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Piotrchens Mondfahrt

(Fassung deutsch) Sprechen Sie Russisch? Ich leider nicht. Ich spreche verhältnismässig wenige Sprachen.

Auf dieser Welt gebe es nämlich momentan 7097 gesprochene Sprachen. Früher, in der Urzeit, sollen es noch 20 000 Sprachen gewesen sein.

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Aufgrund dieser Abnahme der Sprachenvielfalt erfand die UNESCO den «internationalen Tag der Muttersprache – zur Förderung sprachlicher und kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit».

Muttersprache?

Dieses Wort geht davon aus, dass die Mutter zu Hause ist –und spricht. Und, dass der Vater auf die Pirsch geht – und schweigt. Sie sehen: Das Wort Muttersprache ist leicht tendenziös, so in Sachen Gleichstellung und Regenbogengesellschaft und Diversität und Vielfalt. – Deshalb hat man es durch den Begriff Erstsprache ersetzt. Weil es denkbar ist, dass die Mutter auf die Jagd geht (nach wilden Tieren oder Ehre oder Geld) –und schweigt, und dass der Vater zu Hause auch mal was sagt zu den Kindern.

Ich weiss nicht, ob bei diesen gut 7000 Sprachen, die noch gesprochen werden, alle Dialekte – nur schon diejenigen der Schweiz – miteingerechnet sind. Ich vermute, sie sind nicht mitgezählt.

Und dann taucht natürlich die Frage wieder auf, ob das Schweizerdeutsche überhaupt eine eigene Mutter-, … ich meine Erstsprache sei. Oder ob es einfach zum Deutschen gehört.

Diese Frage können die Wissenschaftler nicht eindeutig beantworten.1

Ich denke jedoch, wenn jeder Dialekt in allen Ländern der Welt als eigene Erstsprache definiert wäre, dann kämen wir beim Zählen auf weit mehr als auf 7097 Sprachen.

Wie auch immer. Auf jeden Fall sei es so, dass von diesen noch gesprochenen Sprachen die Hälfte bereits wieder vom Aussterben bedroht sei!

Dazu gehören hundertprozentig auch alle unsere Schweizer Dialekte.

An dieser Abwärtsentwicklung bin ich selber schuld, genau wie auch Sie.

Sage ich etwa im Sportgeschäft an der Zürcher Bahnhofstrasse, ich sei auf der Suche nach einem grünen Baueletampf ?

Bestellen Sie im Basler Restaurant Hiltl eine Portion Gumelstunggis?

Keine Ahnung, was Sie aufgetischt bekämen, aber wohl kaum einen Teller mit Kartoffelstock … Und mich würde der Zürcher Sportartikelverkäufer sicher nicht direkt zum Gestell mit den Zipfelmützen führen. Denn … man würde uns schlicht und einfach nicht verstehen, wenn wir in einer Schweizer Grossstadt derlei lokale Wörter gebrauchen würden! Deshalb versuchen wir es dort gar nicht erst mit unseren Dialektwörtern.

Und exakt deshalb wagen wir immer wieder den Spagat zwischen dem Dialekt-Denken und der verbalen Simultanübersetzung ins Quasi-Deutsche. Oder ins allgemein verständliche Swinglisch 2 .

1 Und auch die Wissenschaftlerinnen wissen es nicht!

2 Eine Mischung zwischen Schweizerdeutsch und Englisch.

Wenn wir sprechen, dann möchten wir nämlich vor allem verstanden werden! Wir möchten nicht hauptsächlich unsere Herkunft betonen oder auf einem Dialektausdruck herumreiten. Deshalb passen wir alle (wie die meisten Menschen auf der Welt) uns der Sprache des Stärkeren, des Grösseren an. Und was wir jeden Tag in Zürich sagen, etwa «Wohnzimmer» anstatt «Stube», «foode» anstatt «Mittag essen» und «google» anstatt «überlegen», das sagen wir logischerweise mit der Zeit auch zu Hause in Grächen, in Steinen oder in Arbon. Und sogar in Zug, wo ohnehin ein grosser Teil der Bevölkerung Englisch oder Russisch spricht.

Diese Anpassung und Vereinheitlichung geschieht auf der Welt zwar manchmal mit Gewalt 3 , meistens passiert diese Angleichung an eine Sprache aber ohne Zwang.

Ja: Grosse und starke Nationen führen zu sprachlicher Homogenität! Darum reden heute die Hälfte der Menschen auf der Welt eine der zehn meistgesprochenen Sprachen! Wir Menschen sind Herdentiere, und sicher helfen auch die Digitalisierung und die Globalisierung mit, die sprachliche Kommunikation zu vereinheitlichen.

Die drei meistgesprochenen Sprachen auf der Welt sind Englisch, Mandarin-Chinesisch und Spanisch. Deutsch erscheint erst an 13. und Italienisch an 19. Stelle.

Jetzt liegt die Vermutung nahe, eine Person, die Zugerdeutsch schreibt, so wie ich, habe eine Mission. Man könnte denken, ich wolle:

3 Wie etwa in Pakistan, wo 1952 nur drei Prozent der Einwohnenden Urdu als Erstsprache hatten und trotzdem die Regierung Urdu zur alleinigen Amtsprache erklärte. Die Folge waren Demonstrationen und Polzeieinsätze, und es gab sogar Tote!

… Die Globalisierung aufhalten! … Den chinesischen Weltmarktvormarsch torpedieren! … Verunmöglichen, dass Google oder Facebook meine Dialektsätze versteht! … Dass die CIA mich digital nicht überwachen könne!

– Ja, klar, als Nebeneffekt des Dialektschreibens wäre dies alles gar nicht schlecht. 4 Aber der wahre Grund für meine Dialektstorys ist es nicht.

Ich möchte nämlich bloss Geschichten erzählen – und dabei verstanden werden!

Aber trotzdem eine lustige Idee: Was käme wohl heraus, wenn die CIA meine Texte übersetzen würde? Oder der russische Geheimdienst?

Für eine mögliche Antwort muss ich kurz ausholen:

Es gibt einen zugerdeutschen Text aus meiner Feder, der heisst «Bi Wädelmond»5 .

Dies ist eine Geschichte über zwei Männer – einen Grobian und einen Trunkenbold – die sich bei Vollmond in die Haare geraten. 6

Als ich einmal den Film mit dieser Geschichte auf dem Netz suchte, um den Link an jemanden zu verschicken, geriet ich zu- fällig auf eine Seite, die «Deutsche Sprache.ru» hiess. Oh

4 Aber es würde wohl nicht klappen, denn gestern habe ich gelesen, dass die Künstliche Intelligenz unterdessen schon imstande sein soll, Dialekttexte zu entschlüsseln! Ob das stimmt? Bitte lesen Sie einfach weiter im Text, dann werden Sie verstehen, warum ich das zur Zeit noch stark bezweifle.

5 «Wädelmond» ist das zugerdeutsche Wort für Vollmond. Der Text dazu steht in meinem Buch HÄSCHTÄÄG ZUNDEROBSI (ebenfalls im Zytglogge Verlag erschienen, 2020).

6 Diesen Text finden Sie, vorgelesen von mir, als Film auf Plas SRF.

Gott, ich staunte nicht schlecht: Dort war mein ZugerdeutschText schriftlich übersetzt auf Russisch!

Ich verstehe ja eben wie schon gesagt kein Wort Russisch. Doch kein Problem, denn praktischerweise stand dort der russische Text gleich wieder zurückübersetzt – und zwar auf Hochdeutsch!

Um zu erfahren, was Russinnen und Russen da von mir für eine Geschichte erzählt bekamen, hätte ich eigentlich bloss die Zurückübersetzung auf Deutsch lesen müssen.

Das habe ich natürlich versucht … Doch ich erschrak nicht schlecht:

Wow, ich kann Ihnen sagen! Als ich die Übersetzung von der russischen Version meiner «Wädelmond»-Geschichte zurück ins Deutsche las, merkte ich erst, wie viel … nun, sagen wir mal «Interpretationspotenzial» … meiner Story über den Wädelmond innewohnt.

Ein Beispiel: Der einfacher Dialektsatz «De Schlawyner isch überstellig worde und hed de Gütterler verhündelet und gmöögget, er söll kei Spargimänter mache»7 erhielt durch die Übersetzung geradezu unfassbare Dimensionen. Die Übersetzung lautete nämlich so:

«Schlawyner hätten wie Monster, so Ricardo.

Flut die Politik Müll!

Für Oslo passiert sie Kabinettsumbau Ringsgwandl, was in der Folge schlief.»

7 Auf Deutsch: «Das Schlitzohr wurde übermütig, verhöhnte den Trunkenbold und rief, er solle keine Flausen machen.»

Moment! … Können Sie noch folgen? Oder eher nicht?

Wissen Sie was? Ich auch nicht! Was erstaunlich ist, denn ich habe den ursprünglichen Text ja schliesslich geschrieben …

Achtung, im nächsten Übersetzungsbeispiel wird es gar tragisch:

«Eine Freundin ging dank billiger Chemicals inc. in eine Steckdose.»

Sehen Sie es jetzt auch?

In meinem Text steckt offensichtlich – das erkannte ich dank der Secondhand-Übersetzung – Industriekritik, tragische Liebe, Kunst-, Politik- und Gesellschaftskritik und selbst Religiös-Spirituelles. Kurz: lauter Themen, in denen ich nicht gerade bewandert bin. Hinzu kommt kunstvoll verklausulierte Symbolik, Sport, Filmgeschichte und Sience Fiction! 8

Hier noch ein Ausschnitt aus der automatischen Übersetzung des Zugerdeutschen – via Russisch – ins Hochdeutsche. Lassen

Sie sich diese Logarithmen-Poesie auf der Zunge zergehen:

«Der Grosse stösst im Capital ab und der letzte Brief verkörpert ist der kleine. Verbrechen oder vertrieben – das Spenderherz ist Courage! Und reinigten sie die Akuten, dass es nur so kracht.»

Sünde und schade ist bloss, dass solch interessante Sätze kein Mensch versteht! 9

8 Der Text ist dermassen kryptisch, dass ich echte Chancen hätte, damit einen Literaturpreis zu gewinnen!

9 Böse Zungen behaupten ja, diese Übersetzung sei kompletter Nonsens. – Banausen! Verstehen nichts von wahrer Kunst.

Damit mir sowas nicht passiert, habe ich beschlossen, in diesem Buch viele Geschichten auf Deutsch zu schreiben. Dies nebst zweisprachig abgedruckten Texten und Geschichten nur im Zuger Dialekt.

Denn wie gesagt:

Ich möchte ganz gerne von vielen Lesenden verstanden werden!

(Und nicht etwa so:

Geführt wird und reinigt war es Peter!

Und der heillos von der Mondfähre.)

… Alles klar?

… Nicht?

Na, dann bin ich ja beruhigt!