agora42 01/2010 - Wachstum

Page 1

01/2010 | 7,90 € (D)


INHALT

Seite 42 Wachstum und Ökologie Heiner Flassbeck

Seite 94 Portrait Ludwig Erhard Ein vergessener Gründervater: der Fundamentaloptimist Ludwig Erhard und seine soziale Marktwirtschaft von Daniel Koerfer

Seite 90 Speakers’ Corner Ein Interview mit Rolf Diemer

Seite 80 Ein Interview mit Norbert Walter „Ökonomie ist die Anerkennung der Realitäten“

42|

| Inhalt

94


EDITORIAL

06

agora42

08

PROLOG PARALLAXE ÖKONOMISCHE THEORIEN PHILOSOPHISCHE PERSPEKTIVE GRUNDANNAHMEN DER ÖKONOMIE IRWIN COLLIER HEINER FLASSBECK BERNHARD H. F. TAURECK NATHAN WEISS ALICJA KARKOSZKA JOHANN GRAF LAMBSDORFF / LOTTE BECK SIMPLICIUS NOVUS UMFRAGE

PERSONEN INTERVIEW MIT NORBERT WALTER SPEAKERS’ CORNER PORTRAIT

Die Reifeprüfung Ein schwäbisches Wachstumsmärchen Wer glaubt noch an Wachstum? Zurück in die Zukunft Die Messung des Wachstums Wie lang ist langfristig? Wachstum und Ökologie Wachstum über alles? Steuern gen Wachstum Neues Wachstum Korruption als Wachstumsbremse Wie ein Phönix aus der Asche

08 10 12 18 24 32 37 42 46 54 58 63 68

Auf dem Marktplatz

78

80

GEDANKENSPIELE

104

ZAHLENSPIELE

106

PLUTOS SCHATTEN

108

STEFAN REUSCH AUS DEM ENGLISCHEN

Vom Schrupftum und vom Boniwachs Politische Wissenschaften for Dummies

IMPRESSUM

80 90 94

„Ökonomie ist die Anerkennung der Realitäten“ Interview mit Rolf Diemer Ludwig Erhard

108 109

112 90

80

|5


Philosophische Perspektive

Wer glaubt noch an

Wachstum? Nicht erst seit der Wirtschaftskrise, aber seitdem verstärkt, wird man mit Abhandlungen darüber konfrontiert, dass wir „nicht mehr so weitermachen können wie bisher“. Wachstum sei in vielen Fällen bereits „unwirtschaftlich“ (Herman E. Daly) – das heißt, die tatsächlichen (Folge-)Kosten würden die Gewinne schon längst überschreiten –, es müssten endlich andere Prioritäten gesetzt werden, es sei Zeit zur „Einkehr“. Es habe viel zu lange eine Wachstumsfixierung beziehungsweise Wachstumsgläubigkeit vorgeherrscht, von der man sich nun verabschieden müsse. Diese Kritik ist berechtigt. Aber sie führt nicht weiter. Schlimmer noch: Genau diese – zumeist gut begründete – Kritik am Wachstumsglauben hat zur Folge, dass wir keine wirklich aufgeklärte Haltung gegenüber den drängenden Problemen unserer Zeit einnehmen können. Doch wie ist das möglich – was ist an berechtigter Kritik auszusetzen?

Kritik am Glauben Was bedeutet Glaube? Glaube wird hier nicht nur – und sollte generell nicht, wenn man sich nicht in Widersprüche verstricken will – als der Glaube an Gott definiert. Denn streng genommen glauben wir alle – wenn auch jeder auf seine Art. Glauben, das heißt an eine sinnvolle, geschlossene Ordnung glauben, an ein „großes Ganzes“, das bestimmten Regeln folgt. Philosophisch kann man eine solche Ordnung als Sein bezeichnen, soziologisch als Gesellschaft, ökonomisch als Wirtschaft, theologisch als

Perspektivenwechsel nach M. C. Escher

Gott, naturwissenschaftlich als Natur beziehungsweise Realität oder Wirklichkeit. Eine solche Ordnung existiert nur in unserer Fantasie. Das soll nicht heißen, dass sie überhaupt nicht existiert. Doch sie existiert nur kraft all jener Menschen, die an eine solche Ordnung glauben und die ihr Leben an der Fantasie/dem Glauben ausrichten. In Bezug auf die heutige Situation muss man allerdings genau sein: Glaube darf sich heute nicht unverstellt zeigen. Glaube muss sich immer an die Gegebenheiten anpassen, er muss die Kritik mit einschließen. Glaube ist heute immer ein unbewusster, ein indirekter Glaube: Man behauptet, als aufgeklärter Mensch (so die bewusste Selbsteinschätzung) nicht wirklich an Gott zu glauben, geht aber in die Kirche oder heiratet kirchlich – und schiebt alle möglichen „vernünftigen“ Gründe vor (die Familie, das weiße Kleid, die schöne Kirche, der nette Pfarrer…). Man behauptet, nun im wirtschaftlichen Kontext, von unbegrenztem Wachstum nichts zu halten, weil man natürlich gegen die „unnachhaltige“ Ausbeutung von Ressourcen ist, richtet aber sein ganzes Leben genauso aus, als ob unbegrenztes Wachstum möglich sei – sonst müsste man nicht nur auf große Teile seines Hab und Guts verzichten, sondern auch eine radikale Deindustrialisierung einfordern und an massivem „Schrumpftum“ mitwirken. Dass dies nicht im Rahmen der Demokratie möglich wäre, sollte jemandem, der nicht nur vorgibt, an Nachhaltigkeit interessiert zu sein, nur ein müdes Lächeln abringen. Der Glaube ist heute also heimlich, deshalb aber umso wirkungsvoller, weil er kaum zu fassen ist. Die offensichtliche Kritik am Glauben, wie zum Beispiel

| 19


| agora42


Der Glaube im 21. Jahrhundert?!, Trauner 2009

jene am Wachstumsglauben, bleibt deshalb oberflächlich, sie trifft nicht den Kern des Glaubens. Zugespitzt könnte man sogar sagen, dass diese oberflächliche Kritik dazu beigetragen hat, dass die in ihrem Glauben verunsicherten Wachstumsverehrer mit aller Anstrengung versuchten, die Richtigkeit ihres Glaubens zu beweisen und ein gottgleiches, ewiges Wachstum zu etablieren.

JEGLICHER ZWEIFEL AN DER WACHSTUMSRELIGION WURDE UMGEHEND MIT NEUEM WACHSTUM „BESTRAFT“.

Widersprüche und Kompromisse Über die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens macht man sich dann Gedanken, wenn das Wirtschaften als solches widersprüchlich geworden ist. SAP-Gründer Hasso Plattner bemerkte in einem Gespräch mit dem Magazin Der Spiegel treffend: „Es gibt so eine Stimmung im Land, dass wir Kapitalismus eigentlich gar nicht mehr wollen, sondern etwas anderes, Netteres.“ Nicht nur der Glaube daran, dass es wieder relevantes Wachstum geben kann, sondern auch der Glaube an die ökonomische Ordnung insgesamt ist erschüttert. Die ökonomische Vernunft dreht sich im Kreis, und wohin sie sich auch wendet, taucht schon das nächste Problem auf: Die Finanzkrise führte geradewegs in die Wirtschaftskrise; kaum befreit sich die Wirtschaft aus der Rezession, drohen die nächsten Rückschläge: weitere Bankenpleiten, die Gefahr einer Kreditklemme auf der einen, jene der Inflation auf der anderen Seite, die steigende Anzahl von Unternehmens- und Privatinsolvenzen, grassierende Arbeitslosigkeit und damit Rückgang des privaten Konsums, der Kollaps des öffentlichen Gesundheitswesens, die zunehmende Handlungsunfähigkeit des Staates durch die extreme Verschuldung, die Gefahr gesellschaftlicher Unruhen durch Perspektivlosigkeit und Abbau sozialer Leistungen. Auch externe Faktoren, wie der mögliche Staatsbankrott mancher EU-Staaten oder

die negativen Folgen klimatischer Veränderungen, geben Grund zur Beunruhigung. Wir haben keine glaubhafte Wachstumsperspektive mehr.

WIR SIND IN EINER ORDNUNG GEFANGEN, ZU DER WIR NICHT MEHR STEHEN KÖNNEN. Die Zeichen dafür mehren sich, dass wir heute nicht nur einer zeitweiligen Schwächeperiode des „großen Ganzen“ der Ökonomie beiwohnen, sondern das „große Ganze“ der Ökonomie selbst zur Disposition steht. Wir glauben nicht mehr daran, dass es so weitergehen kann, tun aber noch so, weil uns nichts Besseres einfällt. Das kostet Kraft und ist extrem unbefriedigend. In anderen Worten: Entweder man wächst, oder man lässt es bleiben.

NACHHALTIGES WACHSTUM IST VERLOGENES WACHSTUM: Man will auf der einen Seite auf die Vorteile, die Wachstum mit sich bringt, nicht verzichten, möchte aber die Nachteile nicht in Kauf nehmen. Diese Widersprüchlichkeit, die das Merkmal aller gesellschaftlichen Diskurse darstellt, zeigt sich auch in der Formulierung vom „Gesundschrumpfen“ der Wirtschaft. Der Glaube, der sich hinter diesem Begriff verbirgt, ist jener, dass es „gesundes“ Wachstum geben könne. Doch wann war Wachstum jemals „gesund“? Wie soll „Gesundheit“ in Bezug auf Wachstum und Wohlstand definiert werden? Gab es „gesundes“ Wachstum Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung in England dazu führte, dass viele Kinder unter ziemlich ungesunden Umständen in Fabriken und in Bergwerken arbeiten mussten (erst im Jahr 1878 wurde ein Gesetz verabschiedet, in dem das Mindestalter für Beschäftigte auf zehn Jahre angehoben wurde)? Oder war Wachstum „gesund“ vor der großen Weltwirtschaftskrise 1929 in Amerika? Oder als man nach dem

| 21


„Deckt sich das Interesse des Kapitals nicht

mehr mit den Interessen der Nation, das heißt

der Menschen, so möge

es einer anderen Struktur Platz machen.“

Antoine de Saint-Exupéry

| agora42


Grundannahmen der Ökonomie

Zurück in die

Zukunft Einst ist Robert Keayne ein angesehener Bürger gewesen. Respektiert und geschätzt. Nun saß er auf der Anklagebank. Verachtet und verschmäht. Ein abscheuliches Verbrechen hatte er begangen. Die Exkommunikation hing wie ein Damoklesschwert über ihm. Dann, mit Tränen in den Augen, gesteht er seine zuchtlose Tat. Robert Keayne hatte in einem Handelsgeschäft einen Profit von sechs Pence auf einen Shilling gemacht, was einer Handelsmarge von 50 Prozent entspricht. Dieses Verhalten konnte nicht toleriert werden. Zumindest nicht in der Bostoner Gesellschaft des Jahres 1639.

Pence/Shilling

Der Shilling wurde 1816 in Großbritannien eingeführt. Zwölf Pence entsprachen einem Shilling. Mit der Umstellung auf das britische Pfund und das Dezimalsystem im Jahr 1971 wurde der Shilling abgeschafft.

Profitstreben stellt heute keinen Straftatbestand dar. Ist es „überzogen“, baut sich allenfalls eine Mauer der moralischen Entrüstung auf – ohne Fundament. Die Mauer durchbrechen? Kein Problem. Was aber hat zu diesem radikalen Perspektivenwechsel geführt? Profitstreben scheint keinen urmenschlichen Instinkt darzustellen. Es scheint so, als ob Profitstreben erst mit dem „modernen und kapitalistischen“ Menschen aufkam, denn nur dieser strebt nach „mehr“. Zieht man weiterhin in Betracht,

dass ein höherer Profit einen höheren materiellen Wohlstand bedingt, kommt man zu folgender Schlussfolgerung: Für die Anerkennung des Rechts, nach größerem materiellem Wohlstand streben zu dürfen, musste sich der Mensch vom vorherrschenden Menschenbild und den damit verbundenen Normen und Verhaltensweisen emanzipieren. Ohne diese Emanzipation konnte kein Wachstum und, damit einhergehend, kein materieller Wohlstand für große Teile der Bevölkerung entstehen.

Feudalismus und Autorität – die Waffen im menschlichen Überlebenskampf Schon immer hat sich der Mensch mit seiner Umwelt arrangieren müssen. Die Anstrengung, die es gekostet haben muss, um Wildtiere zu domestizieren oder durch Ackerbau der Erde das Nötigste abzuringen, ist unvorstellbar. Um den Fortbestand der Menschheit zu sichern, musste ein funktionierendes soziales System sichergestellt sein. Ein Kampf aller gegen alle hätte die Überlebenschancen weiter verringert. Dieses System, das auf Tradition und Autorität fußte, bestand in einer mehr oder weniger ausgeprägten Form bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In diesem sozialen Gefüge war kein Platz für die individuelle Entfaltung. Die Tradition stellte sicher, dass dem Vater der Sohn folgte. Im alten Ägypten, sagte Adam Smith, war jeder Mann durch religiöse Richtlinien gezwungen, der Beschäftigung seines Vaters nachzugehen – tat er das nicht, musste er Opfer erbringen. Die Autorität beziehungsweise die Peitsche stellte si-

| 25


cher, dass alle vermeintlich erforderlichen Arbeiten und Aufgaben erledigt wurden.

DER BAU DER PYRAMIDEN VON GISE BASIERTE NICHT AUF EINEM SOLIDEN GESCHÄFTSMODELL, DAS EINE ORDENTLICHE RENDITE BEI MAXIMALER INVESTITIONSSICHERHEIT VERSPRICHT. In diesen Strukturen herrschte der Adel über Volk und Land, die Zunft über das Handwerk und die Religion über die Moral. Das System bestand darin, das Eigeninteresse zu unterdrücken, um dem Gemeinwohl zu dienen. In diesem System konnten die grundlegenden Faktoren einer Produktionsgesellschaft – Land, Arbeit und Kapital – nicht effizient genutzt werden. Land galt nicht als handelbares oder Rendite erwirtschaftendes Objekt – es war primär ein Statussymbol der Adligen. Die Arbeitskraft konnte weder frei angeboten werden noch war sie mobil – der Leibeigene war an seinen Herrn gebunden. Kapital war vorhanden, wurde aber nicht in neue Ideen oder Innovationen investiert. Vorzugsweise wurden Investitionen in sehr langfristige und arbeitsinten-

Merkantilismus

Merkantilismus wird das vorherrschende Wirtschaftssystem von circa 1600 bis 1750 in Westeuropa bezeichnet. Der Merkantilismus legt in seiner ökonomischen Theorie das Hauptgewicht auf die Förderung des Außenhandels

sive Prozesse getätigt – zur Renditemaximierung. Denn der Faktor Arbeit kostete nichts, weil die Investoren ein Heer von Leibeigenen zur Verfügung hatten.

MÄNNER WAREN WIE DROHNEN. SIE WURDEN GEBOREN, UM IHRE AUFGABEN ZU ERFÜLLEN UND DANACH ZU STERBEN. Solange dies das vorherrschende Menschenbild darstellte, gab es keinen Anlass, sich Gedanken über Armut und Knechtschaft zu machen – die Geschichten aus dem Leben der Könige und Königinnen waren weitaus interessanter und aufregender – Entertainment pur. Wohlstand gab es auch in diesem System – er war aber nur wenigen Privilegierten und Abenteurern zugänglich. Diese Abenteurer, meist Händler, waren zugleich Berater der Herrscher und sind bekannt als Merkantilisten.

Die ökonomische Unabhängigkeitserklärung Der Mensch musste sich vom vorherrschenden System emanzipieren, um seinem Streben nach Wohlstand eine Rechtfertigung zu geben. Diese Emanzipation vollzog sich nicht über Nacht, sondern kam schleichend und dauerte mehrere Jahrhunderte. Als Emanzipationskatalysatoren können unter anderem die wachsende wissenschaftliche Neugier des Menschen und die schwindende Bedeutung fester Glaubensregeln unter dem Einfluss des Renaissance-Humanismus genannt werden.

(etwa durch die Gründung privilegierter Transportgesellschaften oder Großbetriebe). Dadurch soll Geld ins Land fließen. Zugleich stellt der Merkantilismus eine frühe Form des Protektionismus dar, also eine Außenhandelspolitik, die zum Beispiel durch Schutzzölle, Handelshemmnisse oder Einfuhrsteuern den Schutz der inländischen Produzenten gegen ausländische Konkurrenz betrieb.

| agora42

DAS MENSCHENBILD UND DES MENSCHEN WELTBILD VERÄNDERTEN SICH: FREIHEIT, EIGENTUM UND WOHLSTAND WURDEN ERSTREBENSWERT. iStock, PeskyMonkey, 2009


Irwin Collier

Wie l a n g ist langfristig? Rastlos. Atemlos. Mit diesen zwei Worten lässt sich die Verfassung der meisten Ökonomen (und Investoren) beschreiben, die sie einer wilden Abfolge von Ereignissen in den letzten 18 Monaten zu verdanken haben. Das Ausmaß der Ereignisse, die unser kapitalistisches System durchzogen haben, hat die Geschichtsschreiber nicht zur Ruhe kommen lassen und zog finanzpolitische Interventionen nach sich, die den größten Wirtschaftskrisen der Geschichte in nichts nachstehen. Unser modernes Wirtschaftssystem, gespickt mit komplizierten Finanzinstrumenten, wirkt, um mit Churchills Worten zu sprechen, wie „a riddle wrapped in a mystery inside an enigma“ – ein Buch mit sieben Siegeln. Für viele ist die Krise die göttliche Bestrafung für die Abkehr der ökonomischen Theorie von der ökonomischen Wirklichkeit. Wer das göttliche Feuer stiehlt, wird sich verbrennen – genauso wie der, der Geld an einen Verschwender verleiht.

Klinken wir uns für einen Moment aus der Hektik des Alltags aus, lassen die Analysen, Prognosen und die Suche nach Lösungen für eine Weile ruhen und schenken auch den gegenseitigen Anschuldigungen, bei denen es zumeist sowieso nur darum geht, sich rhetorische Lorbeeren auf Kosten anderer zu verdienen, für einen Moment keine Beachtung. Machen wir es für einen Moment den Akademikern gleich, die den Sturm als willkommenen Vorwand nehmen, um in der Sicherheit ihres Elfenbeinturms über die Wirklichkeit zu kontemplieren. Selbst Archimedes wollte angeblich nicht, dass „seine Kreise“ gestört werden.

Der Prophet des Untergangs

Auf den nächsten Seiten möchte ich Sie mit auf einen Streifzug durch die grundlegenden Ideen der Ökonomie nehmen – fernab der täglichen Informationsflut, fernab des hektischen Börsengeschehens. Auf diesem Streifzug werden wir den großen Fragen der Menschheit begegnen. Diese Fragen beschäftigen die Menschheit fast schon so lange, wie die Ökonomie vorgibt, eine Wissenschaft zu sein. Die Erkenntnisse unseres Streifzugs werden von viel grundsätzlicherer Natur sein als die von Politgurus und TV-Experten verkündeten Weisheiten.

Wir beginnen mit der Flucht aus der malthusianischen Logik, die so viele unserer Vorfahren in Armut gefangen hielt. Eine unvorstellbare Armut, aus deren Perspektive unsere heutigen amtlichen Armutsgrenzen wie goldbemalte Gewölbe von Kathedralen scheinen.

D

ie malthusianische Logik basiert auf den Arbeiten von Thomas Robert Malthus, der 1798 seine „Bevölke-

Archimedes

(285–212 v. Chr.),

griechischer Mathematiker, der sich unter anderem mit der Geometrie befasste. Ein römischer Soldat drang im zweiten Punischen Krieg zu ihm vor, als er gerade geometrische Figuren zeichnete, um ihn festzunehmen. Archimedes herrschte den Soldaten ungeduldig an: „Störe meine Kreise nicht!“. Das waren seine letzten Worte. In blinder Wut zog der Soldat sein Schwert und tötete Archimedes.

| 37


rungstheorie“ (englisch: An Essay on the Principle of Population) veröffentlichte. Es war Malthus Bevölkerungstheorie und deren Akzeptanz unter den Nationalökonomen, die Thomas Carlyle bewegte, der Volkswirtschaftslehre die bis heute gebräuchliche abfällige Bezeichnung „dismal science“ – also trostlose, düstere Wissenschaft – anzuhängen. Malthus argumentiert in seiner Bevölkerungstheorie, dass die großen Tragödien der Menschheit auf einen einfachen Grund zurückzuführen sind: Bevölkerungswachstum. Diese demografische Dynamik würde, zum Entsetzen der damaligen Möchtegern-Sozialreformer, sogar die bestgemeinten Sozialreformen zur Linderung des Elends zunichte machen. Damit nicht genug. Malthus verschärfte zudem die christliche Botschaft, dass die Armen immer unter uns sein würden, indem er einen unbarmherzigen demografischen Mechanismus aufzeigte, wodurch technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt letztendlich zu einer Zunahme der Armen in der Bevölkerung führen würde, anstatt eine anhaltende Reduzierung des menschlichen Elends zu bewirken. Das heißt, die Armen werden nicht nur immer unter uns sein, auch ihre Zahl wird stetig wachsen.

Zu diesen düsteren Prognosen gelangte er aufgrund einer relativ trivialen mathematischen Beobachtung: Ein Prozess, der linear wächst, wird langfristig von jedem anderen Prozess „überholt“, der exponentiell wächst. In dem Modell von Malthus steigt die Nahrungsmittelproduktion linear, das Bevölkerungswachstum jedoch exponentiell. Was bedeutet das? In einem linearen Prozess wird einfach eine Konstante zum vorhergehenden Wert addiert. Ein exponentieller Prozess hingegen ist dadurch charakterisiert, dass eine Zahl sich stetig mit einer Konstanten multipliziert. Malthus liefert hierzu folgendes Beispiel: Wenn die Bevölkerung eine Milliarde beträgt, wird sie mit den Faktoren 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256 ansteigen. Die Nahrung dagegen mit den Faktoren 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. Während zu Beginn jeder über einen Nahrungsmittelkorb verfügt, müssen sich 200 Jahre später 256 Personen neun Nahrungsmittelkörbe teilen. Weitere 100 Jahre danach müssen sich 4096 Personen 13 Nahrungsmittelkörbe teilen. Lebt diese Bevölkerung

| agora42

nun in einem Land, dessen bewirtschaftbare Fläche voll ausgeschöpft ist, wie das bei Großbritannien der Fall ist, kann eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion nur durch eine Produktivitätssteigerung der landwirtschaftlichen Verfahren erreicht werden. Allerdings kann diese Produktivitätssteigerung nicht mit dem rasanten Bevölkerungswachstum Schritt halten (die Produktivitätsstei-

Grenzbegriffe in der Ökonomie

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie laufen schon seit einer Ewigkeit durch eine Wüste. Die Sonne brennt, und Sie haben großen Durst. Plötzlich sehen Sie eine Oase mit einer Wasserquelle. Was werden Sie tun? Sie werden anfangen zu trinken, denn Sie haben Durst. Der erste Schluck bringt Ihnen den größten Nutzen. Der zweite Schluck einen etwas geringeren usw. Irgendwann werden Sie kein Wasser mehr sehen können. Das heißt, der Nutzen den Sie mit jedem Schluck haben, nimmt kontinuierlich ab. In der Ökonomie heißt das, dass der Grenznutzen abnimmt. Allgemein formuliert: Der Grenzbegriff gibt an, was das Hinzufügen einer zusätzlichen Einheit (Schluck Wasser) für eine Auswirkung hat. Im Fall der abnehmenden Grenzerträge des Faktors Land in Bezug auf den Faktor Arbeit verhält es sich analog. Das heißt, welche Auswirkungen hat eine zusätzlich eingebrachte Arbeitseinheit auf den Ertrag? Das Land ist fix, das heißt nicht erweiterbar. Wird das Land überhaupt nicht bestellt, wirft es auch keinen Ertrag ab (wir sehen hier von der Möglichkeit der Verpachtung ab). Beginnt ein Arbeiter, das Land zu bestellen, führt das zu einem positiven Ertrag, da eine Ernte eingefahren werden kann. Eine zweite Arbeitskraft wird den Ertrag weiter erhöhen, da mehr gesät und geerntet werden kann. Mit jeder weiteren Arbeitskraft wird zwar der Gesamtertrag erhöht, aber der Beitrag jeder neuen Arbeitskraft nimmt ab. Das heißt, die Grenzerträge nehmen ab. Irgendwann ist eine Situation erreicht, in der eine zusätzliche Arbeitskraft keine Auswirkungen mehr auf den Ertrag hat, denn das Land kann nur eine bestimmte Menge an Ernte abgeben.


PERSONEN

Ein Interview mit Norbert Walter

Ökonomie ist die Anerkennung der Realitäten

John Maynard Keynes bezeichnete die Ökonomie als eine Königsdisziplin. Damit meinte er, dass man als Ökonom zugleich Philosoph sein muss, um die Grundannahmen zu verstehen, Mathematiker, um die Instrumente zu beherrschen, und dabei noch wortgewandt, um die komplexen Modelle auch vermitteln zu können. Ist für Sie die Ökonomie auch eine Königsdisziplin? Ja und nein. Ja, weil die Ökonomie sich aus den verschiedensten Wissenschaften speist, sich von deren Methoden und Zielen inspirieren lässt. Und nein, weil die Ökonomie immer nur in einem begrenzten Umfang eine Wissenschaft sein kann. Wir sind gewissermaßen philosophisch, aber keine Philosophen, wir sind mathematisch, aber doch keine Naturwissenschaft. In Ihrem Buch Marktwirtschaft, Ethik und Moral haben Sie das „große Ganze“ der Gesellschaft in den Blick genommen. Sie schreiben dort, die Wirtschaftskrise sei eine Krise der Werte. Was stimmt nicht mit unseren Werten? Welche Werte sind für eine funktionierende Wirtschaftsordnung unabdingbar? Bei meiner Beobachtung konzentriere ich mich insbesondere auf die westliche beziehungsweise die europäische Gesellschaft und musste feststellen, dass sie sich in den letzten 30 Jahren immer mehr zu einer „Instant Society“ entwickelt hat. Die Haltung dieser Gesellschaft ist: „Bitte alles für mich und alles bitte jetzt und gleich!“ Die Konsequenz dieser Einstellung hat die Qualität eines Instantkaffees. Nach meiner Einschätzung haben bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu lange das Wort geführt, die die Emanzipation des Menschen über so billige Bemerkungen wie „Mein Bauch gehört mir“ oder „Die Treue zu einem Menschen ist von gestern“ definierten. Diejenigen, die Emanzipation vernünftig definieren, sind an dieser Stelle natürlich ausgenommen. Wer eine Weile einen solchen Lebenswandel geführt hat, wird sich, wenn er ehrlich zu sich selbst ist, eingestehen, dass man so nicht glücklich wird. Insofern ist Ehrlichkeit, nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber, ein Wert, den ich für äußerst wichtig erachte. Mit einer Orientierung, wie sie in den letzten 30 Jahren gesellschaftlich hofiert wurde, kommt man dem eigentlichen Ziel, nämlich glücklich zu werden, nicht näher.

| Personen


Trotzdem sprach man vom Erfolg, den jeder Mensch erlangen konnte. Ist Egoismus nicht eine grundlegende Voraussetzung für individuellen Erfolg? Ja. Aber ein Erfolgserlebnis können Sie zeitweise auch durch Drogen haben. Oder indem Sie sich nur auf die Realisierung ihrer Wünsche konzentrieren und die anderen Menschen nicht berücksichtigen. Wenn man jedoch die Reputation des einzelnen in der Gesellschaft als eine nachhaltige Orientierung im Sinn hat, würde man nicht zu den Antworten kommen, wie wir sie in den letzten 30 Jahren in der westlichen Gesellschaft gefunden

Norbert Walter, geboren 1944 in Weckbach/Unterfranken, studierte Volkswirtschaftslehre an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. 1968 schloss er das Studium mit Diplom ab. 1971 erfolgte die Promotion. Danach wechselte er an das Institut für Weltwirtschaft nach Kiel, wo er zunächst als Assistent und seit 1975 als Leiter der Konjunkturabteilung arbeitete. 1978 wurde er Professor und im gleichen Jahr Direktor im Institut für Weltwirtschaft. 1986/87 war er für ein Jahr „John J. McCloy Distinguished Research Fellow“ am American Institute for Contemporary German Studies der Johns Hopkins University in Washington D.C. Seit 1987 arbeitete er als Ökonom in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Deutschen Bank in Frankfurt am Main und wurde 1990 deren Chefvolkswirt. Norbert Walter engagiert sich im Gremium der „Sieben Weisen“ zur Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte bei der EU-Kommission, Brüssel. Zudem ist er Mitglied in der interinstitutionellen Monitoring Gruppe (ernannt vom Europäischen Parlament, Rat und der Europäischen Kommission) für den Lamfalussy Prozess (zur Überwachung der Wertpapiermärkte). Walter ist Mitglied des Bundes Katholischer Unternehmer und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

| 81


haben. Und ich glaube, dass die muslimische Welt mit einigem, was sie uns vorwirft, durchaus recht hat. In diesem Sinne würde ich Erfolg nach dem ethischen und moralischen Gehalt bemessen. Ob man sich dann an den Zehn Geboten orientiert oder einem anderen humanistischen Weltbild, ist dabei nicht entscheidend. Hans Küng hat beim Projekt Weltethos den Versuch gemacht, den Minimalkonsens zwischen den verschiedenen Philosophien und Religionen zu beschreiben und ein knappes, von allen akzeptiertes Regelwerk aus wenigen Grundforderungen aufzustellen. Dieses Regelwerk soll den Kanon gemeinsamer Werte reflektieren und somit zu einem besseren Zusammenleben führen. Ob wir wirklich diese konsensuale Orientierung und am Ende dieses Minimum an „Weltethos“ konfliktfrei erreichen können, weiß ich nicht – ich hoffe es aber sehr. Ich bin der festen Überzeugung, dass Religion zu Toleranz verpflichtet und damit letztlich auch zum Respekt vor einer anderen Sichtweise. Diese Toleranz aufzubringen ist schwierig. Bei meinen Reisen nach Indien habe ich gemerkt, dass ich das Kastenwesen und das Menschenbild, das es beinhaltet, nicht akzeptieren kann. Ich setze mich persönlich dafür ein, dass die indische Gesellschaft ständig herausgefordert wird. Mir muss jeder Benachteiligte in der unteren Kaste mehrfach in seinem Leben glaubwürdig dokumentieren, dass er daran glaubt, dass es ihm im nächsten Leben besser geht und dass es ihm für jetzt genügt.

Projekt Weltethos

Die Frage nach einem „Weltethos“ geht zurück auf die Programmschrift Projekt Weltethos, die Hans Küng im Jahre 1990 vorgelegt hat. Hier wird die Idee entwickelt, dass die

Das heißt Toleranz ja, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt? Toleranz ja, aber nur bis zu dem Punkt, an dem Menschenrechte missachtet werden. Das schließt sich aber nicht aus. Joseph Schumpeter hat prophezeit, dass wir durch den Zuwachs an Wohlstand, der durch den Kapitalismus entsteht, mehr Zeit zur Verfügung haben würden. Mehr Zeit, die wir dazu nutzen würden, die Ungerechtigkeiten der Welt zu thematisieren und diese zu beseitigen. Nun ist es unserer Gesellschaft noch nie so gut gegangen wie heute, aber die Ungerechtigkeiten scheinen parallel zum Wohlstand gewachsen zu sein. Was war falsch an Schumpeters Annahme? Beträfe der Wohlstandszuwachs auch die geistige Entwicklung, hätte solch eine Wohlstandssteigerung natürlich viel Positives bewegen können. Aber ich sehe auch, dass viele Menschen durch Reichtum faul werden und der Verpflichtung, ihr eigenes Potenzial voll einzusetzen, nicht mehr nachkommen. Ich würde allerdings nicht so weit gehen und das als unabänderliches Schicksal ansehen. Zugleich fordere ich von den Leuten, die das Glück haben, sich nicht nur um ihre Existenzsicherung sorgen zu müssen, dass sie Erziehungsaufgaben anderen gegenüber wahrnehmen, um der geistigen Degeneration entgegenzuwirken. Hasso Plattner bemerkte in diesem Zusammenhang, dass „es so eine Stimmung im Land gibt, dass wir Kapitalismus eigentlich gar nicht mehr wollen, sondern etwas anderes, Netteres“. Ist aber der Kapitalismus nicht verzahnt mit dem politischen System der Demokratie? Ist also letztlich die Demokratie gefährdet?

Religionen der Welt nur dann einen Beitrag zum Frieden der Menschheit leisten können, wenn sie sich auf das ihnen jetzt schon Gemeinsame im Ethos besinnen: auf einen Grundkonsens bezüglich bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen.

| Personen

Aber sicher ist die Demokratie gefährdet! Auch die Marktwirtschaft ist gefährdet! Aber als Ökonom muss man sich die eigentliche Frage stellen: Was ist die Alternative? Und leider haben wir derzeit nicht viel im Angebot.


Sie schreiben dennoch, wir bräuchten einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die bürgerlichen Überzeugungen wieder in den Vordergrund stellt. Ja, ich bin der Meinung, dass wir bezüglich der Rollenverteilung in unserer Marktwirtschaft und der Demokratie einige Defizite haben, die es anzusprechen und zu korrigieren lohnt. Für mich war Adam Smith ein begnadeter Mensch. Nicht nur, weil er wusste, welche Bücher in welcher Reihenfolge zu schreiben sind – was also wirklich wichtig ist und was von nachrangiger Bedeutung. Er hat überdies sein Menschenbild nicht nur abstrakt formuliert, sondern wusste es auch trefflich zu illustrieren. Eine seiner überraschenden Erkenntnisse ist, dass, wenn sich zwei Unternehmer treffen, daraus keine Marktwirtschaft entsteht, sondern ein Kartell. Marktwirtschaft ist kein spontaner Prozess. Somit muss die Gesellschaft in einer Marktwirtschaft auch Schlussfolgerungen institutioneller Art ziehen. Dabei kann aber nicht nur eine effiziente Ordnung entstehen, es besteht vielmehr die Gefahr, dass man verfassungsrechtliche Türme baut und diese Türme schließlich zu Babylon werden. Welche Lösungen sehen Sie für dieses Dilemma?

Offenheit im Wettbewerb. Wir Europäer scheinen das auch endlich begriffen zu haben, weil wir dem Kommissar für Wettbewerb in der EU-Kommission eine wichtige Rolle zubilligen. Niemand hat den europäischen Wettbewerb gegen die Partikularinteressen mehr unterstützt als der jeweilige Wettbewerbskommissar beziehungsweise die jeweilige Wettbewerbskommissarin. Die gegenwärtige Kommissarin für Wettbewerb, Neelie Kroes, scheint sich jetzt zu überlegen, ob sie weitermacht. Wenn sie das tut, bin ich der Erste, der ihr gratuliert. Und ihre Vorgänger, Mario Monti und Karel Van Miert, waren wichtige Gralshüter eines der wichtigsten Prinzipien der Marktwirtschaft. Freiheit benötigt immer auch starke Institutionen, die dem Volk verpflichtet sind. Ein ehemaliger Chef von mir hat einmal gesagt: Marktwirtschaft ist die Organisation der Fernstenliebe. Nicht, dass Nächstenliebe nicht gebraucht werde, aber wir brauchen auch einen Rahmen, der es ermöglicht, dass die Fernsten geliebt werden. Und den haben wir durch die Marktwirtschaft. Ludwig Erhard hat das intuitiv gewusst. Interessanterweise hat sich Erhard vor Europa gefürchtet. Er war in Sorge, dass durch die Öffnung der innereuropäischen Märkte die Offenheit des Handels mit der restlichen Welt eingeschränkt, dass Europa zur Festung wird.

| 83


Portrait von Daniel Koerfer

Ein vergessener Gr端ndervater:

| Personen


der Fundamentaloptimist

Ludwig Erhard und seine soziale Marktwirtschaft

Die junge Journalistin aus Hamburg fuhr im Frühjahr Würde Erhard heute wieder antreten und seine Konzep1948 nach Frankfurt am Main. Sie hatte vor dem Krieg tion vorstellen, die Geschichte würde sich wiederholen: in Königsberg und Basel Volkswirtschaft studiert und Medialer Hohn und Spott, ja Verachtung für seine „neihr Studium mit der Promotion abgeschlossen, anschlieoliberalen“ Rezepte wären ihm sicher. Jene soziale ßend in Ostpreußen ein großes Gut geleitet, den UnterMarktwirtschaft, auf die sich heute alle Parteien bis hin gang des Großdeutschen Reiches erlebt, war zu Pferd zur Linken berufen, hat mit seiner eigenen Konzeption mit einem kleinen Treck nach Westen geflüchtet wie kaum noch etwas zu tun. Millionen ihrer Landsleute auch. Jetzt war sie von der Redaktion einer neu lizensierten Wochenzeitung auf DENN DIE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT LUDWIG die Reise geschickt worden, ERHARDS VERHÄLT SICH ZUM ÜBERDEHNTEN, um die erste PressekonfeDURCH IMMER HÖHERE SCHULDENBERGE renz des neuen Direktors der Verwaltung für Wirtschaft FINANZIERTEN VERSORGUNGSSTAAT UNSERER im bizonalen Wirtschaftsrat ZEITEN WIE FEUER ZU WASSER. (Wirtschaftsrat der zusammengeschlossenen Besatzungszonen der USA und des Vereinigten KönigWer in seinem gerade wieder aufgelegten Bestseller von reichs) zu verfolgen. Ihr Eindruck von dem bis dahin 1957 – vermutlich wurde er schon damals vielfach gegänzlich unbekannten Mann, von seinen Visionen? kauft und verschenkt, aber nie gelesen – mit dem proBlankes Entsetzen. Marion Dönhoff berichtete anschliegrammatischen Titel Wohlstand für alle blättert und ßend ihren Redaktionskollegen von der ZEIT: „Wenn etwa das Kapitel „Versorgungsstaat – der moderne Deutschland nicht schon eh ruiniert wäre, dieser Mann Wahn“ entdeckt, wird aus dem Staunen nicht mehr hermit seinem absurden Plan, alle Bewirtschaftungen in auskommen. 50 Jahre her – und doch ist’s, als sei kein Deutschland aufzuheben, würde das ganz gewiss fertigTag vergangen. Dort steht etwa: „Das mir vorschwebringen. Gott schütze uns davor, dass der einmal Wirtbende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne schaftsminister in Deutschland wird.“ Der Mann, vor sagen kann: ‚Ich will mich aus eigener Kraft bewähren. dem sie so nachdrücklich warnte, hieß Ludwig Erhard – Ich will das Risiko meines Lebens selbst tragen. Ich will von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister, anschliefür mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge Du, ßend für drei Jahre Adenauers Nachfolger im Amt des Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.’ Der Ruf darf Bundeskanzlers und einer der Gründerväter der zweiten nicht lauten: ‚Du, Staat, komm mir zu Hilfe, schütze deutschen Republik. mich und helfe mir’, sondern umgekehrt:

| 95


„I think there is a world market for maybe five computers.“ Thomas Watson, Vorstandsvorsitzender von IBM, 1943

„I do not believe the introduction of motorcars will ever affect the riding of horses.“ Mr Scott-Montague, Member of Parliament, 1903 in the United Kingdom

„When the Paris Exhibition closes, electric light will close with it and no more be heard of.“ Erasmus Wilson, 1878

| 103


GEDANKEN SPIELE Dr. Carsten Deckert ist Vorstand der Deutschen Aktionsgemeinschaft Bildung-Erfindung-Innovation (DABEI) e.V. und Autor des satirischen Ratgebers „Anleitung zum Uninnovativsein“.

| Gedankenspiele

In

60

Zentrales Europäisches Patentamt prämiert die besten Innovationen 2069 München, 24. 11. 2069 Dieses Jahr prämiert das nach jahrzehntelangem Tauziehen neu eingerichtete Zentrale Europäische Patentamt (CEPO) zum ersten Mal die besten Innovationen des Jahres. Im Zuge der Vereinheitlichung der Länderpatente zu einem EU-Patent wurden die Erfindungen neu bewertet und in unterschiedlichen Kategorien ausgezeichnet. In der Kategorie Nanotechnologie ging der erste Preis an Nanobot, einen medizinischen Kleinstroboter zur Krankheitsdiagnose im Körperinneren. Trotz einer Größe von nur wenigen Nanometer ist Nanobot mit einem umfangreichen Instrumentarium zum Sammeln von Proben und zur Datenanalyse ausgestattet. Der Preis wurde an Nanobot vergeben, obwohl er in der jüngsten Vergangenheit negative Schlagzeilen gemacht hatte: Einige deutsche Großkonzerne hatten Nanobot zur Bespitzelung des Gesundheitszustandes ihrer Mitarbeiter missbraucht. In der Kategorie Neue Medien ging der erste Preis an i-Implant, einer Kombination aus Telefon, Internetanschluss und Entertainmentstation, die als Implantat direkt in den Neocortex eingepflanzt wird. Unter anderem bietet es einen direkten Zugang zu Third Life, dem Nachfolger von Second Life, das durch eine virtuelle Klimakatastrophe im Jahr 2050 unbewohnbar wurde. Den ersten Preis in der Kategorie Biochemie erhielt das Leistungssteigerungspräparat Arga IV. Es steigert die Konzentrationsfähigkeit des Menschen und mindert die Ablenkung durch multimediale Reizüberflutung. Das Mittel wurde vom Einheitstrust der deutschen Pharmaindustrie entwickelt, nachdem eine Studie der Europäischen Union herausgefunden hatte, dass über 42 Prozent der Arbeitnehmer stark bis sehr stark durch Werbeeinblendungen auf ihren Rechnern von der Arbeit abgelenkt werden. Es ist bereits durch den zentralen europäischen Gesundheitsfonds zugelassen worden, obwohl die Anti-Doping-Agentur für Wissensarbeiter (ADAW) ernste ethische Bedenken angemeldet hat und sich den Rechtsweg vor dem Europäischen Gerichtshof vorbehält. S


ZAHLEN SPIELE | Zahlenspiele

Index agora42 1957 1980 2008

BIP pro Kopf Ghana: BIP pro Kopf Südkorea:

US$ 490 US$ 491

BIP pro Kopf Ghana: BIP pro Kopf Südkorea

US$ 400 US$ 2.000

BIP pro Kopf Ghana: BIP pro Kopf Südkorea:

US$ 716 US$ 19.505

Warum wurden die einen so reich und die anderen nicht? Seit Dekaden gibt Südkorea mehr als acht Prozent seines BIP für die Bildung aus. Südkorea belegte Platz 3 in der PISA-Studie. Die durchschnittliche Ausbildungszeit stieg in Südkorea zwischen 1985 und 2000 um 20 Prozent auf 13 Jahre. Die Ausgaben für Bildung betrugen 1980 in Ghana 3,8 Prozent des BIP.


IMPRESSUM

Herausgeber

Nazim Cetin

Chefredakteur

Frank Augustin

Redaktion

Wolfram Bernhardt Alicja Karkoszka Simplicius Novus Nathan Weiss

Bilder und Illustrationen

Wolfram Bernhardt Alicja Karkoszka Alexander Schmalz (alexschmalz.blogspot.com) Isabelle Zahorka

Korrektorat

Elisabeth und Martin Pohl

Gestaltung

s+p mediendesign GmbH, 70197 Stuttgart www.schenkundpartner.de

Druck

röhm typofactory Marketing GmbH, Sindelfingen

Anschrift und Kontakt

DESA GmbH Ziegelstr. 11, 71063 Sindelfingen Tel.: 07031 / 43 57 885 Fax: 07031 / 43 57 889 E-Mail-Adresse: info@agora42.de agora42.de

Erscheinungsweise 6-mal jährlich – am 26. Februar 2010 erscheint die nächste Ausgabe der agora42. Ein weiteres großes Thema der Ökonomie – philosophisch reflektiert, relevant für das Leben. Jahresabo 42 Euro Das Jahresabonnement umfasst sechs Ausgaben der agora42 zum Vorzugspreis von 42 Euro (inkl. Mwst. und Versand). Sie sparen gegenüber dem Einzelkauf 11 %. Förderabo 420 Euro agora42 ist ein neues Magazin für Ökonomie und Philosophie, das von vier jungen Unternehmern gegründet wurde. agora42 ist eine Plattform für offenes und freies Denken. In der agora42 werden wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhange sichtbar gemacht, Grundbegriffe der Ökonomie und Philosophie verständlich erläutert und neue Perspektiven aufgezeigt. Wenn wir Sie mit unserer Idee begeistern und Sie unsere Überzeugung teilen, freuen wir uns, Sie als Förderabonnementen gewinnen zu können. Für die einmalige Zahlung von 420 Euro erhalten Sie ein Leben lang die agora42 im Abonnement.

| Impressum


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.