik zu befassen – sei es, weil es ihre Arbeit erfordert oder weil bestimmte Dienstleistungen nur noch im Internet angeboten werden. Viele sind davon überfordert. Dies betrifft beispielsweise die „Silversurfer“. Damit sind ältere Internetnutzer gemeint, die den Druck verspüren, mit den neuen Entwicklungen Schritt halten zu müssen. Für diese Personengruppe nimmt die Komplexität natürlich enorm zu: Sie müssen sich mit einer vollkommen neuen Technik auseinandersetzen, die weitaus schwieriger zu bedienen ist als ein Telefon oder ein Auto.

agora42 • Interview mit Constanze Kurz

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Dieses Risiko besteht zum Teil schon. Da nicht einmal die USA es schaffen, ihren Datenschatz zu hüten, wird man vermehrt dazu übergehen, beispielsweise in Botschaften weniger zu verschriftlichen. Aber das wird lediglich ein temporäres Phänomen sein. Warum? Zum einen wird man den Skandal um die Veröffentlichung von rund einer Viertelmillion Depeschen US-amerikanischer Botschaften mit der Zeit vergessen und zum anderen bestehen schlichtweg Dokumentationspflichten Eine staatliche Behörde hat die Pflicht, ihr Tun zu dokumentieren – das ist keine optionale Angelegenheit. Dass man nur noch redet und nichts mehr aufzeichnet, halte ich für keinen guten Weg. Besser wäre es wohl, der Staat würde sich ein bisschen mehr darum sorgen, wie er seine Daten sichert. Noch besser wäre es, wenn Staaten von sich aus ein bisschen mehr Transparenz zeigen würden. Apropos Dokumentationspflichten: Wir erleben gerade in allen Bereichen eine Explosion von Informationen. Diese können nicht alle auf Langzeitmedien gespeichert werden … … Wir haben auch gar kein Konzept für die Langzeitarchivierung … … Wer kann denn eigentlich entscheiden, welche Informationen langfristig gespeichert werden sollen und welche nicht? Es gibt zunächst so etwas wie eine Aufmerksamkeitsökonomie in Bezug auf Informationen. Das heißt die Daten, an denen die Menschen ein Interesse haben, geraten nicht in Vergessenheit, da sie aktiv genutzt werden. Wenn man aber langfristig denkt und sich die Frage stellt, was die nachfolgenden Generationen – vorausgesetzt, es gibt noch welche – über uns erfahren können und sollen, dann gestaltet sich die Frage deutlich schwieriger. Im Gegensatz zu Höhlenzeichnungen oder Pergamentrollen, die viele Tausende Jahre überdauert haben, sind die digitalen Daten weitaus flüchtiger. Was wird also einmal von uns übrig bleiben? Alle Medien, die wir derzeit für das digitale Speichern von Daten

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agora42 • Interview mit Constanze Kurz


»Glaubt man den Hirnforschern, dann gibt es in jedem von uns eine Aufmerksamkeitsökonomie« benutzen, sind möglicherweise für Jahrzehnte und Jahrhunderte geeignet, aber nicht für eine wirklich langfristige Archivierung. Aber das Problem ist bekannt und ich bin optimistisch, dass die Informatik eine Lösung finden wird. Wenn man es der Aufmerksamkeitsökonomie überlässt, was spätere Generationen wissen werden, müssen diese dann nicht annehmen, dass wir uns vor allem mit Soaps, Sportevents, irgendwelchen Königshäusern und dem Dschungelcamp beschäftigt haben? Sicher, es wird eine Menge Klatsch produziert, der keine menschheitsrelevanten Daten enthält. Aber für alles andere gibt es bewährte Institutionen: Nationalbibliotheken, Forscher, Universitäten etc. Es findet also bereits eine Form von Wissenskonservierung statt, die jenseits der Aufmerksamkeitsökonomie greift. Wobei die Aufmerksamkeitsökonomie doch interessante Aspekte aufweist. Denn glaubt man den Hirnforschern, dann gibt es in jedem von uns eine Aufmerksamkeitsökonomie: Die Dinge, die uns besonders geprägt beziehungsweise emotional stark berührt haben, speichern wir in uns ab. Im Netz lassen sich ähnliche Effekte beobachten.

agora42 • Interview mit Constanze Kurz

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Wolfra m B e r nh a rd t

VILF R E D O PA R E TO – DI E AU S W E I T U N G DE R ÖKONO M IE Por t ra i t

Dass Ökonomie komplex ist, hört man allerorten. Dass sich die Komplexität der Ökonomie über ihre Modelle hinaus ins Unendliche steigert, sobald man sie als Teil der Sozialwissenschaft begreift, liegt auf der Hand: Begriffe wie Glück, Fairness, Neid und Gerechtigkeit, die im menschlichen Zusammenleben eine wichtige Rolle spielen, sind mittels Zahlen und abstrakter Modelle schwer zu fassen. Fragen nach Glück oder einer gerechten Verteilung liegen bekanntermaßen im Auge des Betrachters und lassen sich nicht allgemeingültig beantworten – zumindest nicht ausschließlich mit ökonomischen Theorien. Vilfredo Pareto erkannte diese Problematik und versuchte deshalb, die Ökonomie und die Soziologie zusammenzubringen. Er prägte das heute allen Ökonomen bekannte Konzept der Pareto-Effizienz: ein Kriterium zum Vergleich der Verteilungsergebnisse, die aus dem Tausch- und Handelsprozess resultieren. Demnach wird das Ergebnis eines Tauschs als Pareto-effizient bezeichnet, wenn es keine Möglichkeit gibt, irgendjemanden der am Tausch beteiligten Personen besserzustellen, ohne dadurch jemand anderen zu benachteiligen.

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Vom Ingenieur zum Ökonom Vilfredo Federico Pareto (Geburtsname: Wilfried Fritz Pareto) wurde am 15. Juli 1848 in Paris geboren. Sein Großvater war von Napoleon aufgrund seiner Verdienste um die Cisalpinische Republik, eine im Jahre 1797 errichtete Republik im Norden von Italien, in den Stand eines Marchese (vergleichbar mit einem deutschen Markgraf) erhoben worden. Als Anhänger der liberal-nationalen Einheitsbewegung in Italien musste er jedoch nach deren Zerschlagung nach Frankreich fliehen. Sein Enkel Vilfredo sollte später auf die Frage, wie er denn angeredet werden wolle, ob mit „Marquis“ oder mit „Professor“, geantwortet haben: „Da ich weder für den Marquis etwas kann und nur durch Zufall Professor geworden bin, am liebsten mit ,Monsieur‘.“ Dessen ungeachtet zögerte er aber nicht, in Situationen, in denen es ihm angebracht erschien, seine mit einer Grafenkrone verzierte Visitenkarte aus der Tasche zu ziehen. Mit elf Jahren verließ die Familie Paris und zog in die Schweiz. Nach dem Abitur studierte er am Polytechnikum in Turin und erwarb mit 21 den Abschluss als

agora42 • Portrait • VILFREDO PARETO – DIE AUSWEITUNG DER ÖKONOMIE


agora42 • Portrait • VILFREDO PARETO – DIE AUSWEITUNG DER ÖKONOMIE

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