Wien Museum Ausstellungskatalog „WIG 64 - Die grüne Nachkriegsmoderne“

Page 1

64 WIG

Metroverlag

Die gr端ne Nachkriegsmoderne



Die grüne Nachkriegsmoderne

Herausgegeben von Ulrike Krippner, Lilli Lička und Martina Nußbaumer

Metroverlag


WIG 64. Die grüne Nachkriegsmoderne 396. Sonderausstellung des Wien Museums Wien Museum Karlsplatz 10. April bis 31. August 2014

Ausstellung

Katalog

Idee Lilli Lička, Peter Arlt

Herausgeberinnen Ulrike Krippner, Lilli Lička, Martina Nußbaumer

Kuratorinnen Martina Nußbaumer (Wien Museum) Ulrike Krippner, Lilli Lička, Nicole Theresa Raab (Institut für Landschaftsarchitektur, Universität für Bodenkultur Wien) Gestaltung Thomas Hamann Grafik Bueronardin Produktion Isabelle Exinger-Lang Registrar Laura Tomicek Restaurierung Anne Biber Nora Gasser Alexandra Moser Audiovisuelle Medien cat-x

Grafi sche Gestaltung Christof Nardin, Agnes Steiner/ Bueronardin Lektorat Kerstin Krenn Bildredaktion Isabelle Exinger-Lang Martina Nußbaumer Fotografien Wien Museum faksimile digital – Birgit und Peter Kainz Schriften DIN 1451 Engschrift, Futura CE, Neue Haas Grotesk Text Pro Papier Arctic Volumen White Herstellungsleitung Metroverlag Druckerei Finidr © 2014

Aufbau Werkstätten Wien Museum museom service gmbh Lektorat Kerstin Krenn Übersetzung Joanna White Organisation Rahmenprogramm Christine Koblitz Denise Fuchs

ISBN Broschur 978-3-99300-179-7


7

Vorwort

97

Wolfgang Kos 10

Die Wiener Internationale Gartenschau 1964. Zur Einführung Ulrike Krippner, Lilli Lička, Martina Nußbaumer

Blütenträume aus der Pflanzenfabrik. Der moderne Freizeitgarten im Spiegel der WIG 64 Nicole Theresa Raab

107

„Auf der bunten Hollywoodschaukel“. Zur Karriere der schwin­genden Gartenbank Peter Payer

22

Gartenschauen im 20. Jahrhundert. Zwischen inszenierter Natur und gestaltetem Freiraum

113

Zurück in die Zukunft. Die Entwicklung des Donauparks seit 1964 Lilli Lička

Annemarie Bucher

„Weltstadt im Grünen“. Die WIG 64 und die Visionen der Wiener Stadtplanung nach 1945

Mehr als Stadtrand. Maria Auböck und Axel Lohrer über die landschafts­architektonischen Qualitäten des Donauparks

Martina Nußbaumer

Interview: Lilli Lička

119 30

39

„Wilde“ Nutzungen und Planungs­utopien. Das Areal des Donauparks vor 1964

125

Ulrike Krippner

Miteinander, nebeneinander. Beobachtungen zur gegenwärtigen Nutzung des Donauparks Helmut Neundlinger

45

„Wir waren ja das Gsindl. Aber schön war’s, als Gsindl!“ Leopold Draxler, Willi Resetarits und Othmar Stadler über das Alltagsleben am Bruckhaufen vor der WIG 64

128

Donaupark. Eine Gebrauchsanweisung Klaus Pichler

Interview: Martina Nußbaumer 52

74

145

Ausstellung

Wien baut die WIG 64. Von der ersten Idee bis zur fertigen Gartenschau

158

Autorinnen und Autoren

Ulrike Krippner

159

Bildnachweis

159

Leihgeberinnen und Leihgeber

160

Dank

Das Wunder von Wien. Mediale Sentimente und Sensationen einer Gartenschau Nicole Theresa Raab

82

Die WIG 64 in Zahlen, Daten und Fakten

90

„Man hätte genauso gut einen Ozean­­dampfer kaufen können.“ Der Donauturm als Attraktion und Attrappe Andreas Nierhaus


Reklame f端r die WIG 64, Juli 1963

6


Vorwort Wenn ein Museum sich zu einer Ausstellung entschließt, sind mehrere Parameter zu bedenken. Neben der objektiven Bedeutung des Themas, überzeugenden Konzeptideen und der Sicherheit, attraktive Exponate zur Verfügung zu haben, ist es etwas, das man „Resonanzraum“ nennen könnte. Bewusst vermeide ich Begriffe wie Zielgruppen und erwartbaren Publikumserfolg, obwohl es fahrlässig wäre, diese Aspekte zu ignorieren. Doch „Resonanzraum“ umfasst mehr, etwa emotionale Nähe der Bevölkerung zum Thema. Am Beispiel der Ausstellung WIG 64. Die grüne Nachkriegsmoderne lässt sich gut zeigen, dass dieser nicht einheitlich sein muss. Als wir im Museum über dieses Projekt diskutierten, zeigte sich, dass das Kürzel „WIG 64“ sehr unterschiedliche Assoziationen auslöst – entweder starke oder gar keine. Das hängt mit unterschiedlichen Erinnerungen zusammen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht in Wien aufgewachsen sind, verbinden keine persönlichen Erinnerungen mit der Gartenschau im heutigen Donaupark oder wissen gar nicht, dass im heute eher diffusen Gelände zwischen Donauturm, UNO-Zentrum und Donau City ein für Wiens Nachkriegsgeschichte wichtiges Ereignis stattfand. Menschen aus Wiener Familien, die seit zwei oder drei Generationen hier leben, reagieren dagegen sehr unmittelbar auf die Nennung der WIG 64, hat diese „GartenWeltausstellung“ doch einen Platz in ihrer Erinnerung – sei es, weil Eltern und Großeltern davon erzählt haben, sei es, weil sie als Kinder mit dem Sessel­ lift über Blumenbeete geschwebt sind oder zum ersten Mal eine legendäre Hollywoodschaukel mit eigenen Augen gesehen haben. Ich selbst gehöre zu Letzteren: Es war mehr als ein Routineausflug, als wir aus Mödling mehrmals ins transdanubische Blumenparadies fuhren. Vor allem meine Mutter nahm die prächtig präsentierten Blumen und die vielen Neuigkeiten begierig auf. Schließlich hatten meine Eltern in den 1950er-Jahren mit großer Mühe ein hübsches Einfamilienhaus gebaut, wobei der eigene Garten – also Garten­ kultur – einen hohen emotionalen Stellenwert hatte. In Fachgesprächen mit den Mitgliedern des Gartenbauvereins (wo es auch beratende Vorträge gab), der „Baumschule“ oder den Nachbarinnen wurden die „richtigen“ Blumen und Hecken ausführlich besprochen. Dabei ging es immer auch um Innovation – etwa neue Züchtungen – und Moden. Der eigene Garten sollte ja auf der Höhe der Zeit sein. Und bei der WIG 64 konnte man das Wissen mit Exotika aus aller Welt anreichern. In meiner Erinnerung war es – ähnlich wie auf der Frühjahrs- und Herbst­ messe – das Erleben von Internationalität, das mich begeisterte. All die Fahnen der teilnehmenden Länder, die vielen fremdsprachigen Prospekte, die avantgardistischen Bauten, die generelle Heiterkeit – und wohl auch die Gratiskostproben aus diversen Ländern (vielleicht verwechsle ich das mit der Wiener Messe, wo diese Fixpunkte unserer Rundgänge waren).

7


Österreich war ziemlich provinziell damals, und Weltperspektiven waren dementsprechend aufregend. Seit bekannt ist, dass im Wien Museum zeitgerecht zum 50-Jahr-Jubiläum eine WIG 64-Ausstellung stattfindet, gab es viele positive Reaktionen. Persönliche Erinnerungen werden sichtbar, etwa in Form von Privatfotos oder Schmalfilmen. Es war ja die große Zeit des österreichischen Kamera­ her­stellers Eumig, und für viele war die WIG 64 wohl auch Anlass, erstmals eigene Filme zu „knipsen“. Es handelt sich also um eine jener Ausstellungen, bei der ein Naheverhältnis zwischen einem Teil des Publikums (hoffentlich nicht nur des älteren) und den Geschichten, die die Ausstellung erzählt, besteht; bei vielen Exponaten ist ein Wiedererkennungseffekt zu erwarten. Für ein Stadtmuseum, das auch die jüngere Vergangenheit, quasi die „Stadt-Zeitgeschichte“ behandelt, handelt es sich also um einen Idealfall. Bei Ausstellungen über Essen, Trinken und Einkaufen in den Nachkriegsjahrzehnten (Die Sinalco-Epoche, 2005), Fußball in Wien (Wo die Wuchtel fliegt, 2008) oder Arena- und Hausbesetzungen (Besetzt!, 2012) haben wir erfahren, wie viel Mehrwert es bedeutet, wenn persönlicher „Resonanzraum“ vorhanden ist. Das besondere Verhältnis zwischen „Betroffenen“ und Museum trägt wesentlich dazu bei, dass Menschen das Museum als „ihr Museum“ erleben, weil es auch Themen aufgreift, die in der breiten Erinnerung tief verankert sind. Das ist der eine wichtige Aspekt beim Projekt WIG 64. Die grüne Nachkriegsmoderne. Ein anderes Hauptmotiv liegt in der enormen Bedeutung des dokumentierten und reflektierten Ereignisses. Die WIG 64 gehört zu jenen Events der Ära des Wiederaufbaus und der Modernisierung aus dem Geist eines noch ungebrochenen Fortschrittsdenkens, die – siehe Stadtwahrzeichen Donauturm – hohe symbolische Bedeutung hatten, vergleichbar der Wieder­ eröffnung der Staatsoper und der Eröffnung der Opernpassage im Jahr 1955. In der Einleitung der Kuratorinnen wird auf diese über den Anlassfall hinausgehende allgemeine Bedeutung der Gartenschau ausführlich hinge­ wiesen. Um etwas herauszugreifen: Ein prestigereiches Großereignis direkt an der Donau (und noch dazu auf der „drüberen“ Seite) ist auch mit der seit 150 Jahren virulenten Frage verknüpft, wie die „Donaustadt“ näher an die Donau herangeführt werden könnte. Und natürlich geht es auch um die mit der Stadtplanungspolitik eng verknüpfte Grünpolitik einer Großstadt, deren Ziel es war, Wien zu einer modernen, gesunden Stadt mit „Sozialem Grün“ und reichlichen Freizeitangeboten zu machen. Die Ausstellung ist mehr als eine „Jubiläumsausstellung“. Das ist ein zumeist subkreativer Typus, der allzu oft eng gedacht ist und das erinnerte Thema auf das Jahr der Durchführung einschränkt. Zum Selbstverständnis des Wien Museums gehört es, konkrete Anlassfälle mit weiten zeitlichen Perspektiven zu verknüpfen. Das Konzept dieser Ausstellung sah von Anfang an vor, die im Jahr 1964 weitgehend ausgeblendete Vorgeschichte (Mülldeponie, informelle Siedlungen, militärische Nutzung, Hinrichtungen während der

8


NS-Zeit) ebenso zu behandeln wie die Geschichte der Nachnutzungen. Wie hat sich diese Parkgründung langfristig bewährt? Was ist verschwunden? Für welche Menschen, etwa Zuwanderer, ist der Donaupark heute ein Heimat­ ort und Fixpunkt im Alltag? Wie aktuell solche Fragen sind, zeigt sich an den zur Zeit intensiven Diskussionen über neue und zeitgemäße Ideen für Grünräume und Parks. Ich freue mich, wie produktiv sich diesmal die Zusammenarbeit zwischen Expertinnen mit Universitätsbasis, die sich seit langem intensiv mit dem Thema befassen, und der kuratorischen Kompetenz des Museums (das heißt: auf wissenschaftlicher Basis aus einer überzeugenden Ausstellungsidee eine publikumswirksame Ausstellung mit aussagekräftigen Exponaten zu entwickeln) gestaltet hat. So kam es zu einem schlüssigen und so viele Aspekte berücksichtigenden Konzept. Deshalb darf ich den Initiatorinnen des Projekts, Universitätsprofessorin Lilli Lička, Ulrike Krippner und Nicole Theresa Raab vom Institut für Landschaftsarchitektur der Universität für Bodenkultur, herzlich danken: Ihr Know-how, ihre intensive Befassung mit der WIG 64 und dem Donaupark und ihre Ideen waren einerseits unverzichtbare Grundlage. Andererseits haben sie als Kuratorinnen und Mitherausgeberinnen an Konzept und Feinentwicklung von Ausstellung und Katalog wichtige Arbeit geleistet. Als Kuratorin von Seiten des Wien Museums gilt mein Dank Martina Nußbaumer. Mit größtmöglichem Elan und präziser Ausstellungsentwicklung hat sie das Projekt betreut. Möglich war das, weil sie in ihrer museologischen Tätigkeit stets von einem generalistischen Ansatz ausgeht und Alltagskultur als hochkomplexes Phänomen betrachtet. Unterstützt wurde sie vom Team des Wien Museums, allen voran von der gewohnt souveränen Produktionsleiterin Isabelle Exinger-Lang. Die verfügbare Fläche könnte größer sein, wir wissen das. Dennoch ist es eine dichte und vielfältige Ausstellung geworden. Es ist eine hohe Aufenthaltsdauer des Publikums zu erwarten. Entscheidend dafür ist die Gestaltung (Architektur: Thomas Hamann, Grafik: Bueronardin), die die goldene Mitte zwischen markanter Ästhetik und pragmatischer Raumorganisation gewählt hat. Christof Nardin und Agnes Steiner ist auch für die grafische Gestaltung des Katalogbuches zu danken. Ich hoffe, es wird zu einem Standardwerk zur „grünen Nachkriegsmoderne“.

Wolfgang Kos, Direktor Wien Museum

9


Ansichtskarte WIG 64, 1964

Die Wiener Internationale Gartenschau 1964. Zur Einführung Ulrike Krippner, Lilli Lička, Martina Nußbaumer Der neue Donauturm mit seinem futuristisch anmutenden Drehrestaurant, ein Sessellift, mit dem man über Blumenbeete schweben konnte, und eine Liliputbahn, die sich zwischen Rosengärten, Pavillons und dem frisch an­ gelegten Irissee dahinschlängelte – das waren nur einige der Attraktionen, mit denen die Wiener Internationale Gartenschau 1964, kurz: WIG 64, aufwartete. Zur damals größten Gartenschau Europas, an der sich 29 Staaten beteiligten, kamen zwischen April und November 1964 rund 2,1 Millionen Besucherinnen und Besucher aus dem In- und Ausland. Als eines der wichtigsten Groß­ereignisse der Nachkriegszeit hinterließ sie nicht nur zahlreiche Spuren im kollektiven Gedächtnis der Stadt, sondern auch eine der größten Parkanlagen des 20. Jahrhunderts: den Donaupark. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der WIG 64 beleuchten die Ausstellung und der Katalog die Gartenschau im Kontext der planerischen Utopien nach 1945 und fragen nach den Intentionen und konkreten städtebaulichen und soziokulturellen Auswirkungen dieses Großprojekts, das das linke Donau­ ufer nachhaltig verändern sollte. Die weitgehend in Vergessenheit geratene Vorgeschichte des Areals und der Gestaltungsduktus des Parks werden dabei ebenso zum Thema wie die Frage nach den Funktionen, die das Vorzeige­ projekt des „modernen Wien“ der 1960er-Jahre heute in der Stadt erfüllt.

10


Die WIG 64 als Motor der Stadtentwicklung

Überblick über das Ausstellungsgelände der WIG 64, Mai 1964 (Foto: Otto Simoner)

Als Vorbild für die WIG 64 dienten jene großen Gartenschauen, die nach 1945 vor allem in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz ausgerichtet worden waren. Sie sollten nicht nur der Positionierung innerhalb der Städtekonkurrenz dienen, sondern auch stolz den landschaftsarchitektonischen Aufbruch nach 1945 und die Hinwendung zum „modernen“ Garten repräsentieren. Den Auftakt hatte 1951 die erste Deutsche Bundesgartenschau in Hannover (BUGA 1951) gemacht; zahlreiche weitere nationale und internationale Schauen folgten in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren. Vor allem Städte, die stark vom Krieg zerstört waren, nutzten Gartenschauen als Erfolg versprechendes Instrument, um Parkanlagen wiederaufzubauen, neue Grünräume zu schaffen und Stadtteile aufzuwerten.1 Auch das Wiener Gartenschauprojekt wurde seitens der Gemeinde vor allem mit stadtplanerischen Argumenten begründet. Der neue, anlässlich der WIG 64 „am linken Stromufer der Donau zwischen Überschwemmungsgebiet und der Alten Donau“ errichtete Donaupark werde mit einer Größe von rund einer Million Quadratmetern „eine bedeutende Ergänzung des Wald- und Wiesengürtels von Wien“ sein, verkündete die von der Stadtbauamtsdirektion herausgegebene Broschüre Soziales Grün in Wien im Jahr 1963. Nicht nur für „die dichtbevölkerten Bezirke Brigittenau und Leopoldstadt“ werde der Park in Zukunft „eine wichtige Erholungsfunktion auszuüben haben“, sondern auch „bei der städtebaulichen Aufwertung der Gebiete jenseits der Donau eine bedeutende Rolle spielen.“ 2 Realisiert wurde die Parkanlage auf dem Gelände der ehemaligen Mülldeponie Bruckhaufen, der informellen Siedlung Bretteldorf und der ehemaligen Militärschießstätte Kagran, wo in der NS-Zeit Hinrichtungen stattgefunden hatten – einem Areal, das als ‚Problemzone‘ der Stadtverwaltung schon lange ein Dorn im Auge gewesen war und für das die WIG 64 eine willkommene ‚Lösung‘ versprach. Donaupark und Gartenschau sollten nach Wunsch der Planungsbehörden allerdings nicht nur konkrete städtebauliche Aufgaben im Rahmen der Erweiterung der Stadt in nordöstlicher Richtung – über die Donau hinaus – erfüllen. Sie dienten auch als bislang prominenteste Aushängeschilder der Wiener Grünflächenpolitik nach 1945 – einer Politik, die im Rahmen des Bekenntnisses zu einem „sozialen Städtebau“ 3 die wichtige soziale und ökologische Funktion von „Grün in der Großstadt“ 4 betonte und „Soziales Grün“ zu ihrem Leitbegriff erhob. Nach Kriegsende hatte die Stadt nicht nur in den Wiederaufbau der zerstörten Gartenanlagen und Parks investiert, sondern allein zwischen 1950 und 1963 147 neue Gärten – vor allem in Siedlungen, Wohnhausanlagen und im Umfeld von Schulen – angelegt.5 „Die Gärten und Grünflächen unserer Stadt sollen als eine freie, weiträumige Stadtlandschaft den naturverbundenen Rahmen schaffen, um die alte Stadt zu verjüngen, damit in ihr viele gesunde, starke und schöne Menschen eine bessere Welt aufbauen können“, schrieb Bürgermeister Franz Jonas im Geleitwort zu Soziales Grün in Wien 6 – und machte damit deutlich, dass die Grünraum­ planung der Stadt ganz im Dienste des Wiederaufbaus stand.

11


Ein Symbol für Fortschritt und Modernität Vom erfolgreichen Abschluss dieses Wiederaufbaus und vom buchstäblichen „Wiederaufblühen“ Wiens wollte auch die gemeinsam vom Wiener Stadt­ gartenamt und vom Verband der Erwerbsgärtner Österreichs veranstaltete Wiener Internationale Gartenschau Zeugnis geben. Vom Bureau International des Expositions am 7. Juni 1961 als „Weltausstellung“ anerkannt, steht die WIG 64 prototypisch für zeitgenössische Versuche, ein nach dem Krieg wiedererstarktes Österreich im „friedlichen Wettstreit der Nationen“ 7 zu positionieren und Wien wieder zur „Weltstadt“ zu erheben. Die international stark beworbene Schau sollte nach dem Wunsch der Veranstalter wesentlich dazu beitragen, Tourismus und Handel anzukurbeln; zugleich sollte sie der internationalen Fachwelt in den Bereichen Gartenbau und Landschaftsarchitektur Österreichs Rückkehr auf die internationale Bühne und ein konkurrenzfähiges Anschließen an internationale Trends und Diskurse demonstrieren.8 Dass auf der WIG 64 international renommierte Landschaftsarchitekten wie Roberto Burle Marx für die Gestaltung von Nationengärten gewonnen werden konnten, ließ sich als Anerkennung dieser Bemühungen lesen. Nicht nur die Größe und Weite des Ausstellungsareals und dessen zeitge­ mäße Gestaltung, sondern auch die modernen Ausstellungs­bauten auf der WIG 64 sollten Fortschrittlichkeit und Weltoffenheit ausstrahlen. Spektakuläre Attraktionen wie der 252 Meter hohe, als Aussichtsturm konzipierte Donauturm oder der Ruthnerturm – ein Turmgewächshaus, in dem stolz vorgeführt wurde, wie die voll automatisierte Pflanzenaufzucht der Zukunft aussehen könnte – zeugten vom Bekenntnis zu Modernität und vom noch ungetrübten Glauben an den technologischen Fortschritt. Besonders futuristisch mutete ein „Mondzelt“ an, das einen utopischen Garten mit Pflanzen für Astronauten­ nahrung beherbergte. Dieser Beitrag Österreichs zu den „Gärten der Nationen“ sowie ein Klettergerüst am Kinderspielplatz in Form einer „Mondrakete“ symbolisierten den umfassenden Wunsch nach Aufbruch in ein neues, modernes Zeitalter wohl am augenfälligsten von allen Attraktionen auf der WIG 64. Ausgestattet mit derartigen weithin sichtbaren Zeichen der Modernität, wurde das Projekt WIG 64 wesentlicher Bestandteil jener Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte Wiens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die als Grunderzählung zahlreiche offizielle städtische Publikationen der 1950er- und 1960er-Jahre prägte.9 Nicht nur dort, auch in den öffentlichen Diskursen um die WIG 64 selbst wurden durch den Rückbezug auf die viel beschworene „Stunde Null“ 1945 die Schattenseiten der jüngeren Vergangenheit konsequent ausgeblendet: Dass auf genau jenem Areal, auf dem die Besucherinnen und Besucher nun zwischen Rosen und Azaleen wandelten, in der NS-Zeit Deser­teure hingerichtet worden waren, war rund um die WIG 64 ebenso wenig ein Thema wie die Zwangsabsiedelung der letzten Bretteldorferinnen und Brettel­dorfer, die der Errichtung des Donauparks weichen mussten. Indem sie ein Stück un­ liebsamer Geschichte für immer zuschüttete und buchstäblich ‚Gras über die Sache wachsen‘ ließ, ist die WIG 64 selbst ein sinnfälliges Beispiel für eine Geschichtspolitik der Nachkriegszeit, die auf das Prinzip Tabula rasa setzte.

12

Die „Mondrakete“ am SparefrohSpielplatz auf der WIG 64, 1964 (Foto: L. Zotter)


Zeit des Übergangs

Ansichtskarte WIG 64

Die WIG 64 kann somit in vielerlei Hinsicht als ein Schlüsselereignis der Wiener Geschichte nach 1945 betrachtet werden, in dem allgemeine politische, soziale und wirtschaftliche Transformationsprozesse der österreichischen Nachkriegsgesellschaft konzentriert sichtbar werden. Die Fotos und Dokumente zur Gartenschau zeugen von einer Zeit des Übergangs – einer Zeit, in der, wie uns ein damals 27-jähriger und von der WIG 64 begeis­ terter Zeitzeuge berichtete, „die Kriegswirren und die Nachkriegssorgen vorbei waren und in der man das erste Mal wieder so richtig durchatmen, Ballast abwerfen konnte“; einer Zeit, „in der es erstmals eine Phase bescheidenen Wohlstands gab“.10 Das konstante Wirtschaftswachstum seit Mitte der 1950er-Jahre hatte zur Steigerung der Masseneinkommen und des Lebens­ niveaus beigetragen; die Senkung der Normalarbeitszeit auf 45 Stunden pro Woche hatte einen Zuwachs an Freizeit für lohnabhängig Beschäftigte mit sich gebracht.11 Viele Wienerinnen und Wiener fuhren mit ihrem ersten Auto auf die WIG 64, probierten hier ihren ersten Fotoapparat aus oder drehten hier einen ihrer ersten Schmalspurfilme. Weite Reisen waren damals für viele noch ein unerschwinglicher Luxus; hier konnte man zumindest einen neuen Ort in der Stadt entdecken, der nicht nur mit einem in seiner Quantität und Vielfalt beeindruckendem Pflanzensortiment aufwartete, sondern auch weniger Gartenaffinen ein breites Spektrum an Attraktionen, kulinarischen Genüssen und Unterhaltungsprogrammen bot – von Konzerten auf der Seebühne über Modeschauen bis hin zu „Monsterfeuerwerken“ 12. Als Zeitdokument erzählt die WIG 64 von einer Phase der Konsolidierung, in der der eigentliche Wiederaufbau abgeschlossen und Optimismus eingekehrt, die ‚wilden‘ 1960er-Jahre und der gesellschaftspolitische Aufbruch der 1970er-Jahre aber zugleich noch fern waren. War für die Gemeinde Wien und den Großteil der österreichischen Medien die WIG 64 der Inbegriff von Modernität schlechthin, so beklagten Kritiker wie der deutsche Landschaftsarchitekt Hermann Mattern die „Gedankenarmut“ und mangelnde Aktualität der Gestaltung.13 Auch der österreichische Architekt Hermann Czech sah in der WIG 64 eher die „wildgewordene Phantasie eines Kleingärtners“ verwirklicht als einen großen Wurf und kritisierte neben der Spießigkeit des Projekts die „schulmeisterliche“ Haltung der Stadtplanung, die in jedem einzelnen Winkel der Anlage spürbar sei.14 Eine solche Kritik an einer bevormundenden Gestaltung war im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der WIG 64 noch rar. Insgesamt sollte das Unbehagen an einer Stadtplanung, die Großprojekte ausschließlich ‚von oben‘ implementierte, in den Folgejahren jedoch wachsen und erste Bürgerinitiativen auf den Plan rufen, die gegen eine solche paternalistische Politik Widerstand leisteten – und das bis in die Gegenwart tun.

13


Was bleibt? Von der Politik und den Medien als Erfolgsprojekt bilanziert und als Ausstellungsformat erprobt, sollte die Wiener Internationale Gartenschau im Jahr 1974 eine Neuauflage am Laaer Berg im 10. Bezirk erfahren. Auch die WIG 74 diente der Landschaftssanierung: Sie wurde auf einem weitläufigen Areal realisiert, auf dem im 19. Jahrhundert vornehmlich böhmische Arbeiterinnen und Arbeiter Ziegel aus der Landschaft gestochen hatten. Mit rund 2,6 Millionen Besucherinnen und Besuchern konnte sie zwar einen größeren Publikumsansturm als ihre Vorgängerin verzeichnen,15 wurde aber bereits während der Ausstellung von der Fach- sowie der Tagespresse stark kritisiert und nicht mehr als umfassender Erfolg verbucht.16 Ende 1974 wurde das Gelände in die öffentliche Kurparkanlage Oberlaa umgewandelt. Obwohl sich die Stadt in weiterer Folge bei den Pariser Behörden bereits für eine WIG 84 beworben hatte,17 fehlte letztlich die politische Durchschlagskraft für die Realisierung einer weiteren Gartenschau in Wien. Was von der WIG 64 blieb, ist der neben dem Kurpark Oberlaa größte Park, den die Stadt Wien seit 1945 errichtet hat. Die ästhetischen Qualitäten des Donauparks waren schon 1964 umstritten und sie sind es nach wie vor: „Die gärtnerische Superschau“, schreibt Friedrich Achleitner in seinem 2010 erschienenen Wiener Architekturführer über den Donaupark, „ist wohl bis heute noch ein Indiz für die Dominanz der Quantität über die künstlerische Qualität des Wiener Stadtgartenamts.“ 18 Wie auch immer man zu seinen gestalterischen Qualitäten im Detail stehen mag – die räumliche Grundstruktur des Donauparks hat sich, so die These dieser Ausstellung, langfristig bewährt. Von den ursprünglich projektierten 1.000.000 Quadrat­metern sind zwar nur mehr rund 600.000 übrig geblieben. Mit seiner dennoch überdurchschnittlichen Größe und seinem spezifischen Wechselspiel von gestalterisch definierten und nutzungsoffenen Räumen bietet der Donaupark jedoch bis heute unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen Raum für verschiedene Betätigungen. Von der Lebendigkeit und Vielfalt dieser Nutzungen zeugen auch die Fotografien von Klaus Pichler, mit denen der Textteil dieses Katalogs schließt. Sie legen den Schluss nahe, dass das wachsende Wien des 21. Jahrhunderts durchaus mehr neue Grünräume ähnlicher Größe gebrauchen könnte. Gegenüber den heute realisierten Parks wäre dazu allerdings mehr als ein Dezimalsprung in der Quadratmeterzahl notwendig.19

14


1  Vgl. den Beitrag von Annemarie Bucher in diesem Band. 2  Der Donaupark im Werden – Das grüne Herz von Wien, in: Soziales Grün in Wien, hg. vom Magistrat der Stadt Wien – Stadtbauamtsdirektion Wien in der Buchreihe der aufbau, Wien (1963) 24, 3. Aufl., S. 80. 3  Vgl. dazu Siegfried Mattl: Wien im 20. Jahrhundert (Geschichte Wiens VI), Wien 2000, S. 135–145. 4  So der Titel der Sondernummer der Zeitschrift Stadt Wien. Offizielles Organ der Bundeshauptstadt anlässlich der WIG 64 (1964). 5  Vgl. Siegfried Freiberg: Grün in der Großstadt, in: Karl Ziak (Red.): Wiedergeburt einer Weltstadt. Wien 1945–1965, Wien 1965, S. 149–161; S. 158. 6  Vorwort von Bürgermeister Franz Jonas, in: Soziales Grün in Wien, hg. vom Stadtbauamte der Stadt Wien in der Buchreihe der aufbau, Wien 1954/1957/1963, o. S. 7  Vgl. den vom Wiener Stadt­ gartenamt produzierten Film WIG 64 – Werden und Sein, o. J. 8  Vgl. Ulrike Krippner, Lilli Lička: Wiener Internationale Gartenschauen 1964 und 1974 – Auf­bruch in die Postmoderne?, in: Die Gartenkunst, 2 (2007) 18, S. 381–398. 9  Vgl. u. a. Ziak, Wiedergeburt einer Weltstadt.

12  Vgl. Plakat „WIG 64 nur mehr bis 11. Oktober, Monsterfeuerwerk 3.10.“, Wienbibliothek im Rathaus, Sign. P 38200. 13  Hermann Mattern: Ein Nachmittag in Schönbrunn, in: Garten und Pflanze (1964) 10, S. 254– 257; S. 256. 14  Hermann Czech: Schau, schää… (1964), in: ders.: Zur Abwechslung. Ausgewählte Schriften zur Architektur Wien. Mit einem Nachwort von Arno Ritter, Wien 1996, S. 81–83; S. 82 f. 15  Vgl. http://www.wien.gv.at/ umwelt/parks/anlagen/ kurparkoberlaa.html (21.2.2014). 16  Vgl. Krippner, Lička, Wiener Internationale Gartenschauen 1964 und 1974, S. 396. 17 Doris Kraus: Kein Geld für die WIG. Gartenschau ‚gestorben‘, in: Die Presse, 6.4.1983, S. 8. 18  Friedrich Achleitner: Österreichische Architektur im 20. Jahr­ hundert. Ein Führer in vier Bänden. Band III/3: Wien: 19.–23. Bezirk, St. Pölten/Linz 2010, S. 362. 19  Verglichen mit dem Donaupark nehmen sich die gegenwärtig realisierten und projektierten „großen“ neuen Parks der Stadterweiterungsgebiete als Miniaturen aus: Rudolf-Bednar-Park (Nordbahnhof, 2005): 30.000 Quadratmeter; Helmut-Zilk-Park (Zentralbahnhof, 2017): 70.000 Quadratmeter; Seepark Aspern (Seestadt Aspern, 2014): 50.000 Quadratmeter.

10  Gespräch mit Friedrich Kager, Dezember 2013. 11 Vgl. Gerhard Meißl: Ökonomie und Urbanität. Zur wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Peter Csendes, Ferdinand Opll (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt. Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien 2005, S. 651–738; S. 678 f.

15


Ansichtskarten WIG 64, 1964







Gartenschauen im 20. Jahrhundert. Zwischen inszenierter Natur und gestaltetem Freiraum Annemarie Bucher

Gartenschauen sind heute längst ein selbstverständ­ licher Beitrag zum urbanen Lebensraum geworden. Sie bewegen sich zwischen Stadtmarketing und Planung, zwischen Kunst und Kommerz. Die Idee, Garten und Landschaft in den Fokus öffentlicher Ausstellungen zu bringen, geht bis in die Renaissance zurück.1 Starken Auftrieb erfuhr sie im Kontext der Welt- und Landesausstellungen des 19. Jahrhunderts; in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schrieb sie sich deutlich sichtbar in das Bild vieler europäischer Städte ein. Mit spektakulären temporären Shows und bleibenden Grünanlagen prägten Gartenschauen nicht nur den physischen Stadtraum wesentlich mit, sondern auch die Erinnerungen breiter Publikumsschichten. (Abb. 1) Der deutsche Gartenarchitekt Gustav Allinger erklärte Blumen- und Gartenschauen im Jahr 1963 zu „kulturelle[n] Gesamtleistungen – kulturell im pflanzlichen wie im ethischen und künstlerischen Sinn“. Sie würden Visionen verkörpern, die weit über den Gartenzaun hinaus wirkten. 2

europäischen Ländern, Pflanzengesellschaften und Gartenbauvereine gegründet, die Blumen- und Pflanzenschauen organisierten und Auszeichnungen für besondere gärtnerische Produkte und Leistungen verliehen. Vorreiter war hier die Royal Horticultural Society in London, die regelmäßig im Frühjahr eine Gartenschau abhielt, die ab 1913 unter dem Namen Chelsea Flower Show legendär wurde. Diese Fachausstellungen zeigten zunächst zwar nur Pflanzen, machten dann aber in zunehmendem Maß mit Plänen und Schaugärten auch die Gartengestaltung selbst zum Thema. Sie wurden rasch größer, und die Städte entdeckten, dass ihre starke Anziehungskraft auf auswärtige Besucherinnen und Besucher sowie Aussteller ein wertvolles Kapital darstellte. So war es nur folgerichtig, dass in Hamburg 1869 die erste Inter­nationale Gartenbauausstellung (IGA) realisiert wurde. 420 Aussteller aus neun euro­ päischen Ländern und den USA präsentierten hier erfolg­reich ihre gärtnerischen Produkte. Die IGA wurde zum Vorbild für eine ganze Reihe von weiteren Ausstellungen im 19. Jahrhundert.

Natur im Ausstellungsformat

Das Format der reinen Produktschau reichte dabei bald nicht mehr aus, um die Erwartungen eines größer werdenden Publikums zu befriedigen; immer stärker trat das einmalige Ausstellungserlebnis in den Vordergrund. Ausstellungen wie die Allgemeine Hamburger Gartenbauausstellung 1897 reagierten auf diesen Trend: Sie war weniger eine Anhäufung von Produkten als vielmehr ein räumlich und zeitlich durchkomponiertes Ereignis, das von Mai bis Oktober dauerte und auf einem parkartigen Gelände inszeniert wurde.

In der Renaissance war das Sammeln und Ausstellen von allerlei Gegenständen der Kunst und Wissenschaft sowohl mit Interessen der Erkenntnisproduktion als auch der Repräsentation verbunden. Natur und Kunst wurden hauptsächlich in privatem Rahmen – Kunst- und Wunderkammern – gesammelt und nur temporär der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Analog zu solchen Wunderkammern entstanden auch prototypische Pflanzen- und Blumenschauen. Der Adel und das wohlhabende Bürgertum öffneten ihre exklusiven botanischen Sammlungen und Gärten zeitweise für das Volk und stellten sich damit selbst aus. Aufklärung und Industrialisierung veränderten die Rahmenbedingungen für solche Ausstellungen grundlegend. Zum einen wurde die Natur vermehrt der ästhetischen Betrachtung unterzogen – sie wurde eine ideale Gegenfigur zum städtischen Alltag. Zum anderen ging das aristokratische und großbürgerliche Interesse an Pflanzen und Gärten sowie den damit verbundenen Repräsentationsmöglichkeiten auch auf das breite Bürgertum über. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in England, wenig später auch in anderen

22

Starke Anleihen nahmen die Gartenschauen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bei den zeitgenössischen Weltausstellungen, in deren Windschatten sie sich formal wie inhaltlich entwickelten. Auf diesen stark vom politischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Wettstreit der Nationen und der kolonialen Weltordnung geprägten Leistungsschauen wurde „die Welt“ in komprimierter Form einem europäischen Publikum als Spektakel dargeboten. In diesem Ausstellungskontext entwickelten sich auch Gärten und Landschaften zu einer Projektionsfläche mit vielfältigem Potenzial.


Abb. 1: Ansichtskarte der G59 in Zürich, 1959

Eindrucksvolle temporäre Ausstellungslandschaften sollten in Folge die Wahrnehmung breiter Massen wesentlich mitprägen. 3 Sowohl die Großausstellungen des späten 19. Jahrhunderts als auch die selbständigen Gartenschauen dieser Zeit waren konzeptuell und formal vom spätklassizistischen Landschaftsgartenstil geprägt. Mit seinen bildhaft komponierten Pflanzungen und szenisch aufgebauten Schlängelwegen ermöglichte dieser Gestaltungsansatz, unterschiedliche Attraktionen zu einem spektakulären Gesamterlebnis zusammenzuführen. Exemplarisch war dies an der zweiten Schweizerischen Landesausstellung 1896 in Genf zu sehen. Höhepunkte dieser Schau bildeten das Village Suisse (Schweizer Dörfli) und das Village noir (Neger-Dörfli). Für das Schweizer Dörfli wurde eine künstliche Felsenlandschaft mit einem Wasserfall und Chalets nachgebildet und mit „Trachtenvolk“ belebt (Abb. 2) ; „künstliche Berge“ waren danach als Symbol für die Schweiz in internationalen Ausstellungen nicht mehr wegzudenken. Im Neger-Dörfli versuchte ein umtriebiger Geschäftsmann „afrikanische Atmosphäre“ zu erzeugen, indem er 230 Menschen aus dem Sudan nach Genf brachte und diese einen Sommer lang – voyeuristischen Blicken ausgesetzt – in Lehmhütten hausen ließ. Gärten und künstliche Landschaften hatten hier die Funktion einer idealen Kulisse für die temporäre Unterhaltung eines städtischen Publikums und befriedigten dessen Bedürfnisse nach dem Exotischen.

Zweckmäßiges Stadtgrün und nationale Repräsentation Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschoben sich die Zielsetzungen des Ausstellens noch deutlicher in Richtung der Inszenierung von Themenwelten und Land-

Abb. 2: Fred (François-Frédéric) Boissonas, Das Schweizerdorf auf der Schweizerischen Landesausstellung in Genf, 1896

schaften. Die Pariser Kolonialausstellung von 1931 zeigt dies exemplarisch auf: In verschiedenen Länderpavillons versuchte man mittels traditioneller Kunst und Architektur aus den Kolonien die Illusion des friedlichen Nebenein­ anders der Kulturen zu erzeugen und gleichzeitig die Gräuel der europäischen Kolonialherrschaft zu verschleiern. Pittoreske Landschaften aus allen Erdteilen wurden auf kleinstem Raum präsentiert. Mit dem tiefgreifenden Wandel der Städte im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung veränderten sich auch die Rahmenbedingungen für die Gartenarchitektur und das Gärtnergewerbe. Im Zuge von Stadterweiterungen waren zahlreiche Stadtparks, Volksgärten und Promenaden entstanden. Sie schufen nicht nur ein neues Arbeitsfeld für Gärtner und Gartenarchitekten, sondern veränderten auch den Status der gestalteten Natur im Stadtraum. Repräsentatives und zugleich funktionales Stadtgrün wurde zunehmend zur kommunalen Aufgabe und bestimmte in der Folge die Konzeption von Gartenschauen. Unter dem Einfluss der Kunstgewerbe- und Lebensreform und des Werkbunds vollzog sich in der Gartenkunst des frühen 20. Jahrhunderts auch ein markanter Stilwandel. Der architektonische Garten, der sich nun am Raumprogramm des Hauses orientierte, löste den klassizistischen Landschaftsgarten mit seiner pittoresken Naturästhetik ab. Im Zeichen von Arts and Crafts-Bewegung und Jugendstil war alle Gestaltung in das Konzept des Gesamtkunstwerks eingebettet. Architekten, Künstler und Gartenarchitekten entwickelten erstmals gemeinsam Modelle für die Gartengestaltung im Sinne einer zweckmäßigen „Raumkunst im Freien“. Dieser Trend wurde beispielsweise in den Sondergärten der Gartenbauausstellungen in Düsseldorf (1904), Darmstadt (1905) und Mannheim (1907) sowie in diversen Werkbund-Ausstellungen zu dieser Zeit erkennbar.

23


Abb. 3: Plakat der BUGA 1951 in Hannover (Grafische Gestaltung: Richard H. Rump) Abb. 4: Plakat der G59 in Zürich (Grafische Gestaltung: Franz Fässler)

Eine erneute Kurskorrektur brachte der sogenannte „Wohngartenstil“. Angesiedelt zwischen neuer Sachlichkeit und Heimatstil, war der Garten diesem Ansatz nach entweder seiner Funktion unterzuordnen – künstlerische Ansprüche an die Gestaltung waren damit obsolet –, oder er sollte zum Sinnbild für eine Heimat im Kleinen werden, ein auf die privaten Bedürfnisse abgestimmter blühender Wohnraum im Freien. Diese Strömung wurde auch zum dominanten Stil der Gartenbauausstellungen der 1930er-Jahre – wenn auch mit unterschiedlichen ideologischen Zielrichtungen. Im nationalsozialistischen Deutschland stellten die Reichsgartenschauen, die im Dienste der staatlichen Propaganda standen, den Garten als Sinnbild des „Reichsnährstandes“ dar. Das „schaffende Volk“ und sein „deutscher Lebensraum“ standen im Zentrum der Präsentationen. Die Mustergärten und Mustersiedlungen der dritten Reichsgartenschau in Stuttgart 1939, die unter der Leitung des prominenten Gartenarchitekten Hermann Mattern stand, propagierten explizit eine

24

moderne „deutsche Gartenkunst“. Sie unterstrichen die Idee eines nationalen Gartenstils, ohne jedoch in eine konservative Gestaltungshaltung zu verfallen. Nationale Werte sollte auch die vierte Schweizerische Landesausstellung 1939 in Zürich (Landi 39) vermitteln. Unter dem Motto „Kleines Volk schafft grosse Werke“ präsentierte sich die Landi als Ausdruck einer selbstbewussten, unabhängigen und eigenständigen Nation. Unter der Leitung von Gustav Ammann entstand eine Ausstellungslandschaft, die klar strukturiert war und in zahlreichen Sondergärten und Außenanlagen thematische Schwerpunkte bildete. Die Gartengestaltung wurde, wie auch der Gartenarchitekt Walter Leder betonte, zu einem wichtigen Symbolträger: „Unsere blühende, grüne Landi ist ein grosser Blumengarten der schönen Heimat und der lebendige Ausdruck freudiger, freiwilliger, hoffnungsfroher Zusammengehörigkeit.“ 4 Sämtliche gestalterische Bestrebungen auf dieser Schau waren von der Suche nach einem allgemeingültigen und verbindlichen „schweizerischen Stil“ geprägt.


Gartenschauen als Instrumente des Wiederaufbaus Nach 1945 verwendeten vor allem deutsche Städte Gartenschauen konsequent als Instrument, um kriegszerstörte Parkanlagen wiederaufzubauen, Trümmerhalden und Schuttberge durch neue parkartige Erholungsflächen zu ersetzen und Stadtteile aufzuwerten. Die Ausstellungen wurden zu zentralen Symbolen des wirtschaftlichen wie auch des kulturellen Wiederaufbaus. Um möglichst rasch benutzbare städtische Freiräume zu schaffen, wurden in Ost- und Westdeutschland beinahe im jährlichen Rhythmus Gartenschauen durchgeführt. Den Startschuss in der DDR setzte unmittelbar nach Kriegsende die Erfurter Gartenschau 1945, mit deren Hilfe Landwirtschaft, Gärtnergewerbe, Industrie und Handel wieder angekurbelt werden sollten. Zwei Jahre später stellte in Leipzig eine große Schau den sozialistischen Erwerbsgartenbau ins Rampenlicht. Unter dem Motto „Erfurt blüht“ fand 1950 die erste nationale Gartenschau der DDR statt, die aufgrund ihrer Vergnügungsangebote ein durchschlagender Publikumserfolg war und Erfurt den Titel „Blumenstadt“ einbrachte. Einen Höhepunkt in der Geschichte der Gartenausstellungen in der DDR stellte schließlich die erste Internationale Gartenbauausstellung der sozialistischen Länder in Erfurt 1961 dar. Sie sollte demonstrieren, dass „der Gartenbau der sozialistischen Gesellschaft demjenigen der kapitalistischen überlegen“ 5 und deshalb die „merkantile Tendenz“ 6 zu vernachlässigen und die „große Form“ 7 zu betonen sei. Der verantwortliche Gartenarchitekt Reinhold Lingner schuf nicht nur eine respektable Propagandaschau, sondern auch ein bedeutendes Werk der modernen ostdeutschen „Garten-Kunst“, indem er für die Konzeption des Ausstellungsgeländes eine geometrisch-abstrakte Ästhetik vorgab. Den Reigen der Gartenschauen in der BRD eröffnete 1949 die Südwestdeutsche Gartenbau-Ausstellung (SÜWEGA) in Landau/Pfalz mit einem vorwiegend gewerblichen Ausstellungsprogramm. In den nachfolgenden Veranstaltungen drängten vermehrt ästhetische Belange und Fragen des ideologischen Kontexts in den Vordergrund. Die Deutsche Gartenschau 1950 in Stuttgart zeigte exemplarisch auf, dass nach dem Krieg in der Gartengestaltung sowohl der verstärkte Bezug zur Moderne als auch eine ideologische Korrektur angesagt waren: Der Höhenpark am Killesberg, Austragungsort der letzten Reichsgartenschau, war durch Luftangriffe stark beschädigt worden. Als Reparaturmaßnahme griff man erneut zum Instrument einer Gartenschau, die den Park zwar auf der alten gestalterischen Grundlage reaktivieren, aber dezidiert für einen gesellschaftlichen und politischen Neubeginn stehen sollte. Die Leitung hatte Hermann Mattern inne, der zwar schon für den Gesamtplan der Reichsgartenschau von 1939 verantwortlich zeichnete, aber zugleich auch Garant für eine gärtnerische Moderne war und das Vertrauen genoss, eine ideologische Neuausrichtung anzustreben.

1951 eröffnete der erste Bundespräsident der BRD, Theodor Heuss, die erste Bundesgartenschau (BUGA) in Hannover, die den Grundstein für eine bleibende Institution legte. Mit ihren modernen Gartengestaltungen und einem Blumenkorso sollte die BUGA den Menschen im zerstörten Deutschland Hoffnung und Mut zum Neuanfang machen. (Abb. 3) Dieses Bekenntnis zum Neuanfang wurde zusätzlich durch eine Ausstellung mit Kunstwerken von im Dritten Reich verfolgten Künstlern unterstrichen. Bundesund Landesgartenschauen wurden ab nun zu einer fixen Institution: Weitere Ausstellungen in Hamburg (1953), Kassel (1955) und anderen Städten folgten. Sie fanden über Deutschland hinaus Anerkennung und beförderten den Wunsch der Veranstalterinnen und Veranstalter, herausragende Leistungen und Ideen auch in stärker international ausgerichteten Formaten zu präsentieren. Aus den verschiedenen regionalen und überregionalen Ausstellungen gingen schließlich die nationalen Institutionen der BUGA (Bundesgartenschau), die alle zwei Jahre durchgeführt wird, und der IGA (Internationale Gartenbauausstellung), die alle zehn Jahre stattfindet, hervor. Der Boom der Gartenschauen nach 1945 führte nicht zu­ letzt zur Gründung einer verwandten Institution auf dem Gebiet der Kunst: 1955 wurde in Kassel unter der Leitung von Hermann Mattern nicht nur die zweite Bundes­ gartenschau, sondern gleichzeitig unter der Leitung von Arnold Bode auch die erste documenta durchgeführt. Die documenta wurde gegründet, um die moderne Kunst zu rehabilitieren und eine internationale Plattform für zeitgenössisches Kunstschaffen nach dem Modell der Gartenschauen aufzubauen. 8 Solche Synergien bildeten sich auch dadurch, dass die führenden Köpfe der beiden Ausstellungen an der Kasseler Werk-Akademie lehrten und in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern explizit an die Moderne vor dem Zweiten Weltkrieg anknüpften.

Weltweites Gartenschaufieber In Deutschland wurde im Zusammenhang mit den regionalen und nationalen Gartenschauen der Nachkriegszeit nicht nur effiziente Wiederaufbauarbeit geleistet. Auch Form und Funktion der Gartenarchitektur wurden einer Revision unterzogen. Wie sollten zeitgenössische Gärten aussehen? Stilfragen standen ganz im Zeichen abstrakter Formen und moderner Materialien und orientierten sich – wie es der britische Landschaftsarchitekt Geoffrey Jellicoe explizit einforderte9 – an den Tendenzen der bildenden Kunst.10 Die neuen Gärten manifestierten damit nicht nur die ästhetischen Ideale der Moderne. Sie erwiesen sich auch als Vorbilder sowohl für die Disziplin der Gartengestaltung als auch für den gärtnerischen Produktionssektor. Gartenschauen wurden zum idealen Zeigeformat dafür. Weltweit wurden damals neue Ausstellungsformate im Sektor Gartenbau und Landschaft geschaffen. Auch in der Schweiz diskutierte man angesichts des kriselnden Gärtnergewerbes in den 1950er-Jahren über die Durch-­ führung einer nationalen Gartenbauausstellung.

25


Abb. 7: Staudengarten am See (Willi Neukom und Ernst Baumann) auf der G59 in Zürich, 1959

Sie sollte dem Gartenbau neue Orientierung geben und der schweizerischen Gartenarchitektur zu neuem Selbstbewusstsein verhelfen. 1959 wurde in Zürich die legendäre G59, die erste schweizerische Gartenbau­ Ausstellung, realisiert.11 (Abb. 4, 5) An beiden Ufern des Zürichsees wurden dem Publikum einen Sommer lang Themengärten, temporäre Blumen­ und Gemüseschau­ en sowie ein buntes Unterhaltungsprogramm geboten.

Abb. 5: Eingang der G59 in Zürich, 1959 Abb. 6: Garten des Poeten (Ernst Cramer) auf der G59 in Zürich, 1959 Abb. 8: Erster Entwurf für den Garten des Poeten (Willi Neukom) für die G59

26

Für die Fachwelt stand auf der G59 die Forderung nach Innovationen und nach einer „experimentellen“ Grün­ flächenplanung im Vordergrund. Nachhaltige Wirkung hinterließen hier die Themengärten, die nicht nur natio­ nal, sondern auch international ausstrahlten. Vor allem Ernst Cramers ultra-reduzierter Garten des Poeten12 sowie Ernst Baumanns und Willi Neukoms Staudengarten am See13 prägten in der Folge nicht nur Fachdiskurse über zeitgemäße Gestaltung, sondern auch die Gestal­ tungspraxis selbst. (Abb. 6, 7) Exemplarisch zeigte sich dies in der Verbindung traditioneller Naturbilder mit modernen Formen. Wurden Berge als Symbole der idealen Schweizer Landschaft im Rahmen des klassizistischen Landschaftsbildes bildlich en miniature nachgebaut, so entwickelte sich im Laufe der Moderne eine zunehmend abstraktere Symbolsprache. Für die G59 hatte Willi Neukom einen Garten des Poeten mit abstrakten künstlichen Felsen konzipiert, die Umsetzung jedoch an Ernst Cramer abgegeben, der geometrische Rasenpyramiden mit einer zentralen Wasserfläche realisierte. Für seinen Berggarten auf der Wiener Internationalen Gartenschau 1964 (WIG 64) besann sich Neukom jedoch wieder auf seinen Entwurf mit den abstrakten Felsen. (Abb. 8)


Das Großereignis und der Wendepunkt in der Geschichte der modernen Gartenausstellungen nach 1945 war zweifellos die IGA 63 in Hamburg.14 (Abb. 9) Nach wie vor lockten dort Hallenschauen und Blumenbeete das Laienpublikum an. Doch im Zentrum standen moderne Themengärten unter dem Motto „Gartenwohnen der Nationen“. (Abb. 10) Ähnlich wie die Länderpavillons auf den Weltausstellungen sollten diese Nationengärten einen Eindruck von modernen Wohngärten auf der ganzen Welt, von Brasilien bis Japan, von Marokko bis Schweden, vermitteln. Ausstellungsleitung und Presse sprachen denn auch mit Stolz von einer „Weltausstellung des Gartenbaus“. Namhafte internationale Landschaftsarchitekten schufen Schaugärten, darunter Roberto Burle Marx aus Brasilien, Akiro Sato aus Japan und Ernst Cramer aus der Schweiz; Vertreter der skandinavischen Moderne wie Gunnar Martinsson und Edvard Jakobson überzeugten mit mehreren Beiträgen. Die einzelnen Gärten, die als „Schaufenster der Nationen“ wahrgenommen wurden, stellten gartenarchitektonische Maßarbeiten im Hinblick auf die regional spezifischen klimatischen und topografischen Bedingungen und Bedürfnisse dar. Sie seien, wie es Karl Heinz Hanisch in Pflanze und Garten 1963 beschrieb, vergleichbar mit Maßanzügen für verschiedene Berufsgruppen.15 In den 1960er-Jahren griff das Gartenschaufieber auch auf andere Länder über und führte zur Etablierung weiterer regelmäßiger Ausstellungen sowie zur Abhaltung einmaliger Schauen. In Rotterdam wurde 1960 die Floriade gegründet, die bis heute alle zehn Jahre an wechselnden Standorten in den Niederlanden abgehalten wird. 1964 fanden in Wien und in Tokio internationale Gartenbauausstellungen statt, die Folgeveranstaltungen auslösten. Die Tatsache, dass sich städtebauliche Neuplanungen nach wie vor bestens mit der Veranstaltung von Gartenbauausstellungen verbinden ließen, verstärkte in den 1960er-Jahren deren stadtplanerische und gesellschaftspolitische Bedeutung.

Wertewandel. Gartenschauen zwischen Ökologie und Kunst In den 1970er-Jahren verloren die modernen Gärten mit ihren utopischen Weltvisionen immer stärker an Glaubwürdigkeit. Akute Umweltprobleme und die postmoderne Kritik an den Standpunkten der modernen Planung veränderten das gesellschaftliche Naturverständnis und unterstrichen die Forderung nach dem Schutz der bedrohten Natur. Vor diesem Hintergrund galten Garten­ schauen zunehmend als politische Werbeveranstaltungen, deren sterile Naturklischees der unmittelbaren Erfahrung und den eigentlichen Bedürfnissen nach Natur und Freiräumen in der Stadt im Weg stünden. Die aufkommende Ökologie- und Naturgartenbewegung stellte denn auch die moderne Formgebung in Frage und propagierte Eingriffe auf der Ebene der Ökosysteme – eine Art „Anti-Gestaltung“, deren Resultate Biotope und bildhafte Natürlichkeit waren. Die BUGA 1979 in Bonn

Abb. 10: Brasilianischer Garten (Roberto Burle Marx) auf der IGA 63 in Hamburg Abb. 9: Plakat der IGA 63 in Hamburg (Grafische Gestaltung: Wolf D. Zimmermann)

27


war die erste Ausstellung, die auf diese Forderungen reagierte: Auf einer Brache und auf Landwirtschaftsland am Rheinufer veranstaltete sie eine Schau, deren Gelände in der Folge zum städtischen Naherholungsgebiet erklärt wurde. Den endgültigen Durchbruch der Naturgartenbewegung markierte die zweite schweizerische Gartenbau-Ausstellung Grün 80 in Basel. Im Rahmen dieser Ausstellung wurde vor den Toren der Stadt auf einem landwirtschaftlich genutzten Gebiet mit großem technischen Aufwand ein naturnaher Park geschaffen, der in der Folge zu einem beliebten Naherholungsgebiet wurde. Insgesamt wurde die Gartenschau exemplarisch als Biologie-Labor und Lernort für Umweltfragen inszeniert. (Abb. 11) Eine erneute Kursänderung erfuhren die Gartenschauen in den 1990er-Jahren, als die Gartenarchitektur selbst wieder stärker zur formalen Gestaltung zurückkehrte und darüber hinaus Allianzen mit der bildenden Kunst einging. Auf der einen Seite wurden Gartenschauen mit Kunstprogrammen angereichert, auf der anderen Seite entdeckten Künstlerinnen und Künstler das Gärtnerische als zeitgemäße Ausdrucksform. Seit 1992 findet in Frankreich im Park des Schlosses Chaumont sur Loire jährlich ein Gartenfestival statt, das zur internationalen Plattform für eine zeitgenössische Gartenkunst herangewachsen ist. Einen ähnlichen Schritt in Richtung Gartenkunst unternahm 1997 die Stadt Lausanne: Sie gibt ihren öffentlichen Raum alle drei Jahre einen Sommer lang für eine Gartenausstellung frei. Landschaftsarchitektur, so ihr Plädoyer, soll nicht nur Naturräume gestalten, sondern auch den Blick darauf ver­ ändern und die Wahrnehmung sensibilisieren. (Abb. 12) Gartenschauen erweisen sich somit als wichtige Meilensteine in der Geschichte der Landschaftsarchitektur im 20. Jahrhundert. Abhängig von den jeweiligen politischen, ökonomischen und sozialen Kontexten haben sie sich dabei mehrfach neu profiliert: von gewerblichen Produktschauen und Fachmessen über postmoderne Themenparks bis hin zu Grünräumen und Naturlabors. Von diesen vielschichtigen Kontexten zehren auch heutige Schauen, wenn sie widersprüchliche Bedürfnisse bedienen sollen – etwa auf der einen Seite in Form von trendigen Gestaltungen Lifestyle verkörpern, auf der anderen Seite im Sinne der ökologischen Nachhaltigkeit Naturreparatur einfordern. Abb. 11: Betonsaurier als Wahrzeichen der GRÜN 80, aus: GRÜN 80, Erinnerungsbuch, Basel 1980. Abb. 12: Le Jardin des Nolfs, Plate-forme du Flon (Atelier Pont 12), Lausanne Jardins 2000

28


1  Vgl. dazu: Annemarie Bucher: Naturen ausstellen. Schweizerische Gartenbauausstellungen zwischen Kunst und Ökologie, Diss. ETH Zürich 2008; Annemarie Bucher, Martine Jacquet: Von der Blumenschau zum Künstlergarten. Schweizerische Gartenbau-Ausstellungen (Ausstellungskatalog Lausanne), 2000; Caroline Bässler: Die Gartenkunst im Spiegel der Gartenbauausstellungen des frühen 20. Jahrhunderts, Diss. Katholische Universität Eichstätt 1998; Luise Preissler-Holl: Gartenschauen – Motor für Landschaft, Städtebau und Wirtschaft, Difu-Studie, 2002; Christina Vagt: Politik durch die Blume. Gartenbauausstellungen in Hamburg und Erfurt im Kalten Krieg (1950–1974), Hamburg 2013. 2  Gustav Allinger: Das Hohelied von Gartenkunst und Gartenbau. 150 Jahre Gartenbau-Ausstellungen in Deutschland, Hamburg 1963, S. 1. 3  Vgl. Monika Wagner: Die organisierte Wahrnehmung: vertikale and horizontale Erschließung früher Weltexhibitionen, in: Wolkenkuckucksheim: Internatio­nale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur (2000) 1. 4  Walter Leder, in: Schweizer Garten, September 1939, S. 277. 5  Reinhold Lingner, zit. nach Martin Baumann: Die 1. Inter­ nationale Gartenbauausstellung der sozialistischen Länder in Erfurt 1961, in: Die Gartenkunst (2007) 1, S. 168–169. 6  Ebd.

8  Vgl. Roger M. Buergel: Der Ursprung, in: Modernity? Documenta Magazine 1 (2007), S. 14. 9  Geoffrey Jellicoe: Consider your Forbears, in: Journal of the Institute of Landscape Architecture, November 1954; Bucher, Naturen ausstellen. 10  Annemarie Bucher: G59: A Manifesto for an Ambivalent Modernism, in: Landscape Journal, Design, Planning and Management of the Land (2007) 26/2. 11 Ebd.; Annemarie Bucher: G59. Zum 50-jährigen Jubiläum, Begleitpublikation zur Plakatausstellung, das kleine Forum, Zürich Stadelhofen, Hochschule Rapperswil, Gewerbemuseum Basel, 2009. 12  Garten des Poeten – G 59/2009, Publikation Architekturforum Zürich, 2009; Daniel Schläpfer: Rasenhügel und Kunststeinfelsen. Willi Neukoms Schweizer Garten an der Wiener Internationalen Gartenschau 1964. Masterarbeit gta/ETH Zürich 2009. 13  Erik A. De Jong, Brigitt Sigel: Der Seeuferweg in Zürich. Eine Spazierlandschaft der Moderne 1963, Zürich 2009. 14  Katalog der internationalen Gartenbauausstellung Hamburg 1963, Hamburg 1963. 15  Marketa Haist: Achtund­ zwanzig Männer brauchen einen neuen Anzug … Die internationalen Gärten auf der Internationalen Gartenbau-Ausstellung 1963 in Hamburg, in: Die Gartenkunst (1996) 2, S. 252–313.

7  Ebd.

29


DIESER KATALOG INTERESSIERT SIE? KLICKEN SIE HIER, UM ONLINE ODER TELEFONISCH ZU BESTELLEN.


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.