ad hoc 4: Die Arabische Welt

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Heft 10/05/2007 Heft 4: 1: September 2008

ad hoc international Die neuen Friedensmissionen Editorial (Seite 1) Überblick: Friedenseinsätze, der aktuelle Forschungsstand (­ Seite 2)  VIP-Interview: Tono Eitel (Seite 4)   Überblick: Afrika (Seite 5)   Dossier: Entwaffnung (Seite 6)  Fallstudie Kosovo (Seite 8)   Kommentar: Aktueller Stand in Afghanistan (Seite 9)

Die Arabische Welt – So nah und doch so fern? Interview: „Deutschland könnte im Nahen und Mittleren Osten ruhig aktiver werden“ ­(Seite 4) Filmen im Westjordanland: Eindrücke eines Newcomers (Seite 6) Sudan – Krieg und Frieden an den Grenzen der arabischen Welt (Seite 8) Wie Frauen im Libanon Frieden schaffen (Seite 10) Der Jemen – auf schmalem Entwicklungspfad (Seite 14) Sozialer Sprengstoff in Ägypten (Seite 16)


Impressum

ad hoc international Zeitschrift vom Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. erscheint halbjährlich. Diese Ausgabe wurde in Kooperation mit dem CSP-Netzwerk für Internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. erarbeitet. Titelbild: Sonnenuntergang in Amman, Jordanien; Foto: Else Engel Bildnachweis: Layla Al-Zubaidi (Seite 4); Else Engel, CSP (Seite 18); Susan Javad, CSP (Seiten 16–17); Regina Kallmayer (Seite 13); Daniel Koss (Seiten 6–7); Tina Nebe (Seite 10); Neubau Berlin (Seiten 20–21); Valeska Onken (Seiten 8–9); Jochen Renger (Seiten 14–15); Christian Resch (Seiten 8–9); Richard Röder (Seite 12); Antonia Staats (Seiten 10–11, 19–21); V+I+S+K (Seiten 2, 9) Herausgeber: Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. Schillerstr.57, 10627 Berlin, Telefon +49 (0)30 31102298, Fax +49 (0)30 31016229 gf@stiftungskolleg.org, www.stiftungskolleg.org Redaktion: Ines Wolfslast (Projektleitung), Christina Hübers, Frederike von Kunow, Alexander Haridi, Daniel Maier (CSP), Kristiane Janeke, Bettina Huber, Tania Krämer, Sebastian Unger, Katja Patzwaldt, Katharina Welle, Silke Oppermann (CSP), Gernot Bäurle Autoren: Daniel Braun, Else Engel (CSP), Sebastian Gräfe, Alexander Haridi, Susan Javad (CSP), Regina Kallmayer, Daniel Koss, Daniel Maier (CSP), Tina Nebe, Valeska Onken, Jochen Renger, Christian Resch, Richard Röder Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autoren wider. Idee: Ines Wolfslast Gestaltung: V+I+S+K Büro für Visuelle Kommunikation, ­Berlin Druck: Herforder Druckcenter Anzeigen: Redaktion ad hoc international c/o Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. Schillerstr.57, 10627 Berlin, Telefon +49 (0)30 31102298, Fax +49 (0)30 31016229 redaktion@stiftungskolleg.org Danksagung: Diese Publikation wurde von der Robert Bosch Stiftung GmbH gefördert.


Editorial

Liebe Leser, es gibt eine Neuerung bei ad hoc international: In dieser Ausgabe kooperiert das Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. – Ideengeber und bisher alleiniger Herausgeber der Zeitschrift – erstmalig mit dem CSP-Netzwerk für internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. Das CSP-Netzwerk ist das politisch unabhängige Alumni-Netzwerk des Carlo-SchmidProgramms für Praktika in internationalen Organisationen und EU-Institutionen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Studienstiftung des deutschen Volkes. Das Netzwerk des Stiftungskollegs dagegen vereint die Absolventen des ­Stiftungskollegs für internationale Aufgaben, einem Stipendienprogramm der Robert Bosch Stiftung und der Studienstiftung des deutschen Volkes in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt. Unsere beiden Organisationen verbinden junge Menschen mit Praxiserfahrung in der internationalen Politik und Zusammenarbeit, die nun ­gemeinsam ihr Wissen und ihr Know-how in ad hoc international weiter­geben, dieses Mal zum Thema „Arabische Welt“. Die arabische Welt – nur wenige Flugstunden von Europa entfernt und doch eine Welt, die vielen sehr fremd ist. Ob der palästinensisch-israelische Konflikt, die ­Anschlagsbilder aus dem Irak oder die Bedrohung durch Al-Qaida: Vieles, was wir tagtäglich in den Nachrichten sehen, prägt unser Bild von der arabischen Welt. Sie ist ein heterogenes Gebilde aus armen und reichen Staaten, kleinen und großen Ländern, zwischen Tradition und Moderne, mit ihren eigenen Problemen und Widersprüchen. Mit unserer neuen Ausgabe der ad hoc international wollen wir versuchen, ein wenig ­hinter die Kulissen des arabischen Kulturraums zu blicken: Mit Einblicken und ­Erfahrungen aktueller und ehemaliger Stipendiatinnen und Stipendiaten, die einen Teil ihres Projektjahres in ­arabischen Ländern verbracht haben und derer, die zurzeit dort tätig sind. So schauen wir auf die verschiedenen Facetten und aktuellen Entwicklungen dieser faszinierenden Region: Nach Ägypten, wo sich die Frage der Nachfolge von Präsident Mubarak stellt und die Unzufriedenheit der Bevölkerung immer mehr zunimmt. Wir sprechen die Rolle der Frauen im Libanon bei ihrer Suche nach Frieden an. Und ­wir lernen die Widrigkeiten eines künftigen Filmemachers kennen, der durch das Westjordanland und Israel reist. Dies sind nur einige unserer Themen, mit denen wir hoffen, zumindest einen kleinen Einblick in die Region geben zu können. Viel Spaß beim Lesen wünscht Ines Wolfslast

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Überblick

Araber – Orientale – Muslim. Annäherungen und Verfremdungen von Alexander Haridi und Daniel Maier Kein Kulturraum ist den Europäern so nah und gleichzeitig so fern wie die arabische Welt. Welchen geographischen Raum ­diese „arabische Welt“ einnimmt, läßt sich nur schwer definieren. Legen wir aber zwei Merkmale zugrunde, nämlich die ­arabische Amtssprache und die Mitgliedschaft in der Arabischen Liga, so erstreckt sich die Region von Marokko im Nordwesten Afrikas über Ägypten und die Levante bis zur arabischen Halbinsel und den Irak und bildet damit auch eine lange Linie von Nachbarn Europas südlich des Mittelmeeres. Das Wissen über die kulturelle, geographische und auch religiöse Vielfalt dieser Region ist in Europa kaum verbreitet. Dass Araber nicht nur Muslime, sondern auch Christen oder gar Juden sein können, erstaunt so manchen Europäer. Kaum bekannt ist, dass der ­europäische Kolonialismus die Staatenwerdung und die Grenzziehungen in der Region wesentlich bestimmt hat. Auch der zentrale politische Konflikt der Region in Palästina und ­Israel ist eine Folge euro­päischer Intervention. Während die Zahl der Europäer, die die arabische Welt aus eigener Anschauung kennen bzw. die ­arabische Sprache kennen, begrenzt ist, so beherrschen in der arabischen Welt nicht nur die Eliten, sondern breite Bevöl­kerungskreise Französisch und Englisch als Zweitsprache. ­Millionen Menschen arabischer Herkunft leben heute in ­Europa. Auch wenn die Kenntnis voneinander ungleich verteilt ist, die Vorurteile sind auf beiden Seiten massiv. Zu anderen Zeiten und unter anderen ideologischen Vorzeichen betonten die Europäer die Nähe zu der uns angrenzenden Region. Dafür gibt es zahlreiche historische Gründe. Der ­Hellenismus und die kulturelle Prägung durch monotheistische Religionen haben tief reichende Gemeinsamkeiten hinter­lassen. Die Verbin­ dungs­linien der beiderseits des Mittelmeeres lebenden Gesellschaften ziehen sich dicht durch die Geschichte bis in die aktuelle Gegenwart. Klassischer Fürsprecher der ­verbindenden Tradition

ist Goethe. Er reimte von Harmonie beflügelt: „Wer selbst und andere kennt,/wird auch hier er­kennen:/Orient und Okzident/ sind nicht mehr zu trennen.“ Der gleiche, wahrscheinlich ­romantisierende Geist, beseelte deutsche Kinderzimmer mit Kara ben Nemsi. Lawrence von Arabien und Richard Burton nahmen auch erwachsene Europäer mit auf faszinierende Reisen in den Orient. Der „Orienta­lismus“ projizierte in Malerei und Literatur europäische Wunschbilder auf unsere so fremden Nachbarn. Der romantisierende Blick auf die arabische Welt wurde vor dreißig Jahren vom amerikanisch-arabische Kulturkritiker Edward Said unterbrochen. Said brandmarkte das Konzept des Orients als die Gesamtheit der Ideen, die sich der Westen vom Osten gemacht hat. Was wir uns als empirisch belegte Erfahrung oder als harmlose ­Romantik gedacht hatten, stand nun im grellen Scheinwerferlicht einer postkolonialistischen Kritik: Alles nur konstruiert, und zwar vom Mächtigeren, konstatierte Said. Und nicht nur zum Zweck des gedanklichen Vagabundierens, sondern als ­Vorspiel zur kolonialen Eroberung! Neben „Araber“ und „Orientalen“ haben wir als ­dritten Begriff in unserem Arsenal den „Islam“. Dieser Begriff ist nicht neu im Repertoire, doch wurde er durch das Aufkommen eines „politischen Islam“, also durch seine ­Zuspitzung zum „Islamismus“, scharf aufgeladen. Beschreibt der Islam ein Glaubenssystem, ein Gesellschaftsideal oder auch eine gelebte Zivilisation, so macht der Islamismus sein Verständnis des Islam zu einer politischen Ideologie. Im ideo­logischen Kampf auf dem Wege zur Umsetzung dieser Utopie greifen bestimmte Gruppen innerhalb der Bewegung zu ­Gewalt bis hin zum Terrorismus, weshalb „Islam“ sich heute in vielen europäischen Ohren auf „Gewalt“ reimt. Zwar sind bei weitem nicht alle Araber Islamisten, und auch wohl die Mehrheit der Islamisten keine Araber, doch legt der medienaffine al-Qaida-Terrorismus diese Gleichsetzung nah. türkei

syrien tunesien f

libanon p

marokko

irak

israel/palästina  a algerien

iran

jordanien i  libyen

ägypten saudiarabien o ver. arabische emirate oman sudan jemen


Überblick

Legen wir die drei Schablonen arabische Welt, Orient und Islam übereinander, so liegen die Länder, aus denen unsere aktuellen Stipendiaten und Alumni berichten, klar im Deckungsbereich: Syrien, Ägypten, Libanon, Jemen, Israel/Palästina, Jordanien sind islamisch dominierte arabische Staaten im Orient. Das Stiftungskolleg der Bosch Stiftung und das Carlo-SchmidProgramm des DAAD haben der Region vom ersten Jahrgang an hohe Bedeutung zugemessen. Stipendiaten des Stiftungskollegs und des Carlo-Schmid-Programms, gehen in die arabisch-orientalisch-islamische Welt, um dort in einer entscheidenden biografischen Entwicklungsphase zu ­arbeiten und zu leben. Diese Er­fahrungen prägen ein Leben lang. Aus Stipendiaten werden Alumni und Alumnae, und nicht ­wenige dieser Ehemaligen arbeiten später in staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen. Damit wachsen Generationen von Mittler-Persönlichkeiten heran, die die Be­ziehungen zwischen den Gesellschaften und Staaten des Nordens und Südens mit­ gestalten. Hier entsteht Substanz für verbesserte Zusammenarbeit und engeren Austauschs. Ein Blick auf die Themenvielfalt und den Problemaufriss der Artikel dieses Heftes bestätigt die Erwartung. Die Autoren bedürfen bei ihren Erkundungen keiner verfremdenden Schablone: Sie greifen gesellschaftliche, politische, kulturelle und geschlechterspezifische Probleme auf. Ihre Beschreibungen und Analysen stützen sich auf eigene Wahrnehmung und ­benutzen Erklärungsansätze, mit denen wir auch auf die eigene Kultur blicken würden. Dies mag auf den ersten Blick banal erscheinen, ist aber in Wirklichkeit ein Kern­ thema des kulturellen Konfliktes: Dass ich den Anderen mit anderen Maßstäben als mich selbst bewerte, und ihn durch die Fest­legung auf sein Anderssein als Araber, Muslim oder Orientalen reduzierend verfremde. Die Beiträge in diesem Heft weisen dann auch auf politische und gesellschaftliche Probleme hin, denen wir ebenso in anderen Regionen dieser Welt – übrigens auch bei uns in Europa – begegnen könnten.

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Diese Herausforderungen werden in Fragen nach ­lokaler, ­staatlicher oder regionaler Identität deutlich. Sie knüpfen dabei an fundamentale Aspekte von gesellschaftlicher Teilhabe, Chancen persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklung oder der Legitimität des politischen Systems an sich an. Nicht zuletzt geht es auch, wie die Beiträge zur Mittelmeerunion oder des Einflusses der Vereinigten Staaten von Amerika in der Region aufzeigen, um den Umgang mit externen Einflüssen ­sowie die Einbindung in regionale und globale Strukturen. Die wechselseitige Abhängigkeit, die so typisch für das Zeitalter der Globalisierung und die Perspektive staatlicher Verant­ wortungsbereiche geworden ist, macht auch vor der arabischen Welt keinen Halt. Verlangt werden von den politischen ­Führern Lösungen, die oft eines Konsens auf Grund­lage gemeinsamer Visionen bedürfen. Dadurch bedingte ­gesellschaftliche Ver­ änderungen können unkal­kulierbare Konfliktpotenziale in sich bergen, wie der Beitrag zur ­sozialen Frage in Ägypten ver­ anschaulicht. Es richtet sich gerade deshalb auch der Blick auf Ressourcen, gesellschaftliche Verteilungskonflikte und kontroverse Visionen, die als Projektionsfläche einer idealen Gesellschaftsordnung dienen. Dass dabei Vergangenheit, gemeinsame Erfahrungen, Gründungsmythen und Legenden, jedoch auch politische ­Koalitionen, Solidarität und nationale Eigenwege zu den Bestimmungsfaktoren zählen, darf nicht verwundern. So mag zwar einerseits die Verbundenheit in der Umma islamiyya, der Einheit aller Muslime, als transnationaler Anker in der mehrheitlich muslimisch geprägten „arabischen Welt“ fungieren und das gescheiterte panarabische Vaterland damit ersetzen. Auf der anderen Seite hat die Gewalt im Irak gezeigt, wie ­fragmentiert diese „Einheit“ ist, und wie offensichtlich die ­Grenzen von Solidarität sind, wenn es um Machtverschiebungen, Einflussbereiche und damit einhergehenden persönlichen Status und Privilegien geht. Je nach persönlichem Standort werden den Lesern die in ­diesem Heft ­geschilderten Themen mehr oder weniger fremd erscheinen. In einer sich fortlaufend verdichtenden Welt ­werden sich Europa und die arabische Welt mit Sicherheit weiter annähern.

Alexander Haridi, Jhg. 1967, Islam- und Sozialwissenschaftler, beschäftigte

Daniel Maier, Jhg. 1977, studierte Politikwissenschaft in Leipzig, Paris und Berlin.

sich während des Kollegjahres 1996/97 mit der marokkanischen Menschen­

Nach dem Studium arbeitete er 2003/04 als Stipendiat des Carlo-Schmid-­

rechtsbewegung. Aus dem letzten Praktikum ergab sich der Jobeinstieg

Programms beim United Nations Office of Project Services zunächst in New York und

bei einer niederländischen NRO in Rabat. Zwischen 1999 und 2005 leitete

­anschliessend in ­Kabul, u. a. in der Vorbereitung der Wahlen 2004 und 2005 sowie

er das DAAD-Büro in Kairo. Heute arbeitet er in der DAAD-Zentrale in

im Aufbau l­ ändlicher ­Infrastruktur. Seit Herbst 2007 ist er als Junior Professional

Bonn im internationalen Hochschulmarketing.

Officer ( JPO) im Büro für Krisen­prävention und Wiederaufbau des Entwicklungs­ programms der Vereinten Nationen (UNDP-BCPR) im Bereich Katastrophen­ vorsorge tätig.


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Interview

„Deutschland könnte im Nahen und Mittleren Osten ruhig aktiver werden“ Layla Al-Zubaidi wurde 1973 in Deutschland geboren. Ihre Eltern stammen aus Syrien und dem Irak. Seit 2006 leitet sie das Büro Mittlerer Osten der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, Libanon. Zuvor war sie Programm Managerin der Böll-Stiftung in Beirut und ­Ramallah. Schwerpunktmäßig arbeitet sie zu den Themen Globalisierung sowie Medien und Kultur im Mittleren Osten. 2001/02 war sie Stipendiatin des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben. ad hoc: In wie weit ist es sinnvoll, von der „arabischen Welt“ zu sprechen? Al-Zubaidi: Dies ist eine ebenso streitbare wie politische Frage: Gibt es so etwas wie eine arabische Identität? Sehen sich Länder wie Marokko und Algerien mit ihren hohen ­berberischen Bevölkerungsanteilen als zugehörig zur arabischen Welt? Inwieweit zählen sich Minderheiten wie die Kurden dazu? Möchte man jedoch einen praktikablen Begriff und ­gemeinsamen Nenner finden, ist es meiner Ansicht nach ­durchaus sinnvoll, von der „arabischen Welt“ zu sprechen. ­Sowohl die arabische Sprache als auch der Islam stiften ­Identität und prägen die arabischen Kulturen und Gesellschaften in all ihrer Diversität nachhaltig. ad hoc: Sie nannten den Islam als identitätsstiftenden Faktor der Region. Hat sich die Bedeutung der Religion in den letzten ­Jahrzehnten verändert? Al-Zubaidi: Der Islam ist nach wie vor von großer ­Bedeutung für die Region. Dabei hat sich seine Rolle verändert und aus­ differenziert: Er prägt sowohl politische Parteien wie „Hamas“ und „Hisbollah“, islamische Feministinnen, Terrorgruppen wie „Al-Qaida“, islamische Mystiker (sogenannte Sufis) oder ­islamische Charity-Vereine, wird aber in diesen Gruppen völlig unterschiedlich interpretiert. „Der Islam“ ist also kein mono­ lithischer Block. Wenn man aber einen Trend feststellen möchte, so zeigt sich, dass die „revolutionäre“ Phase des Islamismus, deren wichtiger Meilenstein die islamische Revolution im Iran war, einer ­Integration des Islam in den Alltag gewichen ist. Zudem haben

islamische und islamistische Parteien Wahlen gewonnen, wie das Beispiel Palästina zeigt. Mangels attraktiver, säkular orientierter Alternativen wird man mit dieser Herausforderung weiterhin rechnen müssen.

„Sowohl die arabische Sprache als auch der Islam stiften Identität … “ ad hoc: Was sind, aus Ihrer Perspektive, die drängenden­ Probleme der Region? Al-Zubaidi: Zum einen blockieren der israelisch-­ arabische Konflikt, die Situation im Irak und andere ungelöste Konflikte ein politisches Weiterkommen. Zum anderen hemmt der weitgehend ungebrochene Autoritarismus die menschliche Entwicklung: In kaum einem arabischen Land begreifen sich die Menschen als mit gleichen Rechten und Pflichten aus­ gestattete Staatsbürger. Wenn aber das nation-building ­scheitert, wird wieder auf ethno-konfessionelle oder Stammes­ identitäten zurückgegriffen. Der Irak und der Libanon sind Beispiele hierfür. Auch die steigenden Einkommensunter­ schiede, Arbeitslosigkeit und Verarmung großer Bevölkerungs­ teile sind bedrohlich, zumal kaum soziale Sicherheitssysteme existieren. Ein selten genannter, aber drängender Problem­ komplex, ist die Umweltverschmutzung: Viele Menschen in der arabischen Welt hängen von der Landwirtschaft und natürlichen Ressourcen ab. Die fortschreitende Umwelt­ verschmutzung und der Klimawandel bringen daher neue ­Herausforderungen.


Interview

ad hoc: Finden Sie vor diesem Hintergrund, dass die „arabische Welt“ in der europäischen Öffentlichkeit realistisch dargestellt wird? Al-Zubaidi: Ja und nein. Die arabische Welt wird in der europäischen Öffentlichkeit meist stereotyp anhand der Stichworte Konflikt, religiöser Fanatismus und Frauen­ diskriminierung wahrgenommen. Richtig ist, dass diese ­Phänomene in der Realität tatsächlich eine Rolle spielen. Wenn aber Konflikte auf Terrorismus reduziert, religiöser Fanatismus verallgemeinert oder Frauen immer nur als hilflose Opfer ­dar­gestellt werden, verzerrt dies die Realität. Leider sind solche Bilder in den deutschen Medien allgegenwärtig. Das Alltagsleben, die Diversität der arabischen Welt und die ­Menschlichkeit ihrer Bewohner, gehen dabei oft unter. ad hoc: Und wie sieht es umgekehrt mit den Vorstellungen der Araber von Europa aus? Al-Zubaidi: Auch anders herum gibt es natürlich viele ­Vorurteile und Verallgemeinerungen. Dazu gehört, dass in ­Europa alles einfach sei, man leicht zu Wohlstand kommen könne und totale sexuelle Freiheit bestünde. Allerdings muss man sagen, dass die gegenseitigen Erfahrungen ungleich ­gewichtet sind. Viele Araber haben in Europa gearbeitet oder studiert oder haben Angehörige in Europa. Dadurch wissen sie oft mehr über Europa als Europäer über die arabische Welt. Auch die Sprache spielt natürlich eine Rolle. Viele Araber ­sprechen eine europäische Sprache und haben dadurch Zugang zu europäischen Medien. Dies ist für Europäer natürlich viel schwieriger und meines Erachtens besteht oft auch weniger ­Interesse am Tagesgeschehen in der arabischen Welt. ad hoc: Gibt es etwas, dass Sie der Bundeskanzlerin in Bezug auf Deutschlands Nah- und Mittelostpolitik sagen würden, wenn Sie dazu Gelegenheit hätten? Al-Zubaidi: Ich würde ihr sagen, dass Deutschland in seiner Politik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten ruhig aktiver werden könnte. Denn Deutschland gehört nicht zu den ehemaligen Kolonialmächten in der arabischen Welt und hat daher hervorragende Voraussetzungen, als Vermittler zu dienen, auch als Gegenpol zur aggressiven US-amerika­ nischen Politik. Um Vertrauen zu gewinnen, müsste jedoch klarer Stellung bezogen werden, aber nicht nur für eine Seite. Sich öffentlich zu freuen, mit den deutschen UNIFIL-Soldaten im Südlibanon zum „Schutz Israels“ beitragen zu dürfen, ist ­dabei nicht gerade hilfreich. Auch Initiativen wie die von

I­ nnenminister Schäuble, der vorschlug, nur christlich-irakische Flüchtlinge aufzunehmen, da diese besonders verfolgt und in Deutschland besser anpassungsfähig seien, tragen nicht gerade zur Wahrnehmung als unparteiische Vermittler bei. Das schürt nur Ressentiments auf muslimisch-arabischer Seite. Vielmehr sollten sie die Anliegen und Bedenken der arabischen Seite ernst nehmen und diese nicht lediglich als „Sicherheitsrisiko“ auffassen. Auf diese Weise könnten arabische und regionale Initiativen zur Konfliktlösung unterstützt werden. Demgegenüber richtet die Einmischung außen stehender ­Akteure oft Schaden an, wie das Beispiel des Libanonkonflikts zeigt. Schließlich hilft auch eine politische Doppelmoral nicht weiter. Wenn Menschen sich dominiert und bevormundet ­fühlen, sind konstruktive Selbstkritik und ein sinnvoller Dialog nur schwer möglich. Dies gilt es aus meiner Sicht, in Bezug auf die Nah- und Mittelostpolitik im Hinterkopf zu behalten.

„Die arabische Welt wird in der europäischen Öffentlichkeit meist stereotyp anhand der Stichworte Konflikt, religiöser Fanatismus und Frauendiskriminierung wahrgenommen.“ ad hoc: Berichten Sie uns bitte zum Abschluss über Ihr eigenes Engagement in der Region. Al-Zubaidi: Seit 2006 leite ich das Büro der Heinrich-­ Böll-Stiftung in Beirut. Unsere Arbeit konzentriert sich auf die Förderung von regionalen Demokratisierungsprozessen und versucht, den in der arabischen Welt oft diskreditierten Begriff „Demokratie“ positiv mit Sinn und Leben zu füllen. Ein ­weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Analyse der ­Konflikte der Region. Unser Ziel ist es, durch ein besseres ­Verständnis der hohen Komplexität, konstruktiv zu Lösungen beizutragen. Auch arbeiten wir zum Thema Klimawandel, ­indem wir beispielweise ein arabisches Netzwerk aufbauen. Das Thema wird in Bezug auf die Region oft vergessen, ist aber ­aufgrund der regionalen Wasserarmut von großer Brisanz. Schließlich fördert die Heinrich-Böll-Stiftung den inter­ kulturellen Dialog durch Übersetzungsprojekte, Austausch­ programme und die Organisation von Veranstaltungen, die sich mit kulturellen oder sozio-politischen Themen beschäftigen. Das Interview führte Susan Javad.

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Filmen im Westjordanland

Filmen im Westjordanland: Eindrücke eines Newcomers von Daniel Koss Bei den Vorarbeiten für einen Dokumentarfilm erlebe ich den Nahostkonflikt zum ersten Mal in eigener Anschauung. In ­Palästina einen innovativen und zugleich ethisch verantwortungsvollen Dokumentarfilm zu drehen ist schwierig. Hauptproblem ist nicht das Passieren der Checkpoints, sondern die Tatsache, dass unsere Intentionen oft entgegengesetzt sind zu dem, was die beiden Parteien uns ganz bewusst zeigen wollen. „Und wie lautet der Vorname Ihres Großvaters?“ Passkontrolle am Ben Gurion Flughafen Tel Aviv. Die Beamtin gleicht den Namen meines Großvaters Franz Koss mit Hilfe ihres Computers ab und genehmigt dann die Einreise. In jenem Augenblick wird mir schlagartig bewusst, dass ein Besucher sich nur schwer den schmerzhaften Komplikationen Israels entziehen kann. Sowohl die Wucht der Geschichte, als auch der Schrecken der Tagesaktualität machen dem neugierigen Besucher zu schaffen, ja verstricken ihn geradezu in den Konflikt. Das Westjordanland ist nichts für Flaneure, die aus sicherem Abstand beobachten möchten, ohne dabei selbst beobachtet zu werden. Ich bin mit meiner Frau nach Israel gekommen, um Möglichkeiten für einen Dokumentarfilm auszuloten. Auf den Fernsehmonitoren der Welt ist Palästina wahrlich keine Terra incognita, ganz neu ist für das Publikum nichts mehr. Umgekehrt sind ­Palästinenser Kameras gewöhnt, und zwar als Machtinstrument. Allein in der Jerusalemer Altstadt verfolgen 4 000 Überwachungskameras das Leben der Menschen. Das Projekt Shooting Back hat im Westjordanland 100 Kameras verteilt, um Menschen­ rechtsverletzungen zu dokumentieren. Während wir Dorfbewohnern in Afrika die Idee eines Dokumentarfilms in unserem Sinne behutsam nahebringen konnten, sind Palästinenser an Kameras gewöhnt und verstehen die Macht der Bilder. Entsprechend schwierig ist es, spontane und unbefangene Antworten zu hören. In Palästina reden vor der Kamera selbst einfache Bauern oft so, dass es steif und unnatürlich wirkt, wie eine Presseerklärung.

Eine Freundin hatte uns empfohlen, in Yanun zu filmen, einem winzigen Dorf bei Nablus. Die Lokalisierung dieses Dorfes ist ein Lehrstück palästinensischer Geographie. Auf Google Map ist Israel als weiße Fläche verzeichnet. Ähnlich sind die für uns relevanten palästinensisch verwalteten Gebiete („A-Gebiete“) auf israelischen Karten nur Grauzonen; denn Israelis ist per Knesset-Beschluss der Zugang verboten. Als nützlich erweist sich die Karte des Büros für die Koordination humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen. Dort erscheint Yanun als ein Fleckchen Erde auf allen Seiten umringt von israelischen Siedlungen. Die stets hilfreichen Experten vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes haben deshalb Zweifel, ob wir dort überhaupt hinkommen. Letztlich sind es die palästinensischen Busfahrer, die zuverlässig Bescheid wissen. In deren Vorstellung besteht Palästina aus einem Checkpoint-System, dem paläs­ti­ nensische Busverbindungen optimal angepasst sind. Egal­ welche Hindernisse die Reise theoretisch unmöglich machen, Busfahrer haben meist immer irgendeine verlässliche Route ­parat. Auf deren Rat begeben wir uns frühmorgens an den für heftige Spannungen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern berüchtigten, großen Checkpoint Huwwara, wo wir zu dieser Uhrzeit ohne Warten durchkommen. Auf Schleichwegen bringt uns ein Taxi das letzte Stück bis Yanun. Yanun ist geradezu eine Karikatur Palästinas. Bedrohlich näher rückende Siedlungen und der regelmäßige Besuch von schwer bewaffneten Siedlern am Sabbat schüchtern das Dorf ein. Es bleibt kaum noch Weidefläche für die arg geschrumpften Schafherden. Der Vertreibung entgehen die verbliebenen Dorfbewohner dank der ständigen Präsenz einer internationalen NGO und umfangreicher Hilfsleistungen. So treffen an unserem ersten Tag im Dorf morgens eine EU-finanzierte mobile Krankenstation ein, wenig später ein Team von Ärzte ohne Grenzen und nachmittags eine umfangreiche US-Nahrungsmittellieferung. Der Dorfchef begrüßt uns höflich, aber so ­routiniert, dass es uns nicht überrascht, als er ein seit 2002 geführtes Gästebuch herausholt, in das wir uns als Besucher Nr. 780 und Nr. 781 eintragen. Dem Dorf sind seine Freiheit, sein Wirtschaftspotenzial und sein Stolz abhanden gekommen;


Filmen im Westjordanland

Waffen in den Händen palästinensischer „Märtyrer“, i  israelischer Soldaten und eines Kindes in Nablus.

internationale Hilfe ist ein schlechter Ersatz für ein funktionierendes Dorfleben, ja im Grunde genommen ist sie selbst ein Fremdkörper im Dorf. Wir sind nicht die ersten Filmemacher, die das Dorf entdecken. Die Antworten auf unsere Fragen sind daher oft formelhaft, repetitiv. Die eingespielten Automatismen zu überwinden, würde Zeit kosten und ein hohes arabisches Sprachniveau. Im nahe gelegenen Nablus haben wir noch ein anderes Filmthema entdeckt. Schon beim ersten Spaziergang durch die Stadt fallen uns Plakate von palästinensischen „Märtyrern“ auf: ­Junge Männer mit martialischen Spitznamen, Kalaschnikow in der Faust. Passanten erzählen uns gerne die Lebensläufe der „Märtyrer“, führen uns Waisenkinder vor und berichten von der Versorgung für die Angehörigen. Man diskutiert vor der Kamera die Rechtfertigung für den bewaffneten Kampf. Ein palästinensischer Polizist beschreibt, wie seine Kollegen den nächtlichen Razzien des israelischen Militärs aus dem Weg gehen und in diesen Augen­ blicken insgeheim Bewunderung für die aufrechten „Märtyrer“ entwickeln. Viele sehen die Kämpfer als einziges Bollwerk ­gegen die aggressiven Siedler. Um aus Palästina nach Israel zu gelangen, sind kommunikative Barrieren weitaus heikler als die Checkpoints. Es kostet extrem viel Energie, sich mental auf beide Parteien einzulassen. Oft wittern gastfreundliche Araber Verrat, weil wir im jüdischen Talpiot wohnen; und ebenso gastfreundliche Israelis zeigen Unverständnis, dass wir in Nablus unterwegs sind. Begeben wir uns also einen Moment auf israelische Seite! In intensiven Tisch­gesprächen kommt eine kühle Staatsräson zum Vorschein, die sich analytisch gut nachvollziehen lässt. Der Sicherheits­ apparat des Staates Israel ist darauf gerichtet, drei im Grunde

unvereinbare Ziele zu schützen: den demokratischen Rechtsstaat, die jüdische Identität dieses Staates sowie territoriale Kontrolle vom Mittelmeer bis zum Jordan. Dabei ist offensichtlich, dass auf diesem Gebiet schon heute nur noch eine hauchdünne jüdische Mehrheit lebt. Dennoch können auch ­laizistische Juden nicht einfach das Westjordanland aufgeben, denn damit würde die einflussreiche Siedlerbewegung verprellt. Wie das Shoa-Museum Yad Vashem in Erinnerung ruft, geht es hier um die schiere Existenz. Bei Unterhaltungen mit Siedlern, die 2005 den Gazastreifen verlassen mussten, habe ich gehört, wie dieses rationale Argument ins Emotionale übersteigert wird. Deren Geschichte und aktuelle Lebenssituation ist sehr filmtauglich und zeigt die Komplexität des Problems. Doch werden die Siedler sich betrogen fühlen, wenn das Endprodukt ihnen am Ende keine unbedingte Sympathie entgegen bringt. Heute haben wir unsere Probeaufnahmen gesichtet. Ermutigend für Filmemacher im Nahen Osten ist die Fülle attraktiver ­Themen, ansprechender Bilder und redseliger Leute. Ausgesprochen schwierig dagegen ist es, seinen eigenen politischen Standpunkt zu definieren – ein unpolitischer Film ist in der gegenwärtigen Situation schlicht utopisch. Entweder der Film bildet das Selbstverständnis einer bestimmten Gruppierung ab; dann ­würde er Klischees bedienen und an Propaganda grenzen. Oder der Film erkundet verschiedene Konfliktparteien, ohne die entstehenden Widersprüche aufzulösen oder zu kommentieren. Dann wird man dem Filmemacher allerdings vorwerfen, dass er sich seine Bilder erschlichen hat, denn er verwendet sie ja ganz anders als die kooperativen Protagonisten des Films das eigentlich erwartet haben. Im Nahen Osten kann kein Filmemacher ethisch komplexen Fragen des allgegenwärtigen Konflikts aus dem Wege gehen. Daniel Koss, Jhg. 1979, bearbeitete als Boschstipendiat 2002/03 ein Projekt zum c­ hinesischen Finanzsystem. Dann entsandte ihn das Auswärtige Amt als Ersten Sekretär nach Kamerun. Nach einer Tätigkeit an der VN-Vertretung New York ging er nach Harvard, wo er sich auf den Nahen Osten vorbereitet.

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Sudan – Krieg und Frieden

Sudan – Krieg und Frieden an den Grenzen der arabischen Welt von Valeska Onken und Christian Resch Christan Resch. Khartum, Nordsudan. Donnerstagnachmittag. Der Weg von der Botschaft nach Hause führt mich an der großen Moschee im Stadtteil Riyadh vorbei. Protzige Geländewagen der neuen Ölelite reihen sich an uralte Mercedes-Limousinen. Dazwischen tummeln sich die Gläubigen. Sie tragen wehende Dschallabijahs, die weiten, weißen Überwürfe samt Turban. Sie möchten sich beim Gebet auf das Wochenende vorbereiten. Eine klare arabisch-islamische Gesellschaft, wären da nicht die vielen internen Vertriebenen aus dem Süden und Darfur im Osten, die noch immer in Hüttenansiedlungen um die Stadt herum wohnen. Bei mir zu Hause erwartet mich mein Wächter vom Stamme der Kuku. Er ist Sudanesischer Christ aus Kajo Keji, das nahe der Grenze zu Uganda liegt. Von hier bis in ­seinen Heimatort sind es knapp 1000 km. Valeska Onken. Juba, Südsudan. Freitagmorgen. Ich stehe mit meinem Landcruiser in einer Reihe weißer ­Geländewagen von Hilfsorganisationen. Vor mir führt eine adrett gekleidete Polizistin Kinder in Schuluniform über die Straße – Normalität im Chaos. Ein paar jugendliche Motorradfahrer sausen wie unter Drogeneinfluss an mir vorbei, lässig mit Wollmütze und Sonnenbrille. Juba ist keine arabische Stadt, sondern eher ein Zwischending aus Goldgräberstadt und ­afrikanischem Dorf. Abends wird am Nil ein Bier getrunken und sonntags geht ein Großteil der Bevölkerung in die Kirche. Meine Fahrt zur Arbeit führt mich an einem Viehmarkt vorbei, auf Staubstraßen die von Tukuls, den typischen runden Lehmhütten, genauso gesäumt wird wie von neu renovierten Hotels und Regierungsgebäuden. Im Gegensatz zu den ­Nordsudanesen sind die meisten Südsudanesen nilotischer ­Abstammung, mit tiefschwarzer Hautfarbe, hoch gewachsen und tragen die traditionellen Narbenzeichnungen im Gesicht. Trotz des Juba-Arabisch, das noch aus Besatzungszeiten stammt, reicht der arabische Einfluss nicht weiter als bis zu den Stadttoren Jubas.

Eine gängige These besagt, dass sich die arabisch-muslimische Welt in einem konstanten Abwehrkampf gegen den Einfluss der westlich-christlichen Welt sieht. Tatsächlich verlaufen die Grenzen der islamisch-arabischen Welt quer durch den Sudan. Die stark wahrnehmbaren religiösen und ethnischen Unterschiede zwischen Norden und Süden wurden schon von je her als Grund des Konfliktes zwischen den beiden Landesteilen des Sudan herangezogen. Es bleibt allerdings die Frage, wo ­genau die Grenzen der arabisch-muslimischen Welt verlaufen. Müssen sie überhaupt eindeutig gezogen werden? Kann nicht vielmehr eine faktische Grauzone zwischen den Kulturen und Welten politisch und staatsrechtlich so organisiert werden, dass ein friedlicher Rahmen für Entwicklung und persönliche ­Entfaltung der Bevölkerung gegeben ist? Genau dieser Versuch läuft seit 2005 im Sudan. Im Jahr 2005 wurde mit dem „Umfassenden Friedensab­kommen“ (Comprehensive Peace Agreement – CPA) der 22 Jahre dauernde Bürgerkrieg im größten Land Afrikas beendet. Die Grund­ pfeiler dieses Abkommens sind erstens die Schaffung einer ­semi-autonomen Südregierung in Juba sowie die Vertretung des Südens in allen nationalen Institutionen in Khartum, ­zweitens die Aufteilung der Öl-Einnahmen zwischen Süden und nationaler Regierung und drittens die Religionsfreiheit und das Ersetzen der Schari’a durch eine säkulare Rechts­ ordnung im Süden. Der Vizepräsident des Sudan, Salva Kiir Mayardit, ist gleichzeitig Präsident der Südregierung. Weiterhin sieht die CPA Wahlen im Jahr 2009 auf allen Ebenen, ­einschließlich der Präsidentschaft, vor. Schließlich ermöglicht sie die Selbstbestimmung der Bevölkerung von Südsudan in einem Referendum über Verbleib im Gesamtstaat oder ­Sezession im Jahr 2011. Stadtansicht aus Damazin, arabische Stadt im Norden Sudans. d  Ziegen suchen unter einem Tukul s  Schutz vor dem Regen in Juba.


Sudan – Krieg und Frieden

Die auf dieser Grundlage gestaltete Übergangsverfassung stellt den Versuch dar, die „Grauzone zwischen den Kulturen und Welten“ zu organisieren. Die Vision des „Neuen Sudan“, eines demokratischen und säkularen Gesamtstaates, die der 2005 ums Leben gekommene Anführer der Südrebellen SPLM, John Garang, entwickelte hatte, könnte so Wirklichkeit werden. Er sah das Ziel des Bürgerkrieges nicht in der Abspaltung des ­Südens, sondern warb vielmehr für die Vielfalt in der Einheit. Denn nach seiner zutreffenden Analyse wurden über Jahrzehnte die verschiedenen Peripherien des Landes zugunsten ­einer kleinen Elite vernachlässigt oder gar ausgebeutet. Eine Abspaltung des Südens würde deswegen die Probleme Darfurs (im Westen), der Nuba-Berge und des südlichen Blauen Nils (nördlich der Grenzlinie zum Süden) und des Beja-Stammes (im Osten Sudans) nicht lösen. All diese marginalisierten ­Gebiete und Bevölkerungsgruppen sind Teil der Grauzone ­zwischen arabischer Welt und Afrika. Am ehesten könnten ihre Belange in einem säkularen und demokratischen Gesamtstaat, wie er im CPA und der Übergangsverfassung vorgesehen ist, gelöst werden. Die vollständige Umsetzung des CPA bis zum Referendum 2011 könnte eine neue und wiederum will­kürliche Grenzziehung vermeiden. Sudan könnte ein Modell dafür ­werden, wie Übergänge in Kulturen organisiert werden. Das Land würde eine Brückenfunktion wahrnehmen, statt auf einer Konfrontationslinie zu liegen. Würde auch die arabische Elite, die auf Seiten der Partei des Präsidenten Baschir das Sagen hat, sich auf diese Umgestaltung des Landes einlassen, könnte sich ihr Selbstbild wandeln – von Abwehrkämpfern zu Vermittlern. Das Misstrauen zwischen Norden und Süden, das durch den jahrzehntelangen Krieg, die genozidären Verbrechen an der Bevölkerung im Darfur und die schleppende Umsetzung des CPA geschürt wird, sitzt jedoch sehr tief. Kommt es tatsächlich zu einem Referendum, ist eine Abspaltung das wahrscheinlichste Szenario. Es fehlt an Führungspersönlichkeiten, die die Vision des „Neuen Sudan“ ähnlich glaubwürdig und ­überzeugend verkörpern wie Garang – bei aller persönlichen Schuld, die er während des Krieges auf sich geladen hat. Die Grenzen der arabischen Welt werden sich also verschieben, durch Abspaltung oder, bei Scheitern des CPA, durch erneuten Krieg. Es bleibt zu befürchten, dass wir ab 2011 wieder über ­einen Abwehrkampf an den Grenzen der arabischen Welt im Sudan berichten müssen.

a. Südsudanesischer ­Viehbesitzer im ländlichen Gebiet an der Grenze zu Uganda. pSonnenuntergang in Khartum

Nil

Khartum Darfur

sudan

Juba

Valeska Onken, Jhg. 1979, hat in Potsdam Ver­waltungswissenschaften und in Oxford Flüchtlings­studien studiert. Während ihres Kollegjahres 2005/06 ­arbeitete sie für UNDP unter anderem in Südsudan an dem Thema „Rückkehr von Flücht­lingen und Wiederaufbau in Post-Konflikt ­Ländern“. Von Januar 2007 bis Mai 2008 leitete sie das Reintegrationsprogramm der GTZ in Juba. Ab November 2008 wird sie als Junior Professional Officer (JPO) für die International Organization for Migration in Nairobi/Kenia ­arbeiten.

Christian Resch, Jhg. 1976, ist Politikwissenschaftler und hat sich während seines Kollegjahres 2001/02 mit dem Thema Freihandel, Patente und ­Zugang zu Medikamenten beschäftigt. Seit Juni 2007 arbeitet er an der deutschen Botschaft Khartum. Sein Hauptaufgabengebiet ist die Kontaktpflege zur halbautonomen Regierung Südsudans in Juba sowie der Aufbau einer Außenstelle der Botschaft dort.

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Frauen im Libanon

Frauen können Frieden schaffen Essay über den Einsatz einer Libanesin für Frieden und Frauenrechte in einem zerstrittenen Land von Tina Nebe „Ich bin keine Araberin, ich bin Phönizierin“ sagte Mona im Frühling 2006 zu mir. Mona ist eine fiktive Person, die meine Gespräche mit Frauen im Libanon wider­ spiegelt. Als libanesische Christin steht sie vor allem dem Abendland nahe, verbindet mehr mit griechischer Philosophie und Techno-Musik als mit Bauchtanz und den Säulen des Islam. Neben perfektem Englisch und Französisch spricht Mona aber ­natürlich auch libanesisches Arabisch. Sie betet in ihrer Maronitischen Kirche zu ­Allah; ein Bild des römischen Papstes mit arabischer Inschrift liegt in ihrem Gesangbuch. Während des libanesischen Bürgerkrieges (1975–1990) aufgewachsen, hatte Mona, die gebildete Großstädterin, erstaunlich festgefahrene Vorurteile: Den Muslimen kann man nicht vertrauen; die Palästinenser sind an allem Schuld, was im Libanon in den letzten Jahrzehnten schief gegangen ist; Israel ist die illegitime Ausgeburt einer Verschwörung. Schätzungen zufolge sind 60 % der Bevölkerung im Libanon Muslime, davon 35 % Schiiten und 20 % Sunniten. Etwa 400 000 palästinensische Flüchtlinge leben seit über 60 Jahren im Libanon. Die Palästinensische Befreiungsorganisation kontrollierte den Südlibanon in den 1970 er Jahren, um von dort aus Israel zu ­bekämpfen, und spielte eine umstrittene Rolle im libanesischen Bürgerkrieg. Das Existenz­recht Israels wird vom Libanon nicht anerkannt, Israel war von 1982 bis 2000 Besatzungsmacht im Südlibanon. Umso erstaunlicher ist der Effekt, den Israels Krieg gegen die Hizbollah im Sommer 2006 auf Mona hatte: Nach 34 Tagen Krieg fand sie sich in einem Land wieder, das um 1200 Tote weinte, in dem fast eine Million Flüchtlinge auf baldige Heimkehr in ihre Dörfer hofften, dessen Küste mit 15 000 Tonnen Öl verpestet war, in dem ein Gebiet von 37 000 000 Quadratmetern mit Streubomben verseucht war und dessen Wirtschaft einen Schaden von 2,8 Milliarden Dollar davongetragen hatte. Als sich dann auch noch Monas Brüder und Cousins in verfeindete politische Lager aufspalteten – die einen stehen hinter der mehrheitlich sunnitischen, anti-syrischen und pro-westlichen Regierungspartei, die anderen hinter der mehrheitlich schiitischen, Hizbollah-nahen und pro-syrischen Opposition, zu der auch radikale christliche Politiker gehören – hatte Mona genug: „Wir müssen miteinander reden, zusammen arbeiten. Wir sind doch alle Libanesen!“ Sie entschied sich dagegen, wie viele ihrer Bekannten aus Resignation und Furcht vor einem neuen Bürger­krieg das Land zu verlassen und schloss sich stattdessen der Gruppe KAFA, „Genug“, an. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen, die einen Großteil der 18 im Libanon offiziell an­ erkannten Religionsgruppen repräsentieren, engagiert sich Mona in der Frauen-Kampagne „Sag nein zum Bürgerkrieg“. Am 13. April, dem Jahrestag des Ausbruchs des libane­ sischen Bürgerkrieges, half Mona, tausende Flugblätter über Beirut abzuwerfen. Flyer vom Projekt „Sag nein zum Bürgerkrieg“  p


Frauen im Libanon

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Ich frage sie, warum hauptsächlich Frauen auf ihrem Flugblatt dargestellt sind. Mona erklärt: „Oft sind Frauen von Krieg ganz besonders betroffen. Die meisten Toten und Vertriebenen sind Frauen und dazu kommt noch der Anstieg von sexueller Gewalt. Aber das ist bei uns selbstverständlich Tabu. Wir Frauen – egal welcher Konfession – können hier im Libanon nicht einmal unsere Staatsangehörigkeit an unsere Kinder weitergeben, von uns spricht keiner. Dabei könnten wir doch wirklich etwas bewegen. Wenn wir der nächsten Generation nicht etwas Besseres beibringen, bricht hier ein Bürgerkrieg nach dem anderen aus.“ Verwundert und bedrückt lese ich nach. Tatsächlich flammen weltweit zwei Drittel aller Bürgerkriege nach einiger Zeit wieder auf. In Krisensituationen sind Frauen oft die letzten, die in der Familie essen und trinken, wenn Lebensmittel knapp werden. Einige Frauen sind gezwungen, ihre Körper für Geld, Essen, Schutz, Unterkunft oder andere Notwendigkeiten zu verkaufen, andere werden vergewaltigt. Wo Geschlechter­ rollen nicht zulassen, dass auch Männer Schwäche zeigen und Hilfe in Anspruch nehmen, steigt in Krisensituationen zudem die häusliche Gewalt rapide an. Angst vor Stigma und Schädigung der Familienehre lassen es Frauen oft nicht zu, Übergriffe öffentlich anzuprangern. Kurzum: Frauen sind in den meisten Fällen an den Kampfhandlungen der „Kriegsherren“ unbeteiligt, müssen jedoch in besonderer Weise darunter leiden. Doch Mona wittert in der Nachkriegsphase eine besondere Chance: „Wenn alles kaputt ist, muss man neu anfangen. Da kann man einiges besser machen. Deshalb arbeiten wir jetzt im Südlibanon mit Schiitinnen und Christinnen, die alles verloren haben. Wir unterstützen sie dabei, neue Rollen zu übernehmen und sich stärker gesellschaftlich einzubringen. Ausserdem setzen wir uns mit neuem Elan für eine Reform des Familien­ rechts ein, um Frauen gleiche Rechte bei Erbschaft, Scheidung und Kindererziehung zu geben.“ Ich weiss, wovon sie spricht. Diese Angelegenheit wird seit Jahrzehnten von diversen Akteuren wie Frauenrechtlerinnen, Nichtregierungsorganisationen, den Vereinten Nationen, usw. erfolglos betrieben. Die Reform wird im Libanon durch das kon­ fessionelle politische System verkompliziert, aber auch in anderen Ländern der Region mit religiös geprägtem Familienrecht gibt es nur minimale Erfolge zu verzeichnen. Monas Arbeit im Südlibanon jedoch klingt vielversprechend. Von meinen Recherchen weiß ich, dass positive Veränderungen, von denen die ehemals verfeindeten Gruppen gemeinsam profitieren („Friedensdividenden“), wichtige Werkzeuge der Friedens­ konsolidierung sind. Ich frage also nach, was genau sie im Süden macht. Mona berichtet von ihrer Arbeit im Projekt WE PASS in vom Krieg betroffenen Dörfern; dort, wo die Nothilfe der regierungsnahen Hariri-Familie und der Hizbollah in bester feudaler Tradition bereits neue Gräben zwischen Regierungs- und Oppositionsanhängern ­aufbaut. Durch WE PASS (Women Empowerment: Peaceful Action for Security and Stability) nehmen jetzt religions- und fraktionsübergreifende Frauenkomitees an ­Entscheidungsprozessen teil: Wo und wie wird die Schule wieder aufgebaut? Wie kann denjenigen Familien geholfen werden, deren Olivenhaine wegen Streubomben nicht beerntet werden können? Die Frauenkomitees werden mit internationalen ­Geldern unterstützt und achten vor allem auf die kleinen Dinge, die so wichtig sind für die Teilhabe der Frauen: Eine Kinderbetreuung ist organisiert, während die ­Mütter ihre Arbeit im Komitee in einem Theatersketch reflektieren. Schulkinder werden zum ersten Mal vom Vater von der Schule abgeholt. „Bei uns Arabern dauert zwar alles ­etwas länger“, sagt Mona, „aber steter Tropfen höhlt den Stein! Wir Frauen werden den Libanon verändern, dieses Projekt ist nur der Anfang!“ – Einen Moment bitte, bei uns Arabern, Mona?

Tina Nebe, Jhg. 1977, promovierte Sozialwissenschaftlerin, ist beim Be­völkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) im Bereich ­Gender, Migration und ­Menschenrechte tätig. Während ihres Kollegjahres 2005/06 beschäftigte sie sich mit der Rolle arabischer Frauen in der Friedens­konsolidierung und musste aufgrund des Krieges zwischen Israel und der ­Hizbollah im Sommer 2006 aus dem Libanon evakuiert werden. Die Projekte „Sag nein zum Bürgerkrieg“ und WE PASS ­bestehen tatsächlich und werden unter anderem von UNFPA gefördert.


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Aktueller Stipendiat

Syrien – ein Land am Scheideweg von Richard Röder Während ich mich noch über die Nachricht freute, dass bei einem historischen Besuch des libanesischen Staatschefs in Syrien 2008 die Präsidenten von Syrien und Libanon die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart hatten, musste ich kurz darauf lesen, dass ein Bombenanschlag, der sich offensichtlich gegen diesen Schritt richtete und aller Wahrscheinlichkeit nach von Hisbolla-nahen Kreisen verübt wurde, in ­Tripolis 14 Menschen das Leben gekostet hatte. Während Syrien sich an den Westen annähert, versuchen pro-iranische Kräfte diese Annährung zu verhindern. Dass die Vorstellungen der Menschen in Syrien von der Zukunft ihres Landes weit auseinander ­liegen, diese Erfahrung habe ich auch während meiner Stage bei der Delegation der Europäischen Kommission (EK) gemacht. Außenpolitik Seit 2000 bekräftigt der amtierende Präsident Syriens, Baschar Hafiz al-Assad, laufend seine „strategische Partnerschaft“ mit dem Iran und unterstreicht diese durch Besuche in der islamischen Republik. Gleichzeitig kommt er Israel näher, mit dem Syrien offiziell ein Waffenstillstandsabkommen, nicht aber Frieden geschlossen hat. Diese Annäherung geschieht einerseits durch Besuche des syrischen Präsidenten im Westen, wie zum Beispiel am 14.07.2008 als Gast des französischen Präsidenten, anlässlich der traditionellen Militärparade am französischen Nationalfeiertag, an der auch der israelische Premier teilnahm. Andererseits geschieht dies durch internationale, vor allem türkische Vermittlung in Bezug auf die Golanhöhen, die als letzter Schritt zu einem syrisch-israelischen Friedensschluss gelten. Innenpolitik Seit dem Frühling von Damaskus, wie die Zeit nach der Machtübernahme durch Präsident Baschar al-Assad im Jahr 2000 genannt wird, hat sich das Land durch die Verbreitung von Internet und Mobil­ telefonen und durch Sprachstudenten aus ­Europa und der USA der Welt stärker geöffnet. Gleichzeitig treten neue innenpolitische Probleme auf. Seit Anfang 2007 hat sich das Land von einem Öl-Nettoexporteur zu einem Öl-Nettoimporteur gewandelt. Das planwirtschaftliche Subventionssystem der syrischen Wirtschaft ist für die Regierung dadurch nicht mehr zu finanzieren. Streiks der Busfahrer nach einer Verdoppelung der Benzinpreise und Proteste gegen die Vervielfachung der Lebensmittelpreise könnten Vorboten einer verschärften innenpolitischen Spannung sein. Die Aufnahme von über zwei Millionen irakischen Flüchtlingen strapaziert die sozialen Systeme weiter.

Die Europäischen Kommission in Syrien Syrien ist das einzige der neun Länder des südlichen Mittelmeerraumes, mit dem die EU noch kein Partnerschaftsabkommen unterzeichnet hat. Trotzdem verwaltet die EK in Syrien Projekte im Umfang von über 200 Millionen Euro und ist damit größter Geber. Im Rahmen des Stiftungskollegs habe ich fünf Monate in der Wirtschaftskooperationsabteilung der EK in Damaskus gearbeitet. Sie versucht beispielsweise durch Reform der Ministerien und des ­Bankensektors, Syrien auf seinem Weg zu einer sozialen Marktwirtschaft zu begleiten. Die Delegation unterstützt, neben der Schaffung und Implementierung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die syrische Regierung hauptsächlich durch Schulung von Ministeriums­ mitarbeitern, damit diese mit den veränderten Rahmenbedinungen arbeiten können. Ich habe mich in der Kommission vor allem mit der Implementierung und Anwendung neuer Gesetzgebung in den Bereichen ausländische Direktinvestitionen und Arbeitsrecht sowie mit der Reform der Ministerien beschäftigt. Besonders interessant war, wie eng die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien und der EK war und wie viel Vertrauen „Europa“, in Form der EK, entgegengebracht wird, wenn Vorschläge unterbreitet werden. So sind die ­Berater der EK mit in den Räumlichkeiten der Ministerien unter­ gebracht und können an fast allen Besprechungen teilnehmen. Ausblick Während es nun gilt, Syrien in politische Gestaltungsprozesse im Nahen Osten einzubinden, um es auf dem eingeschlagenen Friedensund Entspannungskurs zu unterstützen, dürfen die außenpolitischen Implikationen von wirtschaftlichen und sozialen Problemen nicht unterschätzt werden. Der Pfad zu einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft ist noch lang und steinig, und Syrien bedarf diesbezüglich weiterer Unterstützung. Die von einigen in der EU blockierte Unterzeichnung des Partnerschaftsabkommens wäre ein wichtiger und längst fälliger Schritt auf diesem Weg.

Richard W. Röder, Jhg. 1981, hat Rechtswissenschaften mit Schwerpunkt

er beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie in Berlin,

Völker- und Europarecht an der Bucerius Law School, Hamburg und

der deutschen Botschaft in ­Caracas und der Delegation der Europäischen

an der University of Sydney, Australien studiert. Als Stiftungskollegiat

Kommission in Damaskus. Zurzeit absolviert er seine letzte Stage

2007/08 beschäftigt er sich mit der Auswirkung von ausländischen

beim Bureau for Crisis Prevention and Recovery des United Nations

­Direktinvestitionen auf ­Entwicklungsländer. Seine Stagen absolvierte

Develop­ment Programme in Genf.


Altstadtsanierung in Damaskus

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Wieviel Begeisterung verträgt eine Altstadt? von Regina Kallmayer An der Schnittstelle zweier Karawanenstraßen, in einer Oase gelegen, entwickelte sich Damaskus während der letzten 5 000 Jahre zu einer Metropole des Nahen Ostens. Dabei war die Stadt einer Vielzahl von westlichen und östlichen Einflüssen ausgesetzt, die sich noch heute im Stadtbild spiegeln. Auf meinem täglichen Weg ins Büro auf der Geraden Straße, die schon in der Bibel ihre Erwähnung fand, passiere ich aramäische und assyrische Bauten, römische Säulen, omajadische Moscheen, osmanische Wohnhäuser und französische Stadterweiterungen. Sie alle künden von den multikulturellen Einflüssen und der Adaptionsfähigkeit der Altstadt. Seit ein paar Jahren gibt es einen neuen Trend. Die Damaszener aus den modernen Stadtquartieren haben ihre Altstadt wieder­ entdeckt. Zahlreiche Restaurants und Cafés locken in das ­historische Zentrum. In Innenhöfen oder auf Dachterassen der alten Häuser genießt man syrisch-libanesische Köstlichkeiten bei orientalischer Musik. Zu den Einwohnern der Stadt gesellen sich die Touristen, für die zahlreiche Hotels in der Altstadt zur Verfügung stehen. Diese Entwicklung empfinden viele Altstadtbewohner als Invasion. Die „Fremden“ strömen in jede kleine Gasse, das Strom- und Wassernetz ist überfordert, der Essensgeruch wird zur ­Belastung. Zum Streit um die Nutzung der Infrastruktur und Ressourcen kommen die Spekulation und die aufwändige Instandhaltung der Wohngebäude aus Lehm. Immer mehr ­Bewohner verkaufen daher ihre Gebäude, die dadurch wiederum zu Restaurants werden. Das natürliche Gefüge ­zwischen Wohnraum auf der einen und wirtschaftlicher Nutzung auf der anderen Seite gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte läuft die Altstadt Gefahr, dem rapiden Wandel nicht mehr standhalten zu ­können.

In dieser Situation kann nur eine rasche und gezielte Steuerung der Entwicklung die Identität der Altstadt erhalten und ihren Ausverkauf verhindern. Dies ist auch das Ziel eines syrischdeutschen Kooperationsvorhabens der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), für das ich arbeite. Es strebt eine verbesserte Altstadtverwaltung sowie die aktive Beteiligung der Bewohner und der lokalen Investoren bei der Sanierung an. ­Zuschüsse ermöglichen es insbesondere armen Bewohnern, notwendige Baumaßnahmen selbst zu finanzieren. Eine Be­ ratungsstelle informiert über Möglichkeiten der Sanierung und Modernisierung. Die Einführung energieeffizienter Techno­logien sowie der Einsatz erneuerbarer Energien redu­ zieren Wohnkosten, Staub und Abgase. Mit Hilfe von Patenschaften werden ein Teil der über 200 kleinen Trinkwasser­ brunnen ­saniert. Damit wird der öffentliche Raum aufgewertet und das Leben in der Altstadt wieder attraktiver. Erste kleine Erfolge stellen sich inzwischen ein, wenn z. B. eine Umwelt-NGO oder die lokalen Händler zum ersten Mal ­gemeinsam mit der Verwaltung überlegen, was sie zum Erhalt der kulturellen Identität der Altstadt beisteuern können. Der Anblick der Ergebnisse auf meinem abendlichen Heimweg überzeugt mich, dass diese Entwicklung der richtige Weg ist.

Regina Kallmayer, Jhg. 1974, Dipl.-Ing. Arch. und M. Sc. Urban Management, war 2002/03 Stiftungskollegiatin mit Stationen in Eschborn (Zentrale der GTZ), Paris (Zentrale der UNESCO) und Tbilissi (GTZ-Projekt „Landmanagement Georgien“). Seit 2003 arbeitet sie für die GTZ. Zunächst steuerte sie von Eschborn aus Stadtentwicklungsprojekte in Südosteuropa. Seit 2007 leitet sie das ­Projekt „Altstadtsanierung“ in Damaskus.

fImpressionen aus der Altstadt von Damaskus


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Der Jemen zwischen Tradition und Moderne

Der Jemen – auf schmalem Entwicklungspfad von Jochen Renger

Der Jemen steht in einem starken ökonomischen und sozialen Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Der Dezentralisierungsprozess hilft, diese Herausforderungen anzugehen und – Stück für Stück – demokratische Strukturen zu festigen, wie am Beispiel des Wassersektors deutlich wird. „Das erste demokratische Staatswesen auf der arabischen Halbinsel ist noch jung, und Dinge müssen sich erst fügen. Dies gilt es, stets zu berücksichtigen“, sagt mir Abdul Rahman Al-Eryani, Minister für Wasser und Umwelt bei einer Besprechung zur Umsetzung des ambitionierten Umweltreformprogramms. Er ge­ hört einer der Familien an, die 1962 mass­geblich die Revolution im Norden gegen den Imam Yahya zu Wege brachten. Nach langem Bürgerkrieg wurde 1970 die ­Arabische Republik Jemen (Nordjemen) gegründet. Im Süden entstand 1967 nach der Vertreibung der britischen Kolonialmacht die sozialistische Volksrepublik Südjemen. Im Norden wie im Süden folgten ­unruhige Zeiten interner Machtkämpfe, bis es 1990 zur ­Vereinigung der beiden Landesteile kam. Seit Mitte der 90 er Jahre befindet sich der Jemen in ruhigerem Fahrwasser und sucht sich wirtschaftlich zu konsolidieren. Dabei gilt es, einer rasant wachsenden Bevölkerung Perspektiven zu eröffnen. Öl und zukünftig Erdgas sind volkswirtschaftlich am bedeutendsten und Grundlage einer spürbaren makroöko­ nomischen Stabilisierung. Ungeachtet dessen ist die Armut hoch und das Bildungsniveau gering, weil nur wenige von den Staats­einkünften profitieren können. Kritisch bleiben die hohe ­Arbeitslosigkeit sowie die Korruption. Dramatisch ist die

­ nfälligkeit des Jemen gegenüber internationalen WirtA schaftsturbulenzen. Seit Mitte 2007 haben sich Preise für Grund­nahrungsmittel zum Teil verdreifacht. In der Hauptstadt Sana‘a, wo 40 % der Bevölkerung über Tankwagen mit Wasser versorgt werden, stieg der Preis für einen Tanker Wasser innerhalb von acht Wochen von drei auf fünf Euro. Damit kann eine ­Familie bei sparsamer Wasserverwendung gerade einmal eine Woche auskommen. Immer mehr Menschen geraten in soziale Not und sind gezwungen, Zweitjobs anzunehmen. Stammesstrukturen prägen bis heute das Land. Die individuelle Zugehörigkeit ist fest definiert, die Loyalität gilt Familie, Clan und Stamm. Dies bewirkt, dass der Zentralstaat in vielen Landes­teilen faktisch nur geringe Autorität besitzt. Besonders im nördlichen Gebirgsland und im Nordosten bewahren die Stämme ein hohes Maß an Autonomie. Im Rahmen der Staatsbildung kam es zur Verschmelzung tribaler und staatlicher Interessen. Stammesleute sind in Armee, politische Gremien und Verwaltung eingegliedert. Der Großteil der politischen und militärischen Elite rekrutiert sich aus dem Stammesverband des amtierenden Präsidenten Ali Abdallah Saleh. Trotz prägender Rolle der Stämme im Staat, nimmt die soziale Bedeutung der Stammesgesellschaft ab. Neue soziale Schichten und ein neuer


Der Jemen zwischen Tradition und Moderne

fImpressionen aus dem Jemen – Stadtansichten und Wahlkampf

vielerlei Hinsicht beispielhaft für die Dezentralisierung und Demokratisierung. Auf Gouvernoratsebene sind Wassereinzugsgebietskomitees entstanden, die die Lokalverwaltung bei Planung und Umsetzung wasserwirtschaftlicher Maßahmen (z. B. Dammbauten) beraten. Städte nehmen ihre Wasser­ver­ sorgung selbst in die Hand und haben eigene Stadtwerke gegründet. Die zentralstaatliche Wasserversorgungsbehörde mit Sitz in der Hauptstadt Sana´a wird Schritt für Schritt ­aufgelöst. Typ von Verwaltungsbeamten sind entstanden, Werte und ­Orientierungen in den Städten wandeln sich, zivilgesellschaftliche Strukturen bilden sich heraus. Im Wassersektor haben beispielsweise Frauen eine Nichtregierungsorganisation gegründet, um für die Verbesserung der Wasserversorgung zu kämpfen. Frauen sind von der schlechten Versorgungssituation besonders betroffen, denn sie müssen oft viele Stunden am Tag aufwenden, um Wasser vom Brunnen zu holen. Im Ministerium für Wasser und Umwelt ist zu beobachten, dass junge, meist im Westen ausgebildete Technokraten angetreten sind, um traditionelle Klientel­systeme und familiäre Netzwerke aufzubrechen und transparente und moderne Verwaltungsstrukturen zu schaffen. So wurde beispielsweise jüngst ein öffentliches Wettbewerbsverfahren für Infrastrukturprojekte eingeführt, um der Vetternwirtschaft einen Riegel vorzuschieben. Vor dem Hintergrund der sozialen und ökonomischen Herausforderungen hat der Jemen 2007 beschlossen, zentralstaatliche Kompetenzen an die „Gouvernorate“ abzugeben und damit die Lokalverwaltung zu stärken. Dieser Prozess ist Teil einer sukzessiven Demokratisierung. Seit 1993 finden regelmäßig Parlamentswahlen statt, seit 2001 erstmals Kommunalwahlen. 2006 wurde erstmals der Präsident vom Volk gewählt. 2008 wurden zum ersten Mal die Gouverneure von einem Wahlgremium ­gewählt und nicht mehr vom Präsidenten ernannt. Die „Gouvernorate“ erstellen ihre eigenen Entwicklungspläne und verwalten ihr Budget in Eigenregie. Der Wassersektor ist in

Die Dezentralisierung ist ein kluger Schritt. Vor dem Hintergrund der bestehenden Stammesstrukturen ist sie möglicherweise der einzige Weg, das Autonomie­bedürfnis der Stämme und das staatliche Gewaltmonopol in eine tragfähige Balance zu bringen. Der Jemen durchläuft dabei einen durchaus ambi­ valenten Transformationsprozess. Einerseits entwickeln sich ­erstaunlich viele demokratische Ansätze. Andererseits bleiben viele Strukturprobleme bestehen. Der Entwicklungsweg ist ­keinesfalls gesichert. Politische Antworten auf drängende ­Fragestellungen, wie z B. Eindämmung des Bevölkerungs­ wachstums oder Sicherung der Ressourcen für nachfolgende Generationen sind noch nicht gefunden. Aber der Jemen ist ja noch jung, und die Dinge müssen sich erst ­fügen. Insha´allah – so Gott will.

Jochen Renger, Jhg. 1969, war Stiftungskollegiat 1997/98 mit einem Projekt über den Aralsee in Uzbekistan. Seit Mitte 2005 ist er als Programmleiter für die ­Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) im Jemen tätig. Er berät den Minister für Wasser und Umwelt.

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Sozialer Sprengstoff in Ägypten

Sozialer Sprengstoff in Ägypten von Susan Javad Ägypten gilt seit seinem Friedensschluss mit Israel 1978 als verlässlicher Partner des Westens und als Stabilisator für die gesamte Region. Doch unter der relativ glatten Oberfläche brodelt es gewaltig. Seit 2004 häuft sich im Land der Protest und könnte das Regime des mittlerweile 80-jährigen Präsidenten Husni Mubarak, der seit 1981 ununterbrochen an der Macht ist, ins Wanken bringen. Weit über tausend Streiks und Demonstrationen sind seit 2004 gezählt worden. Auslöser dieser Proteste sind die ­enormen sozialen Probleme im Land. Doch anstatt tragbare Strategien zur Lösung der sozialen Krise in Ägypten zu finden, reagiert die ­Regierung unter Mubarak reflexhaft nach dem Muster von Beschwichtigung und Repression. Beobachter finden es ­erstaunlich, wie lange diese Strategie funktioniert hat. Nun steht die Frage der Nachfolge Mubaraks an. Dies könnte zu weiteren und heftigeren Unruhen im Land führen. Ägypten ist das größte arabische Land. Ging die Weltbank 2006 noch von 74 Millionen Ägyptern aus, liegen die Zahlen für 2008 nach Schätzungen des CIA World Fact Books bei über 81 Millionen – Tendenz steigend. Das Bevölkerungswachstum in Ägypten ist deswegen so problematisch, weil sich die stetig wachsende Bevölkerung fast ausschließlich auf vier Prozent der ­Landesfläche – vor allem entlang der Lebensader Nil – drängt. Wie alle Länder der Region, hat auch Ägypten eine sehr junge Bevölkerung. Das Durchschnittsalter liegt bei unter 25 Jahren. Nach Angaben der Zeitung al-Ahram müssten deshalb eigentlich jedes Jahr 830 000 neue Jobs entstehen. Tatsächlich sind es aber nur knapp 600 000. Die Folge ist eine hohe Jugend­arbeitslosigkeit, die in den offiziellen Statistiken nur ­un­genügend widergespiegelt wird. Zur schlechten Situation auf dem Arbeitsmarkt kommt die Wohnraumkrise hinzu. Bezahlbare Wohnungen sind in den Städten Mangelware. Zwar gab es in den letzten Jahren einen regelrechten Bauboom, doch wurde vor allem in teuren ­Wohnraum investiert – die breite Bevölkerung blieb so von ­bezahlbaren Unterkünften weitgehend ausgeschlossen. Die ­rasanten Preissteigerungen der Grundnahrungsmittel fachten die ohnehin bestehenden Spannungen weiter an. Im März und April dieses Jahres kam es deshalb zu schweren Unruhen mit mehreren Toten.

Denn obwohl viele Nahrungsmittel zu subventionierten Preisen angeboten werden, konnten die enormen Weltmarktpreis­ steigerungen im letzten Jahr nicht aufgefangen werden. So stieg der Brotpreis innerhalb eines Jahres um über 48 Prozent, der Preis für Speiseöl um über 45 Prozent und Geflügelfleisch ist für den durchschnittlichen Ägypter mit einer Steigerung von rund 140 Prozent unerschwinglich geworden. Nach Angaben von UNDP gelten über 43 Prozent der ägyptischen Be­ völkerung als arm und lebt von weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Jede Preissteigerung wird somit lebensbedrohlich. Das Regime Mubarak reagiert auf solche Krisen mit einer ­Strategie der Beschwichtigung und Repression. So wurden die ­Bäckereien im Staatsbesitz dazu angehalten, mehr Brot zu ­backen, und die ägyptische Armee wurde zur Verteilung der Brotfladen abkommandiert. Der für Anfang Mai angekündigte Generalstreik, in dem auf die grundsätzliche Misere, nämlich die viel zu geringen Löhne, aufmerksam gemacht werden sollte, wurde dagegen durch ein massives Aufgebot an Sicherheitskräften unterdrückt. Rund 150 Personen, die zum Streik auf­ gerufen oder die Aufforderung unterstützt hatten, wurden ­festgenommen, denn Demonstrationen und Streiks sind in Ägypten, das schon seit Jahrzehnten im Ausnahmezustand lebt, verboten.


Sozialer Sprengstoff in Ägypten

Trotzdem sind die Probleme offensichtlich. Selbst die Löhne für Beschäftige im öffentlichen Sektor liegen unterhalb der ­Armutsgrenze. Auch ein Lehrer erhält nach zehn Jahren im Beruf nicht mehr als 60 Euro im Monat. Die Löhne im informellen Sektor, in dem nach Schätzungen des Egyptian Labour ­Market Survey von 2006 rund 60 Prozent der Beschäftigten arbeiten, liegen oft noch niedriger. Ein Kilo Hähnchenfleisch kostet aber bereits fast drei Euro.

Die Uneinigkeit der Oppositionskräfte ist die Stärke des ­Mubarak-Regimes. Solange das so bleibt, wird die Strategie von Beschwichtigung und Repression ihr Ziel, die Erhaltung des Status Quo, erreichen. Dennoch spricht die desolate soziale Lage und der hohe Grad politischer Frustration im Land dafür, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sich die Wut, die sich bei den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen angestaut hat, entlädt.

Die wirtschaftliche und soziale Lage ist für die Mehrheit der Ägypter also desaströs, steht aber in eigenartigem Kontrast zur makroökonomischen Situation des Landes. So wuchs die ägyptische Wirtschaft über die letzten Jahre um starke ­sieben Prozent pro Jahr, und das Land wurde im Doing Business 2008-Report der Weltbank zum Top-Reformer des Jahres ­gekürt. Das hohe Wirtschaftswachstum hat jedoch bisher nichts an der hohen Armutsquote geändert, und es ist auch­ die wachsende gefühlte Ungleichheit, die immer gefährlicheren sozialen Sprengstoff schafft.

Ein Anlass hierfür könnte die Nachfolge Gamal Mubaraks im Amt seines Vaters sein. Gamal, der den jung-dynamischen ­Typus des Gewinners verkörpert und sich mit einer neuen ­Generation ägyptischer Unternehmer umgibt, könnte das Fass zum Überlaufen bringen. Zu groß ist der Gegensatz zwischen seiner Vision eines liberalisierten Ägyptens, eines „Tigers am Nil“, und einer Bevölkerung, die fühlt, dass dies keine ­grundlegende politische Transformation bedeuten würde, ­sondern sie auch sozial noch schlechter stellen würde. Da die demokratisch getarnte Amtsnachfolge Gamal Mubaraks derzeit als das wahrscheinlichste Szenario gilt, scheinen heftige Konflikte vorprogrammiert. Ob dies jedoch weiterreichende Konsequenzen für Ägypten und die Region haben wird, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen.

Kein Wunder also, dass die meisten Ägypter genug haben von diesen Ungerechtigkeiten. Genug – „Kifaya!“, war dann auch der Slogan unter dem sich in den letzten Jahren heftiger Protest formiert hat. Anlass waren die sich mehrenden Indizien, dass Mubarak senior seinen Sohn Gamal zu seinem Nachfolger ­aufbauen will. Die Kifaya-Bewegung hatte 2004 und 2005 durch mehrere Demonstrationen im Vorfeld der Verfassungs­ reform und der „Wahl“ zum Präsidenten auf sich aufmerksam gemacht, wurde jedoch gewaltsam unterdrückt. Das Problem der Bewegung, die vor allem aus Studenten und Intellektuellen aus dem Kairoer Umfeld ­besteht, ist zudem, dass sie es bisher nicht geschafft hat, dauerhafte Allianzen aufzubauen. Ein ­wichtiger Partner hier­bei wären die Beschäftigten des öffentlichen Sektors, die ­ihrer Wut in den letzten Jahren immer ­wieder in unabhängig organisierten Streiks Luft gemacht und das Regime zu Zu­geständnissen gezwungen haben. Auch müsste die einzig ­wirklich organisierte Opposition im Land, die verbotenen Muslimbrüder, mit ins Boot geholt werden.

Susan Javad, Jhg. 1980, hat in Deutschland und Frankreich Arabistik und Politikwissenschaft studiert und 2006/07 als Carlo-Schmid-Stipendiatin im Büro für ­strategische Planung der UNESCO gearbeitet. Derzeit schließt sie ihr Master­ studium des Fachs Development Studies an der School of Oriental and African ­Studies in London ab.

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Jordanien – Gäste ohne Zukunft

Gäste ohne Zukunft Chancen auf Bildung aus Sicht irakischer Jugendlicher in Jordanien von Else Engel Das Menschenrecht auf Bildung hat auch in Krisensituationen Bestand. Weder der Irak noch die umliegenden Staaten, die viele irakische Flüchtlinge aufgenommen haben, können jedoch den Zugang zu Bildung eines jeden Kindes in ihrem Land ­garantieren. So auch in Jordanien, wo irakische ­Jugendliche teils mehrere Jahre nicht zur Schule gehen konnten und ihre ­berufliche Zukunft jetzt im Ungewissen liegt. Zunächst war es den Kindern der mehreren hunderttausend Iraker, die von Jordanien als „Gäste“ ohne entsprechende Flüchtlingsrechte aufgenommen wurden, nicht erlaubt, staatliche Schulen zu besuchen. Erst im Herbst 2007 öffnete Jordanien seine Schulen auch für Iraker. Die Einschreibezahlen liegen mit 24 000 jedoch halb so hoch wie erwartet, auch wegen der ­verbreiteten, wenn auch unbegründeten, Angst, ohne gültige Aufenthaltserlaubnis entdeckt und abgeschoben zu werden. Für den 16 jährigen Omar kam diese Öffnung des Bildungssystems zu spät. Er ist vor fünf Jahren nach Jordanien geflohen und hatte bis 2007 bereits mehr als drei Schuljahre verpasst. Eine derart lange Unterbrechung sieht das dortige Bildungssystem auch für jor­ danische Kinder nicht vor. Die Rückkehr in das formelle Bildungssystem ist ihnen gesetzlich verwehrt. Anstatt dessen nimmt Omar heute an Computer- und Englisch­ kursen teil, die von jordanischen und internationalen Hilfs­ organi­sa­tionen angeboten werden. Die Kurse sind für ihn eine Gelegen­heit, die Wohnung zu verlassen, Freunde zu treffen und etwas zu lernen. Sie sind jedoch kein Ersatz für eine ­ab­geschlossene Schulbildung und bieten nicht die gleichen ­Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Für Jugendliche, die mehr als drei Schuljahre versäumt haben, gibt es in Jordanien jedoch einen „zweiten Bildungsweg“, der seit Ende 2007 auch irakischen Jugendlichen zugänglich ist. ­Erfolgreiche Absolventen des komprimierten zweijährigen Programms können anschließend in das formelle Bildungssystem zurück­kehren. Nur, von dem Angebot weiß Omar nichts. Da Iraker in Jordanien nicht in Flüchtlingslagern, sondern auf das Stadtgebiet verteilt und „unsichtbar“ in Wohnungen leben, fällt es Organisationen schwer, diese Jugendlichen über Angebote zu informieren und ihnen ­gezielt Unterstützung zukommen zu lassen.

Irakische Jugendliche, die seit Herbst 2007 in Jordanien zur ­Schule gehen ­können, sehen sich mit anderen Problemen konfrontiert. Genau wie jordanische Schüler leiden sie unter überfüllten Klassen und Gewalt. Hinzu kommt Diskriminierung aufgrund ihrer Religion und ihres Status als „Gast“. Die meisten haben darüber hinaus Probleme, den jordanischen Dialekt zu verstehen, selbst verstanden zu werden und in das anders als im Irak aufgebaute ­Curriculum einzusteigen. Einigen macht es schwer zu schaffen, dass sie aufgrund unterbrochener Bildung älter sind als ihre Klassenkameraden. Und nach der Schule? Ein Studium werden sich viele nicht ­leisten können. Arbeiten dürfen die irakischen „Gäste“ in Jordanien nicht. Eine Rückkehr in den Irak ist ungewiss. Die Hoffnung vieler ruht auf der Neuansiedelung in einem Drittland, wie Australien oder Kanada. Jordanien war als Zwischenstation für wenige Monate gedacht. Dies ist einer der Gründe, warum Iraker sich zunächst wenig für Bildungsmöglichkeiten in Jordanien ­interessierten. Erst jetzt beginnen viele Iraker zu akzeptieren, dass mit einem längerfristigen Aufenthalt zu rechnen ist. ­Damit steigt die Nachfrage nach guten Bildungsmöglichkeiten in ­Jordanien, nicht jedoch die Chance auf Zugang zu diesen. Um die Chancen auf gute Bildungsmöglichkeiten zu verbessern, wäre es dringend notwendig, die Klassengrößen zu reduzieren, die Lehrer im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen zu schulen und die Spannungen zwischen den Jordaniern und den irakischen „Gästen“ zu vermindern. Ohne einen ­ver­stärkten Einsatz Jordaniens, des Iraks und der internationalen Gemeinschaft droht sonst ein Teil der für die Zukunft des Irak entscheidenden Generation ohne ausreichende Bildung ­verloren zu gehen.

Else Engel, Jhg. 1980, hat in Berlin und Sydney Geographie und Geschichte ­studiert. 2006/07 arbeitete sie im Rahmen des Carlo-Schmid-Programms bei der UNESCO in Paris. Gegenwärtig schließt sie den weiterbildenden Studien­gang European Master in Children’s Rights ab. Die Studie zur Bildungs­situation irakischer ­Jugendlicher in Jordanien hat sie zusammen mit ihrer Kommilitonin Lena Stamm durchgeführt.


Mittelmeerunion

Mittelmeerunion – Eine neue Brücke zwischen Europa und der Arabischen Welt? von Daniel Braun Nach dem Willen des französischen Staatschefs Sarkozy sollte es ein exklusiver „Club Med“ der Länder werden, die an das Mittelmeer grenzen. Nach Intervention der deutschen Kanzlerin wurde daraus dann doch eine offene Gemeinschaft für alle euro-mediterranen Staaten: Am 13. Juli 2008 gründeten 43 Staatsund Regierungschefs aus der EU und den angrenzenden Regionen von Marokko über Israel und die Türkei bis Slowenien die so­ genannte Mittelmeerunion, die den großen Bogen zwischen ­beiden Seiten der See spannen soll. Diese Union soll wiederbeleben, was 1995 als BarcelonaProzess hoffnungsvoll gestartet, aber mit den Jahren in der ­Bedeutungslosigkeit verschwunden ist. Der Prozess sollte die Vision eines gemeinsamen Raums von Wohlstand, Sicherheit und Frieden zu beiden Seiten des Mittelmeeres umsetzen. Ein Mittel dazu waren und sind Assoziierungsabkommen, mit denen die EU versucht, den südlichen und südöstlichen Partnern ein Angebot der gegenseitigen politischen und wirtschaftlichen Öffnung und Anbindung zu machen. Auf diesem Weg wurde jedoch nur ein kleiner Teil der Vision umgesetzt: Es gab Fortschritte bei Wirtschafts- und Handelsthemen. Zu politisch ­brisanten Fragen wie Minderheitenrechte, Religions- und ­Meinungsfreiheit und Demokratie, blieben richtige Ergebnisse bislang jedoch aus. Ein alter Prozess als neue Union Der französische Präsident wollte während seiner Zeit als EURatsvorsitzender ein neues Zeichen setzen. Daher war es ihm wichtig, die neue Union des gemeinsamen politischen Willens auch mit konkreten Taten zu bestücken, um sie nicht das ­gleiche Schicksal erleiden zu lassen, wie den Barcelona-Prozess. Die Planung konkreter Vorhaben beruht, so wird erklärt, auf gemeinsamen Interessen. Allen voran heißt das, Stabilität zu ­erreichen, sowie die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu fördern. Für Europa gibt es zudem das Interesse an Energie­ rohstoffen aus der Region. Und auch die arabischen Unionsmitglieder haben ein Interesse daran, ihre Energieversorgung zu diversifizieren.

All das ist nicht neu. Gemeinsame euro-mediterrane Projekte gibt es bereits, seit die EU im Rahmen des Barcelona-Prozesses mit den arabischen Partnerländern zusammenarbeitet. Neu ist jedoch das gemeinsame Auftreten als Partner auf Augenhöhe mit gemeinsamen Organisationen und Entscheidungsstruk­ turen. Verkörpert wird dies in der Doppelspitze der Mittelmeerunion, die für den Anfang die beiden Schwer­gewichte Ägypten und Frankreich innehaben werden. Bei den ersten Schritten in Richtung einer aktiv arbeitenden Union wiederholt Europa jedoch die Fehler des Barcelona-­ Prozesses. Die meisten Projekte, wie etwa das eines geplanten, großangelegten Netzwerks für die Produktion und den Transport von Strom aus erneuerbaren Energiequellen, sind zwar auch im Sinne der südlichen Mittelmeerländer, beruhen jedoch auf Vorschlägen der EU-Kommission und nicht auf gemein­ samen Überlegungen. Interessen oder Identitäten? Von der Art und Weise, wie gemeinsame Interessen im Rahmen der Mittelmeerunion in die Praxis umgesetzt werden, wird ­abhängen, ob sich auch eine gemeinsame Identität entwickeln wird. Denn nur mit einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe – ob in Energiefragen, sozialer Entwicklung oder Kulturaustauch – können Europa und die arabische Welt auch zu den derzeit noch offenen Fragen gemeinsamer Werte gemeinsame Antworten finden.

Daniel Braun, Jhg. 1976, war Teilnehmer des X. Jahrgangs des Stiftungs­kollegs (2004/05). Er arbeitete zum Thema „Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kooperation mit Krisenregionen am ­Beispiel Palästinas“ und war für die Friedrich-Ebert-Stiftung und UNDP in Ost-Jerusalem tätig sowie im Bundesministerium für ­wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Bonn. Dort arbeitet er heute als Regional­berater für die Kooperation mit der Arabischen Welt.

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Die USA im Nahen Osten

Selbstverschuldet handlungsunfähig. Die USA im Nahen Osten nach acht Jahren George W. Bush von Sebastian Gräfe

Nach der Irakinvasion 2003 postulierte George W. Bush das Ziel, mithilfe der Greater Middle East Initiative eine ganze Region wirtschaftlich und politisch reformieren zu wollen. Der Einmarsch im Irak sollte erst der Anfang gewesen sein. Im Jahr 2008 sieht der Nahe Osten anders aus, aber nicht unbedingt Bushs Intentionen entsprechend. Eine Bestandsaufnahme des Einflusses der USA im Nahen Osten am Ende seiner zweiten Amtszeit. Im Frühjahr 2003 ließ der Sturz Saddam Husseins viele ­Diktatoren, über den Nahen Osten hinaus, befürchten, nächstes Opfer in George W. Bushs globalem „Kreuzzug“ für die Demokratie zu werden. Ein halbes Jahr später begann Bush – noch halbstark und unbeeindruckt von den sich abzeichnenden Problemen im Irak – für einen besonderen Plan zu ­werben. Die Befunde der Arab Human Development Reports der Vereinten Nationen über Reformfortschritte in der Region waren ernüchternd. Mithilfe der Greater Middle East Initiative sollten deshalb Länder von Marokko bis Pakistan weitreichen­de Verpflichtungen für ökonomische und politische Reformen eingehen. George W. Bush forderte Programme in den Bereichen Frauenrechte, Rechtsstaat, Kampf gegen Korruption, Zivil­ gesellschaft, Alphabetisierung, Bildung, Handel und des Finanzsektors. Parallel zum Kampf gegen den Terror wollte er damit tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen in diesen Ländern anstoßen. Zwar unterstützte der G8-Gipfel im Juni 2004 die Initiative in modifizierter Form. Der Vorschlag führte aber zu heftigen Auseinandersetzungen in den transatlantischen Be­ ziehungen über geeignete Mittel zur Demokratisierung der ­Region. Und mit der Zeit musste sich die USA mehr und mehr den (un)erwarteten Folgen der militärisch hervorgerufenen Transformation im Irak widmen. Über den in Broader Middle East Initiative umbenannten Plan sprach bald keiner mehr.

Diese Entwicklungen markieren den Beginn eines beispiellosen Machtverlusts Washingtons im Nahen Osten. In zahlreichen Konflikten der Region setzte Washington seitdem auf die Isolierung relevanter Akteure. Dialog wurde abgelehnt. Viele ­arabische Länder, deren politische Regime traditionell eng mit den USA verbunden sind, verweigern sich inzwischen mehr und mehr den Ansätzen der US-Regierung für die ­Region. Lösungsansätze kommen aus der Region selber. Diese Tendenz ist insbesondere bei den Golfstaaten erkennbar. Länder wie Katar, Kuwait oder Bahrain betrachten die US-Politik in der Region als kontraproduktiv und entwerfen eine eigene Diplomatie. Zur Verdeutlichung eine kurze Rundreise zu den Krisenherden der Region: Seit Jahrzehnten stehen Syrien und Israel offiziell im Krieg miteinander, auch wenn es keine direkten militärischen Kampfhandlungen mehr gibt. Im Herbst 2006 begannen durch türkische Vermittlung geheime Verhandlungen zwischen beiden Ländern über eine gegenseitige Annäherung. Inzwischen ist die Rückgabe der von den Israelis eroberten Golanhöhen an den syrischen Erzfeind kein Tabu mehr. Das Weiße Haus hingegen lehnte diese Verhandlungen von Beginn an ab. Eine Normalisierung der Beziehungen zum engsten Verbündeten Irans sei nicht angebracht. Der Förderer extremistischer Milizen in der Region sei vielmehr zu isolieren. Ähnlich im Libanon: Nach dem Aufflammen der Gewalt im Libanon Anfang Mai 2008 vermittelte Katar einen Kompromiss zwischen der Hisbollah und dem pro-westlichen Minister­ präsidenten Siniora. So konnte die monatelange Verfassungskrise Libanons überwunden werden. Die USA bemühten sich die ganze Zeit, Siniora von Verhandlungen mit der irantreuen Hisbollah abzubringen. Mit französischer Hilfe vereinbarten Libanon und Syrien aber Anfang August dieses Jahres, wieder Botschaften im jeweils anderen Land zu eröffnen.


Die USA im Nahen Osten

Auch der Aktivismus der Bush-Regierung im palästinensischisraelischen Konflikt zeugt vom Einflussverlust. Die Macht­ übernahme der Hamas im Gazastreifen im Juni 2007 stellte ein Fiasko für die westliche Nahostpolitik dar. Für die USRegierung war es seitdem wichtig, die von Iran unterstützte Hamas im Gazastreifen zu isolieren. Im innerpalästinensischen Machtkampf sollten die westorientierten Kräfte des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas im Westjordanland gestärkt ­werden. Bush gelang zwar Ende 2007 auf der Annapolis-Konferenz die Überraschung, eine Vereinbarung über Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern inklusive Zeitplan zu erreichen. Der mit Korruptionsvorwürfen konfrontierte israelische Ministerpräsident Ehud Olmert und der palästinensische Präsident Mahmud Abbas sind aber zu schwach, um in den eigenen Reihen Zugeständnisse zu erreichen. Annapolis war Wunschdenken. Besonders im Streit zwischen Hamas und Fatah treten SaudiArabien, Ägypten oder die Arabische Liga als einflussreichere Akteure auf. Auch die Entwicklungen im Irak zeugen von der Schwäche Washingtons. Zwar hat sich die Sicherheitslage im Land stabilisiert. Bush lehnte bisher zeitliche Aussagen zu einem Truppenabzug ab. Im Zusammenhang mit den Verhandlungen über das zukünftige Mandat der US-Truppen im Irak musste er sich jetzt aber irakischem Druck beugen. Es gibt zwar keine Erwähnung eines konkreten Abzugszeitplans im Vertrag. Es werden jedoch Rahmendaten für 2011 festgelegt.

Auch in der Auseinandersetzung mit Iran stehen die Zeichen auf Wechsel. In den vergangenen Jahren warnte Bush immer vor einem militärischen Eingreifen, falls Iran seine Ambitionen zum Bau von Atomwaffen nicht aufgibt. Gerade die arabischen Golfstaaten fühlen sich aber von Vergeltungsschlägen eines ­nuklearen Iran bedroht und lehnen deshalb eine Allianz mit den Amerikanern gegen Teheran ab. Nach Jahren amerikanischer Kriegsdrohungen wird inzwischen über die Eröffnung von gegenseitigen Interessenvertretungen im Iran bzw. der USA spekuliert. Am Ende der zweiten Bush-Amtszeit ist eine neue diplo­ matische Aktivität im Nahen Osten erkennbar, an dem die USA nicht mehr beteiligt ist. Militärische Operationen wie der ­Irakkrieg haben nicht nur Ressourcen vom eigentlichen Kampf ­gegen den Terrorismus (in Afghanistan) abgezogen. Die ­Ablehnung von Diplomatie hat die USA in eine Sackgasse geführt, in der sie bei vielen Problemen über keinen Einfluss mehr verfügt. Iran, Syrien, Hamas und Hisbollah, aber auch die der USA nahestehenden Regime wussten das Vakuum zu ­füllen. Das Machtzentrum der Region hat sich ostwärts auf die Golfstaaten zu bewegt. Ägypten verliert langfristig an ­Relevanz. Enorme wirtschaftliche Probleme und interne Machtkämpfe werden es außenpolitisch weiter marginalisieren. Unsicher ist, ob die neuen diplomatischen Initiativen einzelner Länder im Nahen Osten in langfristige Politik zum Interessenausgleich münden. Zu sehr sind die bisherigen Aktivitäten an einzelne Herrscher und weniger an Institutionen gebunden. Die Erwartungen im Nahen Osten an einen neuen Präsidenten im Weißen Haus sind erst recht gering. Gemäß dem Pew Global Attitudes Project vom Juni 2008 halten knapp ein Drittel der Menschen in der Region sogar eine weitere Verschlechterung der gegenseitigen Beziehungen für möglich. Ein neuer US-­ Präsident wird auch daran gemessen werden, ob er wieder Handlungsspielraum in der Region gewinnt. Sebastian Gräfe, Jhg. 1974, befasste sich als Stiftungskollegiat 2002/03 mit den EU-­Beziehungen zum Iran. Er arbeitet als Programmdirektor für ­Außen- und S­ icherheitspolitik im Washingtoner Büro der Heinrich-BöllStiftung.

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DasHeft n채chste Heft erscheint am 01/09/2007 5 erscheint im Fr체hjahr 2009

Thema: Europa und die Ergebnisse der deutschen Ratspr채sidentschaft


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