agora42 2/2017 DIGITALISIERUNG

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A G O R A

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Ausgabe 02/2017 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 02/2017

DIGITALISIERUNG


INHALT

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T

—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

—8 DIE AUTOREN —9 Eduard Kaeser

Leben in Technotopia — 96 MARKTPLATZ

Wer ist die junge Frau auf dem Cover dieser Ausgabe?

— 98 IMPRESSUM

Titel: Eloïse Cotty "Scandale !", Oil on canvas, 74 x 54 cm 2014

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— 14 Karin Frick

Die Rückkehr der Dinge — 19 Wolfram Bernhardt

To blockchain, or not to blockchain, that is the question

— 24 Felix Stalder

Grundformen der Digitalität — 30 PORTRAIT

Software – Wie sie wurde, was sie ist (von Detlef Borchers)


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Inhalt

I

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INTERVIEW

HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 54 DIE AUTOREN — 55 Eike Wenzel

Die große digitale Transformation

— 38 Zwischen Himmel und Hölle

Interview mit Rafael Capurro

— 62 Joachim Paul

Über Monster und Kurzschlüsse der Erkenntnis — 68 Tilman Santarius

Die dunkle Seite des „smart everything“ — 73 Elmar Schenkel

— 80 VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN

Die Thales-Akademie im Gespräch mit Helmut Weisser LAND IN SICHT — 88

Digitale Mündigkeit — 90

Algorithm Watch — 92

Low-tech Magazine — 94 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

Zukunft im digitalen Zeitalter

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DIE AUTOREN

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Eduard Kaeser

Karin Frick

hat theoretische Physik und Philosophie studiert und ist als freier Publizist tätig. Auf seinem Blog „Philosofaxen“ finden sich alle seine bisherigen Publikationen (kaeser-technotopia. blogspot.de). Sein neues Buch kommt 2017 heraus: Die Welträtsel sind nicht gelöst.

ist Leiterin Research und Mitglied der Geschäftsleitung des Gottlieb Duttweiler Instituts. Die Ökonomin befasste sich seit ihrem Studium an der Universität St. Gallen (HSG) in verschiedenen Funktionen mit Zukunftsthemen, gesellschaftlichem Wandel, Innovation und Veränderungen von Menschen und Märkten.

— Seite 9

T E R R A I N © Foto: Janusch Tschech

© Foto: Dominik Landwehr

— Seite 14

Wolfram Bernhardt

Felix Stalder

studierte BWL mit dem Schwerpunkt Finanz- und Kapitalmärkte. Er ist Mitherausgeber der agora42.

ist Professor für digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste und forscht am World-Information Institut in Wien. Von ihm zum Thema erschienen: Kultur der Digitalität (Suhrkamp Verlag, 2016). Seine Schriften, Vorträge und Interviews sind gesammelt auf seinem Blog: felix.openflows. com

— Seite 19

— Seite 24 8


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T E R R A I N

Leben in Technotopia — Text: Eduard Kaeser

Tiere, sagt man, leben in Biotopen. Menschen, so könnte man anfügen, leben immer mehr in Technotopen. Das heißt, der Umgang mit technischen Geräten geht uns zusehends in „Fleisch und Blut“ über. Wir leben mit den Geräten in Symbiose. In diesem Sinn ist die Technik zum Lebensmedium geworden. Sie erweitert, verstärkt, verbessert nicht nur unsere traditionellen Aktivitäten, sie definiert sie um, sie diktiert die Vorgaben, unter denen wir leben. 9


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T E R R A I N

Die Rückkehr der Dinge —

Text: Karin Frick

Schon heute sind mehr Dinge als Menschen im Internet vernetzt – miteinander und mit uns. Sie werden sinnlich und selbstständig, lernfähig und vielleicht auch ein bisschen unheimlich. Ein Ausblick auf die magische Welt der modernen Heinzelmännchen. 14


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Die Rückkehr der Dinge

Vernetzte Sensoren

Wir sind es zwar noch gewohnt, Sinnlichkeit mit Lebewesen zu verbinden, aber es gibt keinen Grund, warum ein Ding, ein Produkt nicht zu sinnlichen Wahrnehmungen fähig sein sollte. Sensoren sind es, die uns Menschen etwas wahrnehmen lassen (wir nennen sie meistens „Sinne“), und Sensoren sind es, die Dinge etwas wahrnehmen lassen: Der Rauchmelder nimmt Rauch wahr, das Fitness-Armband Schritte und Pulsschläge, der GPS-Sensor erkennt, wo wir sind – und das Armaturenbrett merkt, wenn wir übermüdet am Steuer sitzen. Sie alle arbeiten bereits, sie alle bringen uns Nutzen, und viele davon sogar noch weiteren Nutzen, wenn sie nicht für sich alleine arbeiten, sondern mit anderen Dingen oder der ganzen Welt verbunden sind. Das Internet der Dinge ist keine Zukunftsvision mehr, es existiert bereits. Und es wächst explosionsartig. Schon jetzt sind weitaus mehr Gegenstände als Menschen mit dem Internet verbunden. Bereits im Jahr 2020 werden weltweit über fünfzig Milliarden Gegenstände vernetzt sein – sechsmal mehr als es dann Menschen auf der Welt geben wird. Autos (und ihre Bauteile), Brillen, Kleider, Kühlschränke, BHs, Heizungssysteme und Parkplätze denken dann mit und organisieren sich selbst (zum Beispiel indem sich das Auto direkt beim günstigsten Anbieter versichert). 15

T E R R A I N

V

ergessen Sie den intelligenten Kühlschrank. Er taucht immer wieder dann auf, wenn jemand Ihnen Begriffe wie „Internet der Dinge“ oder „Smart Home“ erklären will. Dieser intelligente Kühlschrank erkennt selbst, ob die Milch leer oder der Joghurt verdorben ist, er schreibt Ihnen die Einkaufsliste oder kauft gleich selber ein, und wenn Sie im Büro versprechen, selbstgebackene Kekse mitzubringen, sendet er Ihnen ein „unbedingt noch Butter einkaufen“ aufs Smartphone. Ja, okay, wir haben es verstanden – oder vielleicht doch nicht so ganz? Was die Kühlschrank-Erzählung zum Beispiel unterschlägt, ist die Sinnlichkeit der Dinge. Schauen wir uns diese bei einem anderen intelligenten Produkt an: einem BH. Der BH, den der japanische DessousShop Ravijour designt hat, lässt sich nur öffnen, wenn sein Verschluss wahre Liebe spürt. Diese wiederum „spürt“ er mithilfe eines Sensors, der die Dopamin-Konzentration am Ort des Geschehens misst – den Wert des auch „Glückshormon“ genannten Botenstoffs. Das Video, in dem Ravijour Anfang 2014 den intelligenten BH präsentierte, lokalisiert die Analyse-Software in einem via Bluetooth mit der Wäsche verbundenen Smartphone – ein Job, den der BH-Verschluss allerdings auch selbst erledigen könnte. Gut, dieses Design war eher ein spielerischer Entwurf als ein marktreifes Produkt. Aber ersetzen Sie „BH“ durch „Gürtel“, und „Liebe“ durch „Stress“, und Sie sind bei der aktuellen Frühlingskollektion von Hussein Chalayan. Der aus Zypern stammende Londoner Modedesigner projizierte bei der Pariser Fashion Week den Stress-Zustand seiner Models auf eine Wand neben dem Laufsteg – berechnet aus den aktuellen Werten für Herzschlag und Atemfrequenz, die von deren Gürteln gemessen wurden, sowie der Gehirnaktivität, aufgezeichnet von Elektroden in der Sonnenbrille.


Karin Frick

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Wer beaufsichtigt die vernetzten Dinge? Wer die Netze, und wer die Vernetzer?

T E R R A I N

Solche Fälle werfen sofort die Frage der Kontrolle auf: Wer beaufsichtigt die vernetzten Dinge? Wer die Netze, und wer die Vernetzer? Inwieweit kann der Nutzer in den Lauf der Dinge eingreifen – oder der (Hardware-)Hersteller, oder der (Software-)Programmierer? Kann der Gesetzgeber überhaupt Vorschriften machen, und wenn ja: welcher Gesetzgeber? Gibt es mögliche Risiken, die man bei den Dingen ausschließen kann: beispielsweise Korruption oder arglistige Täuschung? Und welche Risiken gibt es im Internet der Dinge, die es in der alten analogen Welt nicht gab – beispielsweise Hacker-Angriffe oder Datenverlust durch Strom- und Netzausfall?

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Wissen ohne Ende

Tatsächlich sind hier noch eine ganze Menge Fragen offen. So steht beim Internet der Dinge noch nicht einmal fest, ob wir es dort dabei in erster Linie mit „walled gardens“ zu tun haben werden, bei denen einzelne Länder (wie China beim Internet) oder einzelne Unternehmen (wie Microsoft bei PC-Betriebssystemen) den Rahmen festlegen, innerhalb dem die Entwicklung stattfindet. Oder ob – wie beim World Wide Web – ein offener Standard vorherrschen wird. Wie auch immer wir es machen, es wird vermutlich verkehrt sein. Aber wie auch immer es verkehrt sein wird, wir werden daraus lernen. Und zwar schneller als jemals zuvor: Denn je mehr wir mit den Dingen, und diese mit sich, vernetzt sind, desto effizienter organisieren sich Lernprozesse. So wie beim „Fleet Learning“ des Elektroauto-Herstellers Tesla: Von jeder Erfahrung, die ein einzelner Tesla macht, können alle anderen Teslas profitieren. So blitzend und blinkend und jungfräulich der Neuwagen auch aussieht – seine Software hat schon die Erfahrung aus mehr gefahrenen Kilometern gespeichert, als Sie jemals im Auto zurücklegen werden. ■

Von der Autorin empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Venkatesh Rao: Breaking-Smart. Eine Essay-Reihe eines US-amerikanischen Bloggers. https:// breakingsmart.com/de/dont-panic/ ROMAN

Leif Randt: Planet Magnon (Kiepenheuer & Witsch, 2015) FILM

Charlie Brooker: Black Mirror (seit 2011). Eine britische Science-Fiction-Serie.


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T E R R A I N

To blockchain, or not to blockchain, that is the question —

Text: Wolfram Bernhardt

In Zeiten der ausgerufenen Alternativlosigkeit, der latenten Finanz- und Wirtschaftskrisen und angesichts einer Welt, die dank selbstherrlicher Autokraten mit einem Bein im dritten Weltkrieg steckt, kann man sich kaum vorstellen, dass eine eingeschworene Community gerade in Goldgräberstimmung ist. Ja mehr noch: Die Goldgräber sind davon überzeugt, Teil einer Revolution zu sein; einer Revolution, die ihrem Namen alle Ehre macht, glauben die Goldgräber doch, dass sie die Zentralbanken vom Thron stoßen, das geltende Gesetz hinter sich lassen und die Gesellschaft neu strukturieren können. 19


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T E R R A I N

Grundformen der Digitalität —

Text: Felix Stalder

Digitalisierung steht nicht bloß für Phänomene wie Automatisierung oder digitale Massenkommunikation, sondern viel grundlegender für einen Wandel unserer Lebenswelt, der auch unser Selbstverständnis und das Verständnis von Gesellschaft insgesamt betrifft. 24


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Grundformen der Digitalität

online. Inzwischen ist das Internet für viele eine Infrastruktur, die sie wie Wasser- oder Stromnetze als gegeben voraussetzen. Die wachsende Bedeutung des Internets ist aber nicht die Ursache dieses Wandels, sondern wirkte eher wie ein Katalysator, der viele bereits laufende, vormals unabhängige Entwicklungen zusammenführte – etwa die seit den 1960er-Jahren zunehmende Vernetzung in und zwischen Unternehmen, die seit den 1970er-Jahren erstarkenden zivilgesellschaftlichen Bewegungen oder die rasante Weiterentwicklung internetfähiger Geräte. Sie konnten sich wechselseitig verschränken, was sie verstärkte und dazu führte, dass sie sich jenseits der ursprünglichen Kontexte, in denen sie entstanden waren, ausbreiten konnten. So rückten sie vom Rand ins Zentrum der Kultur, wurden dominant und verschärften die Krise der bisherigen kulturellen Formen und Institutionen, während gleichzeitig neue Formen und Institutionen entstanden und an Einfluss gewannen. In der Summe bilden diese nun eine neue, alle Lebensbereiche – und entsprechend auch Wirtschaftsbereiche – prägende Umgebung, das heißt ein neues Set von Möglichkeiten und Erwartungen.

T E R R A I N

D

er Jahrtausendwechsel erschien vielen Zeitgenossen, auch mir, als großes Nicht-Ereignis. Nicht nur blieb das angekündigte Chaos der Computersysteme weitgehend aus, sondern auch sonst war der 01.01.2000 kaum vom 31.12.1999 zu unterscheiden. Rückblickend kann man jedoch feststellen, dass um das Jahr 2000 tatsächlich ein Epochenwechsel stattgefunden hat – zwar nicht von einem Tag auf den anderen, aber doch in relativ kurzer Zeit. Denn mit Beginn des neuen Jahrtausends haben verschiedene, schon länger währende gesellschaftliche Prozesse an Wirksamkeit gewonnen und dadurch unsere Lebenswelt grundlegend verändert. Am besten lässt sich dieser Epochenwechsel anhand der rasanten Ausbreitung des Internets nachverfolgen. Das Internet wurde in seinen Grundzügen in den 1970er-Jahren entwickelt. Jedoch noch drei Jahre vor der Jahrtausendwende war es, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, ein eher unbedeutendes Phänomen. Nur etwa sechs Prozent aller Deutschen nutzten das Internet. Drei Jahre danach waren es bereits mehr als 53 Prozent. Seitdem ist der Anteil weiter gewachsen. Für die unter 40-Jährigen lag er 2014 bei über 97 Prozent. Parallel dazu stiegen die Datenübertragungsraten deutlich, mit Breitbandanschlüssen fiel das Einwählen per Modem weg, das Internet war nun „hier“ und nicht mehr „dort“. Mit der Ausbreitung mobiler Endgeräte ab 2007, dem Jahr der Einführung des ersten iPhone, wurde digitale Kommunikation flächendeckend und kontinuierlich verfügbar. Das Internet ist seither überall. Die Nutzungsdauer hat zugenommen, und seit soziale Massenmedien wie Facebook ihren Siegeszug angetreten haben, sind die Menschen in fast allen Lebenslagen und Situationen

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Portrait

T E R R A I N

Software — Wie sie wurde, was sie ist

Text: Detlef Borchers

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Portrait

Wenn Daten das Öl dieses Jahrhunderts sind, sind Hardware und Software die Pumpen, die dieses Öl fördern. Dabei ermöglicht uns heute die Kombination aus Big Data, Deep Learning und fast unbegrenzter Rechnerleistung, hochleistungsfähige Software zu entwickeln, die unseren Alltag grundlegend verändert. Die Steuer-Intelligenz im Auto, die Spiel-Intelligenz am Go-Brett oder die Self-Tracking-Intelligenz in der Armbanduhr werden von der Software bestimmt. Sie ist die treibende Kraft technischer Entwicklung – auch wenn sie in letzter Instanz von der Hardware abhängt, um eine alte marxistische Weisheit zu bemühen. 1949 lief das erste Programm auf einem Computer ab. Es berechnete die Quadrate aller Zahlen von 0 bis 99 und brauchte dafür 2 Minuten und 35 Sekunden. Das Quadrieren fand auf dem britischen Rechner EDSAC statt, der damit als erster Computer das ausführte, was man heute Software nennt. Mit ENIAC und COLOSSUS gab es zwar schon andere, leistungsfähigere Computer, doch diese mussten vor jedem Programmstart tagelang neu verkabelt werden: Die Hardware gab die Rechenschritte vor. Zeilen, die die Welt bedeuten

Kern jeder Software ist der Algorithmus – ein Wort, das in letzter Zeit arg überstrapaziert wurde, etwa in der Rede von der „Macht“ der Algorithmen. Ein Algorithmus ist eine schlichte Handlungsanweisung für einen Arbeits- oder Rechenschritt, der von einem Rechner durchgeführt werden muss. In seinem Buch Der Sachertorte-Algorithmus und andere Mittel gegen die Computerangst versuchte John Shore 1985, der damals bereits grassierenden Angst vor der „Macht“ von Computern mit dem Backen einer Torte zu begegnen. Backen ist nichts anderes, als eine Reihe von Handlungsanweisungen zu befolgen. Der Quellcode sieht so aus:

T E R R A I N Ein Bäcker könnte mit diesen Anweisungen sicherlich etwas anfangen, ein Laie versteht jedoch nur Bahnhof: Eier trennen? Also müssen die Arbeitsschritte präzisiert werden. Der Gesamt-Algorithmus für die Torte wird dazu um die Anweisung (den Sub-Algorithmus oder die Subroutine) erweitert, dass Eiklar und Eigelb separiert werden müssen. Von der einfachsten Rechenanweisung, eine Zahl zu quadrieren, über das derzeit wertvollste Softwareprogramm der Welt (Pagerank, mit dem die Weltmacht Google entstand) bis hin zu den Apps auf unseren Smartphones sind diese Arbeitsschritt-für-Arbeitsschitt vorschreibenden Algorithmen am Werk und bilden zusammengenommen ganze Softwareprogramme. Diese hauchen nutzlosen Glasplatten Leben ein und lassen sie dank iOS oder Android zu hilfreichen Smartphones werden. Der oben stehende Pseudocode zum Tortenbacken besteht aus sechs Zeilen, die aktuelle Version von Android hat 14 Millionen Codezeilen, Facebook 60 Millionen und die Software für das autonome Fahren fängt bei etwa 100 Millionen Codezeilen an. 32

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Die aktuelle Version von Android hat 14 Millionen Codezeilen, Facebook 60 Millionen und die Software für das autonome Fahren fängt bei etwa 100 Millionen Codezeilen an. Von-Neumann-Architektur und erste Programmiersprachen

Was ein Computer und was ein Programm ist, wurde im Juni 1945 durch den US-amerikanischen Mathematiker John von Neumann (1903–1957) definiert. Nach ihm besteht ein Computer aus einem Speicher, der sowohl Programmbefehle als auch Daten enthält, einer Kontrolleinheit, die die Rechenprozesse (Hauptschleifen und Zwischenschleifen der Algorithmen) strikt sequenziell steuert, und einem zentralen Prozessor, der die Berechnung durchführt. Die im Speicher lokalisierte Software besteht aus Algorithmen, die gesammelte Daten bearbeiten. Diese Daten können sich jederzeit verändern und im Zuge dessen wiederum die Software beeinflussen. Ferner gibt es nach von Neumann eine Input- und eine Output-Einheit für Daten und den Quellcode der Rechen-Anweisungen, der in einer „Sprache“ verfasst und dokumentiert sein muss. „Verrechnet“ sich das System – das heißt: stürzt der Computer ab oder liefert wirre Ergebnisse –, soll eine notierte Dokumentation aller Rechenschritte der Rettungsanker sein, befand der Logiker von Neumann. Somit war das leidige Thema der Software-Dokumentation im Raum, bevor der Begriff Software überhaupt geprägt wurde. Die Sprache, die mit den ersten Computern entstand, war die der Assembler-Kürzel. Assembler ist eine rudimentäre Sprache und besteht aus leicht zu merkenden Befehlen wie mov, add, sub (hole, addiere, subtrahiere), um Daten von einem Speicher zu holen, sie zu behandeln und in einen anderen Speicher zur Weiterverarbeitung zu speichern. Bei dieser „maschinennahen“ Sprache wird direkt auf die Speicherregister eines Computers zugegriffen. Dies änderte sich ab dem Jahre 1952, als die Programmiererin Grace Hopper den Compiler A-0 vorstellte. Dieser „Zusammenfasser“ schaute sich alle Schrittanweisungen an und ersetzte häufig vorkommende Schritte durch eine Variable, beispielsweise #ei, wenn etwa in einem Kochrezept mehrmals Eigelb benötigt wird. Gegenüber der reinen Assembler-Programmierung war dies zwar zeitaufwendiger, aber die ComputerHardware war auch schneller geworden und der zur Verfügung stehende Speicher viel größer. Zu der Zeit, in der sich Hopper mit dem Compiler um eine Vereinfachung des Assembler-Codes bemühte, entstanden die ersten Programmiersprachen, die vollkommen abstrahiert vom jeweiligen Zentralprozessor und den nur für ihn gültigen AssemblerBefehlen komplexe Algorithmen formulieren konnten. Aus der ebenfalls von Grace Hopper entwickelten Sprache Flow-Matic entwickelte sich die „Kaufmannssprache“ Cobol, hinzu kam die „Wissenschaftssprache“ Fortran und ein einfaches Programmier-System für Anfänger namens Basic, der „Beginner’s All-purpose Symbolic Instruction Code“. Was in diesen Sprachen an Arbeitsschritten für einen Computer festgelegt wurde, wurde anschließend von einem Compiler bearbeitet, in die Assemblersprache für die jeweilige Maschine überführt und schließlich als Programm ausgeführt. Die zusätzliche Schicht der Einführung von symbolischen Programmiersprachen, die wiederum einen Compiler benötigten, der sie in den eigentlichen Maschinencode übersetzte, war nur möglich, weil die Leistungsfähigkeit der Computer explodierte. Wo es auf extreme Geschwindigkeit ankam, setzten sich Programmier-Spezialisten hin und verbesserten den Maschinencode. Daran hat sich bis heute wenig geändert, bei rund 450 benutzten Programmiersprachen. 33

T E R R A I N

Software


Interview

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I N T E R V I E W

Zwischen Himmel und HÜlle – Interview mit Rafael Capurro

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Rafael Capurro

Rafael Capurro wurde 1945 in Uruguay geboren. Er studierte Geisteswissenschaften und Philosophie in Chile und Argentinien als Mitglied des Jesuitenordens (1963–1970) und erlangte 1971 den Grad eines Lizentiats der Philosophie an der Universidad del Salvador (Buenos Aires). Nach studierte er Dokumentation am Lehrinstitut für Dokumentation in

Fotos: Janusch Tschech

Frankfurt am Main (1972–1973). Es folgte die Promotion in Philosophie an der Universität Düsseldorf (1978). Von 1980 bis 1985 arbeitete Capurro als Referent des wissenschaftlich-technischen Geschäftsführers des Fachinformationszentrums Karlsruhe (FIZ). 1986 wurde er zum Professor für Informationswissenschaft an der Stuttgarter Hochschule der Medien berufen, wo er bis 2009 auch Informationsethik lehrte. Nach der Habilitation in Praktischer Philosophie an der Universität Stuttgart 1989 war er dort bis 2004 Privatdozent. Von 2000 bis 2010 war er Mitglied der European Group on Ethics in Science and New Technologies (EGE) der Europäischen Kommission. Seit 2007 engagiert sich Capurro insbesondere in Afrika, wo er das Africa Network for

Vor 20 Jahren haben Sie die These aufgestellt, dass sich im Zuge der Digitalisierung eine virtuelle Welt herausbilden wird, die für uns bedeutender als die reale Welt werden könnte. Woher rührte diese Begeisterung fürs Virtuelle?

Damals herrschte eine Aufbruchstimmung: Besonders die Erfindung des Internets und später des World Wide Web hat alle begeistert. John Perry Barlow rief 1996 die Declaration of the Independence of Cyberspace aus. Der Cyberspace erschien vielen als ein virtueller Raum, der nichts mit der materiellen Welt zu tun hat. Dabei war die virtuelle Welt natürlich gar nicht so unabhängig von der materiellen Welt, wie es den Anschein machte: Der Computer, die bits wie auch die mathematischen Symbole 0/1, die in das elektromagnetische Medium eingeprägt werden, dieses Medium also „in-formieren“ – das ist alles Energie und Materie. Aber das wurde ausgeblendet. Man war fasziniert vom Immateriellen. Das Ganze hatte etwas Metaphysisches 1: Es ging um die Errettung des Menschen aus der schnöden Welt hier unten und das Emporsteigen in die Höhen des Cyberspace. Eine ganze Generation hat das zu Beginn so erlebt. Damals dachten wir wirklich, es gäbe zwei getrennte Welten, eine virtuelle und eine materielle.

Information Ethics (ANIE) an der Universität Pretoria mitbegründete. 2010 gründete er mit seiner Ehefrau Annette die Capurro Fiek Stiftung für Informationsethik. Diese fördert Projekte, welche sich mit den sozialen und kulturellen Auswirkungen digitaler Technologien in der Dritten Welt, vor allem in Afrika und Lateinamerika, befassen. Seit 2016 ist Capurro außerdem Mitglied des Beirats für Integrität und Unternehmensverantwortung der Daimler AG sowie Mitglied des Beirats für digitale Transformation der AOK Nordost. Mehr unter capurro.de

Können Sie die Faszination des Immateriellen genauer beschreiben?

Das Internet erweckte den Eindruck, als könne man sich von Raum, Zeit und Materie lösen, als könne man an verschiedenen Orten gleichzeitig sein. Wir bewegen uns hier wieder im Bereich der Metaphysik 1, in einer Welt des Jenseits, in der die Kategorien des Diesseits – Raum, Zeit und Materialität – nicht gelten. So dachte ich damals, die Unterscheidung von Materie und Geist würde in der Trennung von Hardware und Software wieder auftauchen. Ich habe Software sogar mit der materielosen Seinsweise von Engeln (vom Griechischen angelos = Bote) verglichen – also mit der mittelalterlichen Vorstellung engelsgleicher, von der Materie getrennter Intelligenzen. Intelligentiae separatae war der Begriff, den die mittelalterlichen Philosophen dafür gebrauchten. Ist Software in diesem Sinne nicht körperlos? Ist das In-der-Cyberwelt-sein nicht beinahe engelsartig? Ich dachte, dass die Lücke, die der Verfall der Religionen und der Metaphysik hinterlassen hatte und die nicht mehr durch engelsgleiche Boten zwischen Gott und dem Menschen ausgefüllt wird, durch das In-der-Cyberwelt-sein geschlossen werden könnte. 41

I N T E R V I E W

seinem Austritt aus dem Jesuitenorden


Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?


H HORIZONT


DIE AUTOREN

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H O R I Z O N T

Eike Wenzel

Joachim Paul

ist Gründer und Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ GmbH) sowie (zusammen mit Klaus Gourgé) Leiter des MBA-Studiengangs „Trend- und Nachhaltigkeitsmanagement“ an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen. Vom Autor zum Thema erschienen: #wir: Wie die Digitalisierung unseren Alltag verändert (Redline Verlag, 2014).

ist Biophysiker und Mitglied des Landtags in NordrheinWestfalen für die PIRATEN. Privat betreibt er die Webseite vordenker.de. Zuletzt von ihm erschienen: TRANS-. Reflexionen über Menschen, Medien, Netze und Maschinen (Edition das Labor – Verlag der Artisten, 2013). — Seite 62

© Foto: Rita Singer

— Seite 55

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Tilman Santarius

Elmar Schenkel

leitet die Forschungsgruppe „Digitalisierung und sozialökologische Transformation“ an der TU Berlin und am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (nachhaltige-digitalisierung.de). Von ihm zum Thema erschienen: Der Rebound-Effekt (Metropolis Verlag, 2015) sowie Rethinking Climate and Energy policies (Springer Verlag, 2016). Mehr unter: santarius.de

ist Professor für Englische Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig, Autor literarischer Bücher und Maler. Zuletzt von ihm erschienen: Keplers Dämon. Begegnungen zwischen Literatur, Traum und Wissenschaft (S. Fischer Verlag, 2016) sowie Mein Jahr hinter den Wäldern. Aufzeichnungen eines Dorfschreibers in Siebenbürgen (Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 2016).

— Seite 68

— Seite 73


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Die große digitale Transformation – H O R I Z O N T

Wie wir die Zukunft gestalten können

Text: Eike Wenzel

Wir erleben gerade eine dramatische Phase des gesellschaftlichen Wandels und der Infragestellung der sozialen und ökonomischen Grundlagen unseres Zusammenlebens. Dabei ist Donald Trump, ein „betrunkener Elefant“ (Max Weber) im Weißen Haus, nicht die Ursache für diesen hochvolatilen, hochentzündlichen Weltzustand. Er ist das bislang grellste Symptom und hoffentlich der Endpunkt einer globalen Entwicklung, die zu immer mehr Ungleichheit in der Gesellschaft und zwischen Regionen und Wirtschaftsräumen geführt hat. Doch nehmen wir einmal an, es wird noch alles gut … 55


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Über Monster und Kurzschlüsse der Erkenntnis

– H O R I Z O N T

Oder: Keine Angst vor künstlicher Intelligenz

Text: Joachim Paul

Supercomputer erbringen beeindruckende Leistungen, künstliche neuronale Netzwerke lernen scheinbar selbsttätig. Doch heißt das auch, dass künstliche Intelligenz jene des Menschen übertreffen kann? Gibt es bald eine maschinelle Zivilisation neben der menschlichen oder gar eine, die die menschliche beherrscht? 62


KASSANDRA In der griechischen Mythologie ist Kassandra die Tochter des trojanischen Königs Priamos. Der Gott Apollon verliebte sich in sie und schenkte ihr die Gabe der Vorhersehung. Kassandra ging jedoch nicht auf sein Werben ein. Da er sein Geschenk nicht rückgängig machen konnte, belegte er es mit einem Fluch: Niemand werde ihren Vorhersagen Glauben schenken. So warnte Kassandra zum Beispiel die Trojaner während der Belagerung Trojas vergebens vor einer Kriegslist der Griechen, woraufhin Troja erobert und niedergebrannt wurde.

Die Superintelligenz geht um. Ihre Geburtsstunde: die technologische Singularität. Darunter wird der Zeitpunkt verstanden, an dem Maschinen beginnen, sich durch künstliche Intelligenz selbst zu verbessern und im folgenden Evolutionsprozess schließlich die menschliche Intelligenz weit übertreffen. Dann – so die Horrorvariante dieser Vision – übernehmen sie die Weltherrschaft. Zu spät für die Kabelzange. Die Science-Fiction-Literatur kennt solche Szenarien schon lange. Und natürlich Hollywood: Terminators Skynet und die Matrix lassen grüßen. Rückenwind bekommen solche Szenarien durch die Erfolge von Supercomputern wie zum Beispiel dem Sieg des Schachcomputers IBM Deep Blue gegen den Schachweltmeister Garri Kasparov im Jahr 1996, die 2011 errungenen Siege des IBM Watson im US-TV-Quiz Jeopardy! und zuletzt Googles AlphaGo, das den Profispieler Lee Sedol im altchinesischen Go-Spiel vier zu eins schlug (2016). Doch damit nicht genug. Immer mehr mit Sensoren, Aktoren und Algorithmen ausgestattete technische „Dinge“, also Roboter, selbstfahrende Autos und – ganz besonders schlimm – Kriegsdrohnen existieren längst nicht mehr nur in Sciene-FictionRomanen. Bemerkenswert ist, dass genau diejenigen Menschen vor dem Siegeszug der künstlichen Intelligenz warnen, die gerade an deren Verwirklichung basteln und von denen wir es auf den ersten Blick nicht erwarten würden. Gefühlt das halbe Silicon Valley gehört dazu: Allen voran der Leiter der technischen Entwicklung bei Google Ray Kurzweil, der 1999 erste Gedanken zu den Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz auf die menschliche Existenz in seinem Werk Homo S@piens veröffentlichte, Elon Musk, der Chef von Tesla und Space-X, der PayPal-Gründer Peter Thiel und viele mehr. Diesen Chor der warnenden Seher ergänzen der Oxforder Philosoph Nick Bostrom, engagierter Transhumanist und

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Autor von Superintelligenz, und sogar die aktuelle Ikone der naturwissenschaftlichen Intelligenz, der Physiker Stephen Hawking. Doch anders als Kassandra finden diese Stimmen Gehör. Einschlägige Bücher werden zu Bestsellern und entsprechende TV-„Dokumentationen“ zu Quotenschlagern. Sie rufen erfolgreich – je nach Geschmack des jeweiligen Empfängerkreises – entweder eine gänsehautverursachende Vorfreude auf neue maschinelle Sensationen oder die oben genannten Horror-Alpträume der Maschinenherrschaft hervor. Unlängst sprach Jay Tuck, Journalist und Autor eines Buches mit dem bezeichnenden Titel Evolution ohne uns, in einem Interview von Frankenstein und einer Wissenschaft, die Amok laufe. Magische Praktiken Spätestens hier sollte man hellhörig werden, denn Frankenstein hat mit Wissenschaft in etwa so viel zu tun wie eine Milchkuh mit Bierbrauen. Was macht der Arzt Dr. Viktor Frankenstein im Roman Frankenstein oder der moderne Prometheus der britischen Schriftstellerin Mary Shelley (1797–1851)? Er schnippelt und näht mehr oder weniger gut erhaltene Leichenteile zusammen, platziert sie dann so, dass ein Blitz einschlägt, und erschafft ein pseudomenschliches Monster, dessen Verhalten er weder versteht noch kontrollieren kann. Shelley steht damit nicht in einer wissenschaftlichen Tradition, sondern in jener der spätmittelalterlichen Alchemie und der in diesem Kontext entstandenen Idee des Homunculus, des künstlichen Menschleins. Vergleichbares kennt man aus der mittelalterlichen Geschichte vom Golem des Rabbi Löw: Das aus Lehm geformte kabbalistische Kunstwesen Golem sollte im Prag dieser Zeit die jüdische Gemeinde vor einem Pogrom schützen. In einer Variante der Geschichte gerät der Golem außer Kontrolle und zerschlägt alles, was sich ihm in den Weg stellt.

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Über Monster und Kurzschlüsse der Erkenntnis


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Die dunkle Seite des „smart everything“

– H O R I Z O N T

Gesellschaft revolutionieren statt Wachstum generieren

Text: Tilman Santarius

Seit Beginn der modernen Wachstumskritik, die mit der Veröffentlichung des Berichts „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome im Jahre 1972 begann, war die Antwort auf diese Kritik immer: „Lasst uns ein Wachstum der Grenzen anstreben, indem wir effizienter werden!“ Der heilige Gral der Effizienzrevolution wird durch die digitale Revolution nun in eine neue Dimension gehievt: Durch die Digitalisierung nahezu aller Produktions- und Verbrauchsbereiche, durch smart factories, smart shopping, smart meters, ja „smart everything“ können wir die Effizienz unserer Produkte, Infrastrukturen und Lebensgestaltung noch viel besser steigern! Und das mit einer schicken, glänzenden Bedienoberfläche, die das Gefühl vermittelt, das Ganze wäre absolut sauber … 68


Materielle Produkte lassen sich längst durch virtuelle Dienste ersetzen, etwa Taschenbücher durch die Verwendung von E-Readern. Einige sehen darin bereits das Ziel der Dematerialisierung erreicht. Durch das Herunterladen von E-Books, das Skyping mit weit entfernt lebenden Menschen oder die Verwendung von Lieferservices kann das Verkehrsaufkommen gemindert werden. Wenn Hunderte Kunden ihren Einkauf von einem Lkw angeliefert bekommen – oder von noch effizienteren Drohnen – dann ist das viel ressourcen- und energieeffizienter, als wenn jede Person selber per Pkw zum Einkaufen fährt. Doch die Effizienzhoffnungen gehen noch weiter: Ganze Sektoren der Industrie, die Logistik oder auch die Landwirtschaft lassen sich digital optimieren. Laut einem Bericht der Global e-Sustainability Initiative bieten digitale Lösungen das Potenzial, die weltweiten Treibhausgasemissionen bis 2020 um 16,5 Prozent zu senken. Dies wäre ein deutlich größerer Erfolg als alle bisherigen Gesetze der Klimapolitik. Sollten wir Wirtschaft und Gesellschaft daher nicht radikal durchdigitalisieren, um den Planeten zu retten – und könnten uns zugleich beim Bedienen unserer smarten Geräte entspannen? Entspannung wäre in der Tat eine gute Idee für den hyperaktiven homo sapiens. Es kann aber sein, dass die Digi-

talisierung zum genauen Gegenteil führt. Denn der ökologische Fußabdruck der Menschheit wächst weiter, obwohl wir in den letzten Jahren bereits bedeutende Teile unserer Wirtschaft und Gesellschaft digitalisiert haben. Es scheint, dass die Digitalisierung nicht so entspannt-ressourcenschonend ist, sondern die globale Energie- und Ressourcennachfrage lediglich verlagert. Und dabei werden die Effizienzgewinne der Digitalisierung durch steigenden Konsum mehr als wettgemacht. Debatten über diesen sogenannten Rebound-Effekt gehen auf die Arbeit von William Stanley Jevons im 19. Jahrhundert zurück, die lange Zeit vergessen wurden. Rebound-Effekte treten auf, wenn eine Reduktion des Inputs pro Einheit Output (das heißt Effizienz) einen absoluten Anstieg des Outputs generiert (Wachstum). Bisher gibt es nur sporadische öffentliche Debatten zu diesem Phänomen. Dabei ist es von größter Wichtigkeit zu verstehen, wann und warum Rebound-Effekte auftreten können. Was bedeutet der Rebound-Effekt im Licht der Digitalisierung? Warum haben die vielversprechenden Effizienzverbesserungen in der Summe bisher nicht zu einer deutlich gesunkenen Ressourcennachfrage geführt? Könnte es sogar sein, dass sie zu einer erhöhten Nachfrage durch Rebound-Effekte führen?

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Die dunkle Seite des „smart everything“


Tilman Santarius

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onensteigerungen der Digitalisierung auf die Höhe der Produktion und des Verbrauchs auswirken, ist also noch unterentwickelt. So lange ein solches Verständnis aber nicht vorhanden ist, sollten wir uns tatsächlich entspannen – und aufhören zu glauben, wir könnten mit der Digitalisierung den Planeten retten. Es sind nicht nur Großtechnologien wie Atomkraftwerke oder Schaufelradbagger, die unsere Umwelt und unsere Mitmenschen verschleißen, sondern auch die Summe aller der kleinen Geräte, die wir in den Hosentaschen tragen. Es spielt keine Rolle, ob wir versuchen, die Grenzen des Wachstums durch große oder kleine Technologien zu verschieben. Und auch nicht, ob die Werkzeuge, die wir anwenden, smart oder ziemlich „dumm“ sind. In beiden Fällen schlagen sie in Form von Rebound-Effekten zurück. Anstatt digitale Technologien anzuwenden, um unsere Effizienz zu steigern, sollten wir Digitalisierung nur dann einsetzen, wenn sie zu größerer Suffizienz beim Konsum und beim Lebensstil beiträgt! Das heißt, Digitalisierung sollte so genutzt und gelenkt werden, dass sie es uns ermöglicht – ohne wesentliche Komfortnachteile – mit weniger Konsum, Ressourcen- und Energienachfrage auszukommen. Nur dann wird Digitalisierung dazu beitragen, unseren exorbitanten Naturverbrauch auf ein sozial und ökologisch verträgliches Maß zu senken. Die alles entscheidende Frage müsste also lauten: Wie kann die digitale Revolution neu gedacht werden, um eine SuffizienzRevolution anzufachen? Nicht technische, sondern soziale Innovationen fördern! Eine Antwort darauf finden wir beispielsweise im Handel. Rein theoretisch birgt Online-Shopping zwar Potenziale für Nachhaltigkeit: Öko-faire Waren können einfach und überall bezogen werden und die Lieferung per Post spart Energie gegenüber dem individuellen Einkauf per Auto. Doch in der Summe sorgt „smartes shoppen“ eher für eine Steigerung des Konsums. Stattdessen sollten wir mithilfe der Digitalisierung Möglichkeiten erschließen, um Sharing statt Shopping zu fördern. Anstelle von „Geiz-istGeil“-Plattformen zeigen Webseiten wie Kleiderkreisel, DaWanda, FoodSharing oder Couchsurfing, dass Bedürfnisse auf weniger kommerzielle Weise befriedigt 72

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werden können. Leider hat die Politik noch nicht begonnen, zusammen mit Verbraucherverbänden und nachhaltigen Unternehmen gezielt Anreize und Regulierungen zu entwickeln, damit kooperative Plattformen zur Entkommerzialisierung der Wirtschaft beitragen. Gleiches gilt für die Mobilität: Car2Go und Uber wie auch datengetriebene Fahrzeugsteuerung und intelligente Verkehrsleitsysteme erhöhen zwar die Effizienz des Automobilverkehrs, machen ihn aber zugleich attraktiver und kostengünstiger und werden dadurch das Verkehrsaufkommen noch erhöhen. Echtes Potenzial für Nachhaltigkeit haben indessen Anwendungen, die Verhaltensänderungen bewirken beziehungsweise für eine Verlagerung des Verkehrs auf öffentliche Verkehrsmittel beziehungsweise auf gemeinsam genutzte Fahrzeuge sorgen. Es gilt, multimodale Verkehrs-Apps wie Qixxit, Moovel etc. so weiterzuentwickeln, dass verschiedene öffentliche Verkehrsträger tatsächlich kombiniert und „on the go“ gebucht werden können. Denn dann bietet der ÖPNV eine individuelle Flexibilität, die sogar jene des Autos übertrifft. Aber auch dies geht nicht ohne politische Unterstützung. Und zugleich muss der Automobilverkehr verteuert und entschleunigt werden, anstatt ihn durch andere Formen der Digitalisierung noch zu beschleunigen. Versuchen wir also nicht länger, den Status quo effizienter zu machen. Der bloße Austausch analoger durch digitale Dienstleistungen und Produkte wird ein Nullsummenspiel bleiben. Bestehende nicht-nachhaltige Produktions- und Konsummuster durch Digitalisierung etwas umweltfreundlicher zu machen, reicht nicht aus. Nur wenn die Digitalisierung soziale Innovationen hervorbringt, kann sie einen Beitrag zur Nachhaltigkeit liefern. Wobei eine der wichtigen Innovationen dabei auch sein dürfte, sich immer mal wieder ganz analog zu entspannen. ■

Vom Autor empfohlen: SACH-/FACHBUCH

Evgeny Morozov: Smarte neue Welt: Digitale Technik und die Freiheit des Menschen (Karl Blessing Verlag, 2013) ROMAN

Dave Eggers: Der Circle (Kiepenheuer & Witsch, 2014) FILM

Ex Machina von Alex Garland (2015)

Dieser Artikel ist in gekürzter Fassung unter dem Titel „Digitalisierung, Effizienz und der Rebound-Effekt“ am 04. März 2017 auf transform-magazin. de erschienen.


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Zukunft im digitalen Zeitalter – H O R I Z O N T

Über Hoffnung und Angst in der Utopie

Text: Elmar Schenkel

Es ist auffällig, dass in der Moderne die zahlreichen Versuche, Utopien zu entwerfen, zumeist scheitern und sich in ihr Gegenteil verkehren: in Dystopien. Das ist nicht verwunderlich, denn das Erzählen wird immer mehr vom Zählen verdrängt – und wenn alles nur noch digital ist, wenn das Abstrakte keine Anbindung mehr im Sinnlichen findet, bleibt als einziges Zukunftsszenario das Ende des Menschen. 73


VER ANT WOR TUNG UNTERNEHMEN

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Mittelständische Unternehmer werden zwar als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen, treten aber selten öffentlich in Erscheinung. Im Gespräch mit der ThalesAkademie erzählen sie von Erfolgen und Niederlagen, Erfahrungen und Einsichten.

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J. G. WEISSER Die Firma Weisser gehört zu den sprichwörtlichen „hidden champions“ des deutschen Mittelstands: Weltmarktführer, erfolgreich in der sechsten Generation, ansässig in einer Kleinstadt im Südwesten – und nahezu unbekannt außerhalb ihrer eigenen Branche. Aber der Reihe nach: Bereits im Jahr 1800 gründete Jacob Weisser im Südschwarzwald eine kleine Poststation mit Huf- und Wagenschmiede. Ab 1830 fertigte sein Sohn Johann Georg Weisser in seiner “Schlosser und Zeugschmiede” in Sankt Georgen kleine Drehbänke und Schraubstöcke. In den Jahrzehnten darauf erlebte die südwestdeutsche Uhrenindustrie ihren großen Aufschwung, mit dem auch die Nachfrage nach Drehbänken und Uhrmacherwerkzeugen stieg. So gründete Johann Georg Weisser im Jahr 1856 die Maschinenfabrik J. G. Weisser & Söhne, die sich seitdem zu einer der innovativsten Werkzeug- und Maschinenfabriken Deutschlands entwickelte. Helmut Weisser selbst kam 1974 in fünfter Generation ins Familienunternehmen und übernahm fortan die Bereiche Vertrieb und Entwicklung. In den folgenden vier Jahrzehnten etablierte sich das Familienunternehmen zum weltweit führenden Hersteller von multifunktionalen Präzisions-Drehmaschinen und Drehzentren, mit denen heute insbesondere in der Automobilindustrie zahlreiche Getriebeteile gefertigt werden. Nach einer existenzgefährdenden Krise im Jahr 1995 beschäftigt das Unternehmen heute fast 500 Mitarbeiter und feierte 2016 nicht nur das 160-jährige Firmenjubiläum, sondern auch die Übergabe an die sechste Generation. Im Gespräch mit Philippe Merz und Frank Obergfell verrät Helmut Weisser, was einen guten Unternehmer ausmacht, welche Schwierigkeiten die Führung eines Unternehmens mit zwei Familienstämmen in sich birgt, was er seinem Sohn rät und warum es größere Herausforderungen als die Digitalisierung gibt.

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THALES-AKADEMIE FÜR WIRTSCHAFT UND PHILOSOPHIE In der Gesprächsreihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN sprechen Frank Obergfell und Philippe Merz von der Thales-Akademie mit jeweils einen mittelständischen Unternehmer über grundlegende Erfahrungen, Einsichten, Erfolge und Niederlagen. Warum gerade mittelständische Unternehmer? Weil diese Spezies zwar gern als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen wird, aber nur sehr selten öffentlich in Erscheinung tritt. Das ist schade, denn viele Unternehmerinnen und Unternehmer sind kernige Charakterköpfe mit faszinierenden Lebenswegen und einem ausgeprägten Verständnis von unternehmerischer Verantwortung. Und warum kein klassisches Interview, sondern offene Gespräche auf Augenhöhe? Weil Philippe Merz und Frank Obergfell keine Journalisten sind, sondern Philosophen und Familienunternehmer in vierter Generation, die gemeinsam die Thales-Akademie für Wirtschaft und Philosophie gegründet haben. Die in Freiburg beheimatete Thales-Akademie bietet Vorträge und Inhouse-Seminare zu den zentralen wirtschafts- und unternehmensethischen Herausforderungen unserer Zeit sowie – gemeinsam mit der Universität Freiburg – die berufsbegleitende Weiterbildung „Wirtschaftsethik“ an (Neustart: September 2017). www.thales-akademie.de


Ein guter Unternehmer braucht Risikofreude und Altruismus

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Ein guter Unternehmer braucht Risikofreude und Altruismus

Thales-Akademie — Wenn Sie auf Ihre vier Jahrzehnte als Unternehmer und Geschäftsführer zurückschauen, gibt es dann eine grundlegend positive und eine negative Erfahrung, die für Sie besonders herausstechen? Helmut Weisser — Bei der positiven Erfahrung muss ich nicht lange überlegen – das war für mich immer die große Gestaltungsfreiheit, die das Leben als Unternehmer beinhaltet: welche Ideen ich entwickle und realisiere, mit wem ich zusammenarbeite, wie ich arbeite und wie ich mit den Menschen umgehe. Um das genießen zu können, musst du allerdings auch ein gewisses alltägliches Risiko als normal betrachten. Ich habe diese Freiheit auch deswegen geliebt, weil ich immer davon überzeugt war, dass wir die Produktivität unserer Kunden verbessern und ihnen zugleich helfen, zur Ressourcenschonung beizutragen. Denn bei der Zerspanung geht es zunächst mal um Ressourcenvernichtung: Du opferst Energie, um überschüssiges Material in einer Maschine abzutragen und so die endgültige Form des Werkstücks zu erhalten. Und je nachdem, wie du die Maschine baust, gelingt das eben präziser oder weniger präzise, mit mehr oder weniger Ressourcenverbrauch. Die negative Seite der unternehmerischen Existenz besteht aus meiner Sicht darin, dass du immer stark von Konjunkturzyklen abhängst, die über dich hereinbrechen, ohne dass du etwas dagegen tun kannst. Im Jahr 2009 hat zum Beispiel plötzlich niemand mehr bestellt und kein Mensch wusste so richtig, weshalb. In dieser Zeit hat sich die Werkzeugmaschinenbranche praktisch halbiert. Als dann ein Jahr später alle wieder fröhlich bestellt haben, wusste auch wieder niemand so recht, warum.

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Die Thales-Akademie im Gespräch mit Helmut Weisser

Welche Entscheidungen hätten Sie heute rückblickend gerne anders getroffen?

Hm, eine gute Frage. Dazu muss ich vorab sagen, dass ich mir die Geschäftsleitung zeitlebens mit dem Sohn meines Onkels geteilt habe. Das Unternehmen gehört beiden Familienstämmen bis heute in etwa zu gleichen Teilen. Während er für Finanzen und Personal zuständig war, habe ich den Vertrieb, die Entwicklung und schließlich die Produktion geleitet. Wir waren immer sehr unterschiedliche Charaktere und hatten oft abweichende Vorstellungen zur strategischen Ausrichtung der Firma. Ich selbst hatte oft Wachstumsfantasien, die mein Vetter nicht unterstützt hat und die daher nichts geworden sind. Rückblickend hätte ich mich das eine oder andere Mal durchsetzen sollen, als es darum ging, ordentlich Geld in die Hand zu nehmen und einen Wettbewerber zu kaufen, dem es schlecht ging. Mein Vetter wollte das aus einer grundsätzlichen Risikoaversion heraus nie mittragen. So sind viele dieser Firmen kaputt gegangen oder von Investoren und Großkonzernen übernommen worden – und wir haben mehrere Gelegenheiten verpasst, unsere eigene Position abzusichern und zu stärken. Ich habe das dann umschifft, indem ich angefangen habe, mit anderen Firmen für einzelne Projekte oder Maschinen zu kooperieren, etwa in den USA. Das hat für bestimmte Phasen glücklicherweise auch gut funktioniert. Wie dürfen wir uns die Konfliktkultur mit Ihrem Vetter vorstellen? Haben Sie solche grundlegenden Meinungsverschiedenheiten offen miteinander ausgetragen? 81


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Land in Sicht

L O W- T E C H M A G A Z I N E —

Z w e i f e l a n F o r t s c h r i t t u n d Te c h n i k

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Die zunehmenden digitalen Hightech-Lösungen für alltägliche routinierte Abläufe machen uns vor allem eins: verletzlich. Spätestens seit dem Horrorszenario gehackter Stromnetze, das Marc Elsberg in seinem Thriller Blackout entwirft, ist klar, dass unsere vernetzte Gesellschaft längst von digitalen Steuerungen abhängig ist. Der uneingeschränkte Glaube an die Segnungen der digitalen maschinellen Vernetzung beginnt zu bröckeln und die Absicherung der mächtigen digitalen Netze verschlingt immer größere Mengen an Geld, Strom und Zeit. Manche munkeln schon, dass es vollkommen unökonomisch ist, in künstliche Intelligenzen zu investieren, die menschliche Arbeit überflüssig machen. Der gebürtige Belgier Kris De Decker wehrt sich entschieden gegen die Annahme, dass jedes Problem eine Hightech-Lösung habe. 2007 begann er mit der Gründung des Online-Magazins lowtechmagazine.com den Technikglauben infrage zu stellen. Einmal pro Monat veröffentlicht er einen Artikel, in dem er überraschend unkonventionelle, analoge Lösungen für unsere Alltagsprobleme vorstellt, oder über die fatalen Folgen, welche durch „Hightech-Lösungen“ hervorgerufen werden, aufklärt. Das Low-tech Magazine wirft einen neuen Blick auf unsere „fortschrittlich“ ausgestatteten Büroräume und zeigt deren Kehrseite: die rasante Zunahme des Energieverbrauchs. Es untersucht, wie man auch in der Stadt energieautark leben kann oder stellt eine Bauanleitung für ein unabhängiges Lowtech-Internet zur Verfügung. Solche selbstgebauten dezentralen Netze sind bereits weltweit zu finden – das größte zählt derzeit 35.000 Nutzer. Mehr dazu unter: lowtechmagazine.com

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Low-tech Magazine

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NACHGEFRAGT BEI KRIS DE DECKER, G R Ü N D E R D E S L O W- T E C H MAGAZINE:

Ich lehne technologischen Fortschritt nicht prinzipiell ab, wohl aber die Richtung, die er eingeschlagen hat. Schließlich werden bei der Entwicklung neuer Technologien die wahren Kosten, der Energieverbrauch und die Auswirkungen auf unsere öko-soziale Umwelt noch lange nicht berücksichtigt. Sämtliche „Innovationen“ führen nur dazu, dass immer mehr der endlichen Ressourcen verbraucht werden. Wir müssten technische Innovationen völlig neu denken, damit sie uns in ganz anderen Kontexten wirklich hilfreich sind. Was erachten Sie als die größte Bedrohung durch die Digitalisierung?

Da ist zum einen der steigende Energieverbrauch, der mit der Digitalisierung verbunden ist. Außerdem erhöht die Digitalisierung die Gefahr eines Komplettausfalls unserer Technik: Das Erste, was Afrikaner machen, wenn sie ein importiertes Auto aus dem Westen recyceln ist, dass sie sämtliche Elektronik entfernen. Zuletzt darf man nicht vergessen, dass die Digitalisierung einen immensen Einfluss auf die zwischenmenschliche Interaktion hat – wer weiß, vielleicht vergessen wir irgendwann, dass wir auch ohne technische Geräte miteinander kommunizieren können? Wir nähern uns jeden Tag der dystopischen Kurzgeschichte „When the Machine Stops“, die E. M. Forster bereits 1905 geschrieben hat. Darin kommunizieren die Menschen nur noch über Bildschirme miteinander. In der Moderne ist Technik weit mehr, als die Fähigkeit mittels einer Maschine eine Arbeit zu erledigen. Gerade wenn man sich den Kult um ein glänzendes neues iPhone ansieht. Glauben Sie, dass Lowtech jemals so sexy sein kann wie ein iPhone?

Wie würde sich unsere Wirtschaft ändern, wenn Lowtech an Stelle der Hightech-Lösungen treten würden?

Die Idee des unendlichen Wachstums geht einher mit der Vorstellung eines unendlichen technologischen Fortschritts. Unternehmen versuchen ständig, ihre Profite zu steigern, indem sie „Innovationen“ vorantreiben. Wenn wir diese Dynamik einfach durch Lowtech-Lösungen ersetzen würden, wäre unser heutiges Wirtschaftssystem am Ende. Letztlich geht es mir also auch um alternative Wirtschaftssysteme. Aber ich glaube, dass es einfacher ist, sich eine alternative Wirtschaft vorzustellen, wenn man sie anhand von alternativer Technik und nicht-digitalen Werkzeugen, die uns jeden Tag helfen, veranschaulicht – anstatt nur im theoretischen Diskurs zu bleiben. H O R I Z O N T

Herr Decker, lehnen Sie technologischen Fortschritt per se ab?

Sie schreiben neben dem Low-tech Magazine auch noch für das No Tech Magazine. Was ist Ihnen lieber: Lowtech oder Notech?

Auch wenn der Titel es suggeriert, plädiere ich mit dem No Tech Magazine nicht für eine radikale Abkehr von der Technik. Der Mensch braucht Technik, um zu überleben – sei es ein Speer oder ein Feuerstein. Oft wird jedoch angenommen, dass die einzige Lösung für ein Problem eine technische Lösung sei, anstatt sich zu überlegen, wie man anders mit dem Problem umgehen könnte. Beispielsweise sehen wir immer energieeffizientere Kühlschränke, stellen uns aber nie die Frage, wie sinnvoll es ist, dass unser Lebensmittelsystem auf konstante Kühlung angewiesen ist. Wir befinden uns als Gesellschaft an einem Punkt, an dem wir über extrem fortschrittliche Technologien verfügen. Warum sollten wir nicht kurz innehalten und uns fragen, ob wir diesen Weg weitergehen wollen – vor allem da die Probleme ja nicht weniger, sondern mehr werden?

Also ich finde Lowtech sogar viel sexyer! Während mir ein iPhone reichlich egal ist, kann ich geradezu in Verzückung geraten, wenn ich ein strapazierfähiges Werkzeug entdecke, dass ganz ohne Strom funktioniert, oder ein Schubkarren, der vom Wind angetrieben wird, oder einen Zug mit Pedalantrieb. Ehrlich gesagt, finde ich Hightech ziemlich langweilig.

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