Wien Museum Ausstellungskatalog „Edith Tudor-Hart - Im Schatten der Diktaturen“

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Tudor-Hart benutzte eine Mittelformatkamera, mit der sie aus Hüfthöhe Bilder aufnehmen konnte, was ihr erlaubte, mit ihren Modellen bei der Arbeit ungehindert zu kommunizieren. Die Schwarz-Weiß-Fotografien sind bemerkenswerte Zeugnisse von Tudor-Harts sensiblem Umgang mit den drängendsten Fragen einer politisch und sozial turbulenten Ära. Diese Publikation bietet einen umfangreichen Überblick zu Tudor-Harts außergewöhnlicher Lebensgeschichte und ihrem fotografischen Werk aus Wien, London, Wales und Schottland – vieles davon erstmals veröffentlicht. 152 Seiten, 127 Abbildungen

Edith Tudor-Hart    Im Schatten der Diktaturen

Der engagierte Realismus der Arbeiterfotografie der 1930er-Jahre begegnete den politischen Entwicklungen der Zeit mit aufklärerischem Impetus. Zur ersten Riege jener sozial motivierten Fotografen gehört auch die Wiener Fotografin Edith Tudor-Hart (1908–1973). Nach ihrer Ausbildung am Bauhaus in Dessau arbeitete sie als Lehrerin und Fotojournalistin. 1933 wurde sie wegen kommunistischer Spionagetätigkeit in Wien verhaftet und flüchtete mit ihrem englischen Ehemann nach London. Dort setzte Tudor-Hart ihre Arbeit als politische Fotografin fort und gelangte posthum zu Berühmtheit, da sie dem sowjetischen Spionagering der Cambridge Five bis zu dessen Zerschlagung in den 1960er-Jahren Mitarbeiter zugeführt hatte.

Edith Tudor-Hart Im Schatten der Diktaturen


Edith Tudor-Hart Im Schatten der Diktaturen



Herausgegeben von Duncan Forbes f端r die National Galleries of Scotland, Edinburgh, und das Wien Museum Mit Texten von Duncan Forbes, Anton Holzer und Roberta McGrath

Edith Tudor-Hart Im Schatten der Diktaturen


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R端ckblick Ich wollte meiner Zeit Flamme sein oder Teil ihrer Flamme Ich war ihr Schatten oder ein Teil ihres Schattens Meine Zeit war die Zeit der Wut: Schatten der Wut Meine Zeit war die Zeit der Ohnmacht: Schatten der Ohnmacht die Zeit der Tyrannei: Schatten der Tyrannei Ich wollte meiner Zeit Fahne sein oder ein Fetzen der Fahne Fahne der Flamme der Wut der Ohnmacht der Tyrannei oder ihr Fetzen oder ein Teil seines Schattens Erich Fried


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Inhalt

Christopher Baker und Wolfgang Kos 9 Vorwort

Duncan Forbes 11 Edith Tudor-Hart Im Schatten der Diktaturen

Anton Holzer 41 Aktivistin

mit Kamera Edith Suschitzky im Kontext der Wiener Fotoszene um 1930

Duncan Forbes 65

Edith Tudor-Hart in London

Roberta McGrath 119

Pass Nummer 656336

Duncan Forbes 143

Nachleben

149 Dank und Leihgeber 150 Autorenbiografien 151 Bildnachweis


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Vorwort Edith Tudor-Hart (geb. Suschitzky, 1908–1973) ist eine der faszinierendsten Fotografinnen im Europa der Zwischenkriegszeit. In Wien geboren, studierte sie am Bauhaus, bevor sie sich voll und ganz einem von der Politik und der Fotografie geprägten Leben verschrieb. In den späten 1920er-Jahren wurde Tudor-Hart, die eine Laufbahn als Fotojournalistin und Porträtfotografin eingeschlagen hatte, in Wien von der Komintern angeworben. Nach ihrer Eheschließung mit einem englischen Arzt im Jahr 1933 setzte sie ihre Arbeit als sowjetische Agentin niedrigen Rangs in London fort. Auf intelligente Weise und mit ästhetischem Feingespür liefern ihre sozialkritischen Fotografien ein erhellendes Zeugnis einer umkämpften politischen Kultur in Österreich und Großbritannien. Diese Ausstellung wurde von den National Galleries of Scotland in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum kuratiert und führt erstmals Edith Tudor-Harts Werk aus Sammlungen in Edinburgh, London und Wien zusammen. 1951, kurz nachdem der sowjetische Spion Kim Philby erstmalig verhört worden war, zerstörte Tudor-Hart ihre fotografischen Aufzeichnungen, darunter die meisten ihrer Abzüge und einige Negative. Großzügigerweise stiftete die Familie Suschitzky 2004 das Archiv von Tudor-Harts Negativen den National Galleries of Scotland und initiierte so dieses aus einer intensiven Forschungs- und Rekonstruktions­ tätigkeit hervorgegangene Ausstellungsprojekt. Von entscheidender Bedeutung war dabei auch die Anfertigung neuer Silbergelatineab-­ züge sowie Tintenstrahldrucke aus dem Archiv der Fotografin. Viele ihrer Fotografien können jetzt erstmalig betrachtet werden. Im Rückblick erweist sich Edith Tudor-Hart als eine Wiener Fotografin von erstaunlicher Klarsicht, die die Geschichte einer von heftigen Ausein­ andersetzungen gegensätzlicher politischer Kräfte erschütterten Stadt erzählen wollte. In Großbritannien stach ihr Werk durch seine der kontinentaleuropäischen Fotografie geschuldete Dynamik hervor. Britische Fotografen der 1930er-Jahre wirken im Vergleich fast ein wenig dilettantisch. Gewiss ist Tudor-Harts Geschichte eine der politischen und kulturellen Auseinandersetzung, doch zugleich ist sie eine Geschichte des Austauschs und der Kontinuität. Kuratiert wurde die Ausstellung von Duncan Forbes, dem ehemaligen Hauptkustos an den National Galleries of Scotland und heutigen Leiter des Fotomuseums Winterthur. Ermöglicht wurde sie durch die außergewöhnliche Großzügigkeit einzelner Personen und Institutionen, ganz besonders von Wolfgang Suschitzky und in Edinburgh von der Robert Mapplethorpe Foundation, denen wir herzlich danken. Christopher Baker, Direktor Scottish National Portrait Gallery, Edinburgh Wolfgang Kos, Direktor Wien Museum, Wien

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Edith Tudor-Hart Im Schatten der Diktaturen Duncan Forbes

An einem Spätnachmittag im Mai 1933 wurde eine Frau verhaftet, die aus der Goethe-Buchhandlung im neunten Wiener Bezirk kommend in einem Taxi floh.1 Sie war jung, mittelgroß, gutgekleidet und trug eine Hornbrille. So heißt es zumindest im Polizeiprotokoll, den Spuren einer Untersuchung, die offenbar nicht allzu beschwerlich war. »Fräulein Braun«, die Gefangene, gab zu, tatsächlich heiße sie Edith ­Suschitzky. Sie erklärte, eine Pressefotografin zu sein, die vorgab, einem Mann, den sie vor einigen Monaten in einem Café kennengelernt habe, an dessen Namen und Beschreibung sie sich jedoch nicht mehr erinnern könnte, einen Gefallen zu tun (Abb. 1). Die versiegelten Briefe, die sich in ihrem Besitz befanden, sollte sie nach eigener Aussage ungeöffnet in der Buchhandlung abgeben, sie seien für die karitative Flüchtlingsorganisation Rote Hilfe bestimmt.2 In jener Zeit mag dies eine durchaus übliche politische Festnahme gewesen sein, allerdings eine, die bleibende Folgen haben sollte, jedenfalls für die vierundzwanzigjährige Suschitzky, die für den Rest ihres Lebens unter der Überwachung durch die Polizei und periodisch wiederkehrenden Verhören litt, aber auch für die Geschichte der Spionage in Groß­britannien und für die Entwicklung der britischen Fotografie. Dieser Essay lenkt das Augenmerk vor allem auf Letztere und versucht, ein umfassenderes Bild von Edith Tudor-Harts Fotografie und der sie prägenden politischen Kultur zu vermitteln. Bestimmte Fassungen dieser Geschichte wurden schon früher erzählt, vor allem während der 1980er-Jahre, doch dies geschah in einer von den Repressionen des Kalten Krieges geprägten Zeit. Das Schweigen war verständlich, doch auch schädlich, denn es verhinderte, dass wesentliche Verbindungen in Tudor-Harts Leben einer kritischen Betrachtung unterzogen wurden. Entscheidend ist, dass hierzu die Verbindungen »Kommunistin« und »Fotografin« sowie »deutschsprachige Exilantin« und »Fotografin« zählten. Im Folgenden möchte ich diese Begriffe im Hinblick auf Tudor-Harts Biografie betrachten und dabei vor allem die Übergangsphasen in ihrer Praxis untersuchen. Was geschieht, wenn eine politisch aufgeklärte Fotografin, die in den mit der aufrührerischen sozialistischen Bewegung verbundenen Techniken der realistischen Reportage geschult ist, sich in Großbritannien niederlässt und sich dort einer proletarischen Kultur mit wesentlich beschränkteren Mitteln gegenübersieht? Die Ergebnisse sind faszinierend und widersprüchlich, verstörend und transformativ zugleich. Die gerade erwähnten Verbindungen bleiben mit Problemen belastet und unaufgelöst. Dies erklärt zumindest teilweise den gewaltigen Druck, dem Tudor-Hart ausgesetzt war. Was auch immer man von dem politischen Alptraum halten mag,

in den sie geriet, ist es meines Erachtens unmöglich, ihr mangelnden Mut vorzuwerfen. Die folgenden Ausführungen beanspruchen keineswegs, ein abschließendes Bild zu zeichnen. So gehe ich beispielsweise nicht darauf ein, dass Tudor-Hart Jüdin war, eine Identität, die sie selbst hartnäckig ignorierte. Und ebenso wenig geht es mir schwerpunktmäßig um ihre Bedeutung als Fotografin. Mein Interesse an Edith TudorHart erwachte, als ich zu spüren begann, dass die Geschichte über sie, die in den 1980er-Jahren erzählt wurde, ein wenig zu eingängig, ein wenig zu »englisch« war. Mich treibt der Ehrgeiz, ihr zu einem offeneren und dynamischeren Nachleben zu verhelfen.

Abb. 1 Rudolf Bauer, Edith Suschitzky, Wien, um 1928

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Wien Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme arbeitete Edith Suschitzky faktisch als Kurierin für die Kommunistische Partei Österreichs, als diese sich mit einer dramatischen Zunahme staatlicher Repressionen konfrontiert sah und sich auf ihre zukünftige Illegalität einzustellen begann. Die ­Goethe-Buchhandlung war ein toter Briefkasten für die Wiener Partei und die Briefe, die Suschitzky überbrachte, enthielten mit dem Mimeografen vervielfältigte Bitten an die Parteizellen in der Provinz um detaillierte Berichte über ihre Situation. Inspiriert durch das Beispiel des faschistischen Italien verstärkte der österreichische Kanzler Engelbert Dollfuß, der im Mai 1932 ernannt worden war, nachdrücklich seine antidemokratische Autorität. Im Frühjahr 1933 war das österreichische Parlament aufgelöst und die Verfassung aufgehoben worden. Dollfuß ritt eine heftige Attacke gegen die Gerichte, führte eine umfassende Pressezensur ein und verbot Streiks und politische Demonstrationen. Nachdem im Anschluss an die Demonstrationen zum 1. Mai 1933 achthundert Kommunisten zusammengetrieben worden waren, hatte die KPÖ ein deutliches Bedürfnis nach verstärkter Kommunikation.3 Ein Rundschreiben, das man bei Suschitzky gefunden hatte, forderte eine »Einheitsfront« zur Unterstützung politischer Gefangener in Österreich und Deutschland und eine Kampagne, Delegierte zum internationalen Kongress antifaschistischer Arbeiter nach Kopenhagen zu entsenden. Außerdem verlangte es die Einrichtung von Oppositionsgruppen unter sozialdemokratischen Arbeitern, ordnete Protestkundgebungen gegen das Verbot der KPÖ an und ermutigte zu einer verstärkten Verbreitung von Parteipropaganda. Im Rückblick sollte sich dies als ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der KPÖ erweisen. Ihre Unfähigkeit, dem Aufstieg des österreichischen Faschismus etwas entgegenzusetzen, führte mit dem noch größeren Versagen der kommunistischen Bewegung in Deutschland zu einem entscheidenden Bruch mit der Dynamik der russischen Oktoberrevolution und trug dazu bei, dass die Komintern nolens volens zu einer als Volksfront bekannten politischen Linie der klassenübergreifenden Zusammenarbeit überging. Der Polizeibericht legt nahe, dass Suschitzky zum Zeitpunkt ihrer Festnahme bereits eine erfahrene kommunistische Kurierin und Aktivistin war. Bei der Durchsuchung des Hauses ihrer Eltern, wo sie mit ihrem jüngeren Bruder Wolfgang wohnte, stießen die Behörden auf ausreichende Beweise für ihre Komplizenschaft. Sie fand dort einen Mimeografen, einen Aufruf der Partei, höhere finanzielle Beiträge zu leisten, verschiedene politische Pamphlete, Bücher und Zeitungen, Briefe auf Englisch und Deutsch (darunter Liebesbriefe von ihrem englischen Verlobten sowie andere Briefe »politischen Inhalts«) und eine Reihe von Übersetzungen aus dem Englischen und Deutschen, unter anderem eine Lenin­biografie. Außerdem konfiszierte die Polizei eine große Menge von Fotomaterial, alphabetisch geordnete Negative und eine Reihe von Abzügen, etwa Aufnahmen von einer KPÖ-Demonstration, die kurz zuvor in Wien stattgefunden hatte, und ein Porträt von Harry P­ ollit, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB). Ein Brief eines Berliner Verwandten enthielt detaillierte Ratschläge für eine 12

professionelle Karriere sowie das Angebot, ihr dabei zu helfen, ihre Fotoessays kommerzieller zu gestalten. Wie ­Suschitzky ihren Verhörern mitteilte, hatte sie vor Kurzem Fotografien in einer Reihe europäischer illustrierter Zeitschriften veröffentlicht, darunter in Der ­Kuckuck, der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung und in Die Bühne. Edith Suschitzkys Festnahme trieb sie schließlich ins Exil. Irgendwie gelang es ihr, sich mit ihren »Häschern« zu einigen, indem sie im August 1933 den englischen Arzt Alexander Tudor-Hart heiratete und Österreich im Oktober desselben Jahres verließ. Außer einigen Negativen, die die Behörden freigegeben hatten, nahm sie kaum etwas mit (eine Sammlung ihrer Habseligkeiten, darunter Fotografien, wurde zerstört, als die Polizeidepots 1938 überschwemmt wurden). Ihr Bruder, der durch ihre Festnahme entlarvt worden war, begab sich kurz danach nach Holland und schloss sich ihr später als Student in London wieder an. Ihr von der Zerstörung der demokratischen Arbeiterbewegung überwältigter Vater beging im April 1934 Selbstmord. Suschitzkys erzwungene Abreise aus Wien, wohin sie nie wieder zurückkehren sollte, war der Abschluss eines Kapitels in ihrem noch jungen, von einem persönlichen Trauma gezeichneten Leben. Doch das Exil ist auch eine politische Tatsache und erfordert die Hinterfragung von etwas, das heute höchst ungewöhnlich geworden ist: eine auf komplexe Weise politisch aufgeladene, jugendliche Subjektivität. Der Historiker Eric Hobsbawm, der selbst in Wien aufwuchs, erklärte einmal, in der Zeit zwischen den Kriegen »habe man sich das politische Bewusstsein genauso natürlich angeeignet wie das sexuelle«.4 Doch um Tudor-Harts Fotografien erklären zu können, muss man ein bisschen tiefer graben. Die erste erhaltene Spur der erwachsenen Suschitzky ist ein unscharfer Schnappschuss, der sie neben den Kindern einer »Kindertagesstätte« im zehnten Wiener Bezirk, dem Haus der Kinder, zeigt (Abb. 2). ­Suschitzky hatte sich der Schule kurz zuvor als unbezahlte Lehrerin angeschlossen und arbeitete dort in einer Gruppe junger jüdischer Frauen in ei-

Abb. 2 Unbekannter Fotograf, Edith Suschitzky und die Kinder vom Haus der Kinder, Wien, 1924


ten, wenn auch mit einem etwas paternalistischen Einschlag: Freidenker, Pazifisten, Mitarbeiter der Abstinenzlerbewegung, die innerhalb der lebendigen Infrastruktur der Arbeiterbildung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) für die Emanzipation der Arbeiterklasse eintraten. Zwischen 1904 und der Liquidation des Geschäfts durch die Nationalsozialisten im Jahr 1938 veröffentlichte der Anzengruber-Verlag über dreihundert Texte und trat für die Werte der Aufklärung ein, um der in Wien herrschenden, notorischen sozialen Ungleichheit etwas entgegenzusetzen. Suschitzky hatte Zugang zu einer breiten Palette von Reformliteratur, die von Arbeiterlyrik und -literatur bis zu Traktaten über die Frauenbewegung, sexuelle Emanzipation und pädagogische Reformen reichte.7

Abb. 3 Unbekannter Fotograf, Buchhandlung »Brüder Suschitzky«, Favoritenstraße 57, Wien, um 1925

nem Kollektiv unter der Leitung der Prager Pädagogin Lili Roubiczek. Inspiriert von den Ideen Maria Montessoris war ­Suschitzkys Beschäftigung mit dieser unabhängigen Pädagogik für sie von entscheidender Bedeutung.5 Sie war eine intellektuelle Ressource und eine Quelle politischer Aktivitäten und sie bot ihr ein Netzwerk von Kontakten, auf das sie ihr ganzes Leben zurückgreifen sollte. Für die in der Ausbildung Befindlichen waren Roubiczeks gemeinschaftliche Methoden äußerst anspruchsvoll. Die Lehrerinnen wohnten während der Woche in der Schule und ein Jahr der praktischen Arbeit ging an den Abenden mit einer theoretischen Ausbildung einher, darunter die Beschäftigung mit Naturwissenschaften, Sprachen, Soziologie, Psychologie und Architektur. Diejenigen, die sich bewährten, wurden ins Ausland geschickt, um ein Montessoridiplom zu erlangen, das es ihnen erlaubte, Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren zu unterrichten. S­ uschitzky, die selbst erst sechzehn Jahre alt war, begleitete eine andere Studentin im ­April 1925 zu einem dreimonatigen Lehrgang nach London, der zugleich ihr erster Aufenthalt in Großbritannien war. Obwohl die Montessoripädagogik 1930 ein wesentlicher Bestandteil des sozialdemokratischen Bildungswesens in Wien geworden war, bildeten ihre Wurzeln im zehnten Bezirk ursprünglich eine philantropische Antwort auf die akuten Entbehrungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Seit den 1860er-Jahren hatte sich Favoriten zu einem von Wiens größten Arbeiterbezirken entwickelt, dessen Ziegelbrennereien, Schwerindustrie und kleinere Handwerksbetriebe sich auf günstigen Grundstücken im Süden der Stadt ausbreiteten.6 Die Straßen in Favoriten waren eine Brutstätte des sozialdemokratischen Radikalismus, und die Familie Suschitzky kämpfte mit der örtlichen Bürokratie, um dort einen sozialistischen Buchladen und Verlag einzurichten, das erste derartige Etablissement in einem Bezirk mit über 120.000 Einwohnern (Abb. 3). Edith Suschitzkys Eltern waren engagierte bürgerliche Sozialis-

Edith Suschitzkys politische Subjektivität bildete sich also vor dem Hintergrund einer sie außerordentlich prägenden Politik der Arbeiterklasse und einer im Schatten des Ersten Weltkrieges auf dramatische Weise verdichteten Erfahrung heraus.8 Der Krieg hatte in Favoriten unmittelbare Auswirkungen und führte dazu, dass die junge Generation rasch in Kampfhandlungen einbezogen wurde. Bereits im Sommer 1914 war die Hälfte der Bezirksschulen zu Kriegszwecken abkommandiert worden. Als die Verwundetentransporte einzutreffen begannen, mobilisierte man Kinder, die Rauchwaren für die Soldaten sammeln oder den Frauen beim Ausheben Tausender Quadratmeter von Gemüsebeeten helfen mussten. Am Kriegsende waren die durch die Tuberkulose und den ständigen Hunger geschwächten Kinder in Favoriten Gegenstand einer konzertierten karitativen Aktion. Suschitzky selbst wurde nach Schweden geschickt und kehrte einige Monate später gestärkt und besser ernährt nach Wien zurück. Bildung war eines der vorrangigen Anliegen der Nachkriegszeit, und Sozialisten und bürgerliche Philanthropen waren gleichermaßen bemüht, Kinder in improvisierte Schulen zu pferchen, die wenig mehr als Suppenküchen waren. In einer Phase, die durch ein scharfes Bewusstsein für die Revolution in Russland gekennzeichnet war, wurde Suschitzkys aufkeimendes politisches Bewusstsein durch die Ethik dringenden praktischen Handelns geprägt. Die Politik, die auf diese Weise Gestalt annahm, war leninistisch und revolutionär, doch es ist unmöglich, heute ihren genauen Entwicklungsgang nachzuzeichnen. Wie es in den Geschichten über jene Zeit heißt, übernahmen junge Intellektuelle, vor allem Männer und Jungen, schon früh politische Führungsaufgaben und kämpften gegen die Wiedereinführung einer Schulordnung, die sich an kapitalistischen Prioritäten orientierte.9 Suschitzky war einige Jahre jünger als die Führungsriege, unterhielt aber enge Kontakte zu ihr. Das lag teilweise an dem Engagement der Schulen in Favoriten, aber auch daran, dass sie in den Kreisen der kreativen Jugend verkehrte, die der Philanthropin Eugenie Schwarzwald nahestand. In den 1920er-Jahren förderte und organisierte Schwarzwald eine sorgfältig konzipierte Serie von im Winter und Sommer stattfindenden Bildungskolonien für Wiener Schulkinder, die diesen eine ihrer Erholung dienende Mischung aus Sport, Gemeinschafts- und Naturerleben boten.10 Als Jugendliche besuchte Suschitzky Grundlsee, Schwarzwalds Lieblingsrückzugsort während des Sommers, 13


semitismus verbundenen Gefahren und sein Engagement für die Jugend als einem Agenten des revolutionären Wandels charakterisieren eine der bedeutendsten politischen Abhandlungen der Zwischenkriegszeit. Es handelte sich auch um eines der ersten Bücher der österreichischen Linken, in dem Fotografien, darunter mehrere schaurige Innenansichten der überfüllten, als Zinskasernen bekannten Unterkünfte in Favoriten, die Argumentation des Textes stützen sollten. Frei selbst formulierte dies in seinem Vorwort so: »Die Bilder selbst sind Kriegs- und Revolutionsillustrationen« (Abb. 4).13

Abb. 4 Anton und Hans Bock, in: Bruno Frei, Das Elend Wiens, Wien 1921

Dieses komplexe politische Erwachen ließ aus Edith Suschitzky sowohl in Österreich als auch in Großbritannien eine Aktivistin der Kommunistischen Partei und eine willige Rekrutin für die Kommunistische Internationale, den internationalen Zweig des sowjetischen Staates, werden. Wann genau sie der Partei beitrat, bleibt ungewiss. Nachweislich arbeitete sie 1927 unter dem Pseudonym »Betty Gray« für die CPGB, und wahrscheinlich unterhielt sie nicht zuletzt durch die Montessori­

wo sich eine fortschrittliche Fraktion Wiener Gelehrter, Künstler und Schriftsteller versammelte (ihr Bruder erinnerte sich später, sie habe bei dem Komponisten Arnold Schönberg Musikunterricht erhalten). Andere Kolonien und Vereine, die von der Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler oder der Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Erzieher organisiert wurden, waren offener politisch orientiert und boten eine Vielfalt von Strategien im Kampf um die Schulreform und eine anti­autoritäre Pädagogik. Obwohl 1923 die Führung der Schulbewegung vom revolutionären Optimismus zum sozialdemokratischen Reformismus übergegangen war, war leninistische Unterwanderung gang und gäbe. Ein üblicher Lagerwitz, der die Flexibilität der politischen Identifikation der Jugendlichen widerspiegelt, lautete, man gehe als Sozialdemokrat zu Bett und wache als Kommunist wieder auf.11 In ihren Erinnerungen an diese Zeit beschreibt Genia Quittner den Übergang eines sechzehnjährigen Mädchens zum Kommunismus: von den marxistischen Seminaren der Studentenbewegung zu einem Verständnis des »Opportunismus und Sozialverrats« (Lenins Begriffe) der sozialdemokratischen Führung, von einer Beobachterin der Versammlungen der KPÖ an der Wiener Votivkirche bis zum Finden der eigenen Stimme als linke Oppositionelle innerhalb der sozialdemokratischen Jugendbewegung.12 Ähnliche Momente mögen Edith Suschitzkys politische Entwicklung geprägt haben, die durch ihre Verstrickung in jene Widersprüche individueller Freiheit und kollektiven Handelns verkompliziert wurden, die für die sozialistische Pädagogik von zentraler Bedeutung waren. Wenn es einen Text gibt, der die Weltsicht des säkularen jüdischen Radikalismus verdeutlicht, der sie ebenfalls prägen sollte, so ist dies Bruno Freis bemerkenswerte Reportage Das Elend Wiens, die 1921 publiziert wurde und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Buchladen ihrer Eltern käuflich zu erwerben war. Freis klarsichtige Anklageschrift gegen die kapitalistische Ungleichheit, seine prophetische Betonung der mit dem zunehmenden Nationalismus und Anti14

Abb. 5 Das Photo im Dienste des Sozialismus, Titelseite von Der jugendliche Arbeiter, April 1931


Abb. 6 Unbekannter Fotograf, »Das gute Lichtbild«, in: Der Kuckuck, 51, 1932, S. 14

Abb. 7 Edith Suschitzky, »Was will der neue Kindergarten?«, in: Der Kuckuck, 27. September 1931, S. 10

bewegung, der eine Reihe prominenter Kommunisten angehörten, schon damals Kontakte zu der kleinen, sektiererischen KPÖ. Arnold Deutsch, ein österreichischer Agent, den Suschitzky 1926 in Wien kennenlernte, warb sie im Februar 1934 in London für die Komintern­ arbeit an, obwohl sie, wie ein Spitzel später behauptete, zuvor, als sie noch in Wien lebte, bereits unter der Leitung des OGPU, des sowjetischen Geheimdienstes, gearbeitet hatte.14 Trotz der Bedenken ihrer sowjetischen »Betreuer« vermengte Suschitzky legale Parteiarbeit mit ihren Geheimdienstaktivitäten, eine Praxis, an der sie in den gesamten 1930er-Jahren festhalten sollte. Großbritannien, damals noch eine Großmacht, war ein wichtiges Ziel für die Sowjets, und Suschitzkys Verbindungen nach London machten sie für ihre Auftraggeber besonders wertvoll; eine Quelle berichtet, sie habe 1929 von Wien aus zwei verdeckte Missionen in Paris und London durchgeführt.15 Deutsch beschrieb sie als bescheiden, tüchtig und mutig und wies darauf hin, sie sei bereit, alles für die Sache der Sowjets zu tun, und eine willige Mittlerin für eine im raschen Niedergang begriffene und übertrieben bürokratisierte Kommunistische Internationale.16 Es handelte sich um ein

faszinierendes Leben, das »die Aktivität in die Geschichte integrierte«, wie Victor Serge es auf denkwürdige Weise beschrieben hat, und in Anbetracht von Suschitzkys politischen Optimismus war es für sie ein Leichtes, jegliche Unsicherheit hinsichtlich des Hin und Hers der Kominternpolitik zu überwinden.17 Ab 1925 freundete sie sich mit der Familie Tudor-Hart an, mit Beatrix, einer fortschrittlichen Pädagogin, und mit ihrem Bruder Alexander, der sich gerade zum Chirurgen ausbilden ließ. Von böhmischer Herkunft und kommunistisch orientiert, reisten beide in den späten 1920er-Jahren zu Forschungszwecken nach Wien. Wie lernte Edith Suschitzky in diesem Strudel politischer Aktivitäten und Ideen eine Kamera für öffentliche Zwecke handhaben? Auf welche Weise sie zur Fotografie gelangte, ist nicht bekannt, auch wenn jungen Frauen auf diesem Gebiet in einer Stadt mit einer fortschrittlichen Kultur an Fotoateliers zunehmend professionelle Ausbildungsmöglichkeiten offenstanden.18 Doch zugleich war dies auch eine Zeit, in der die Fotografie als Massenmedium einen akuteren sozialen Zweck erfüllte, indem sie durch ihre Unmittelbarkeit und die Möglichkeit der 15


Abb. 8 Edith Suschitzky, »Whitechapel. Londons Elendsviertel«, in: Der Kuckuck, 29. März 1931, S. 14

Abb. 9 Edith Suschitzky, »Wildbaden in der Lobau«, in: Der Kuckuck, 21. August 1932, S. 4

Selbstdarstellung die traditionellen kulturellen Unterscheidungen hinfällig werden ließ. Während der 1920er-Jahre boten die verbesserten technologischen Eigenschaften der Kamera und die schnelleren Druckverfahren der politischen Linken neue Möglichkeiten zur Mobilisierung der Bevölkerung. Am Ende des Jahrzehnts hatte der sozialdemokratische Vorwärts Verlag ein aufwendiges Programm ins Leben gerufen, um der Verführung durch Österreichs bürgerliche illustrierte Presse etwas entgegenzusetzen (Abb. 5). Dazu zählte die Veröffentlichung einer eigenen wöchentlich erscheinenden Illustrierten, Der Kuckuck, und Propagandaschulungen, in denen Parteimitglieder im Fotografieren unterwiesen wurden, um auf diese Weise ein neues proletarisches Bewusstsein zum Ausdruck zu bringen.19 Diese sogenannte Arbeiterfotografie nahm eine Fülle von Formen an und war in Deutschland und der Sowjetunion besonders weit entwickelt. Hier hatte man das Ideal einer neuen Art Reporter, des Arbeiterkorrespondenten, mobilisiert, um eine revolutionäre Kultur der Arbeiter-Selbstdarstellung zu propagieren und die Bildwelt der »imperialistischen Reaktion« zu überwinden. Die österreichischen Sozialdemokraten verfolgten ähnliche Strategien,

indem sie Parteimitglieder in den Techniken der dialektischen Fotografie unterwiesen, Techniken, die darauf abzielten, das Selbstverständnis des Proletariats als einer Klasse zu prägen und die Anerkennung ihrer Ausbeutung innerhalb eines umfassenderen Gesellschaftskonzepts zu fördern. Wie den Seiten des Kuckuck deutlich zu entnehmen war, ging die Vision der »guten Fotografie« weit über Oberflächenerscheinungen hinaus. So konnte etwa das Bild einer Demonstration zum ersten Mai, das ein ungarischer Arbeiter durch die Beine einer Reihe von ­Polizeipferden aufgenommen hatte, eine beredte Metapher für die autoritäre Kontrolle werden (Abb. 6).

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Diese Strategie der realistischen Entmystifizierung war die einflussreichste Waffe in den Händen des Arbeiterfotografen. Es war einerseits eine politische Taktik, doch den Schriften des ungarischen Philosophen Georg Lukács zufolge auch ein philosophisches Ideal. Sie erweckte die Hegel’sche Idee zu neuem Leben, dass die Emanzipation des Menschen durch Selbsterkenntnis geprägt und gelenkt wird. Ob die junge Edith Suschitzky Lukács’ 1923 veröffentlichtes Buch G ­ eschichte und


­Klassenbewusstsein gelesen hat oder nicht, spielt dabei keine Rolle, auch wenn die Tatsache, dass Lukács damals in Wien für die Komintern tätig war, die faszinierende Möglichkeit birgt, dass sie ihn kannte.20 Ebensowenig lassen sich Suschitzkys Fotografien aus jener Zeit in ein politisches Schema pressen. Sie war diversen editorischen Zwängen ausgesetzt und versuchte, in einer wirtschaftlich äußerst schwierigen Zeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch die konzeptionelle und praktische Tiefe dieses Umfelds für die Fotografien, vor allem seine Überschneidung mit Prozessen der privaten und sozialen Veränderung, ist verblüffend und ging wesentlich weiter als irgendetwas, das damals in Großbritannien möglich war. Auch die Montessori­bewegung bediente sich ausgiebig der Fotografie. Sie tat dies einerseits, um für ihre eigene Rechtmäßigkeit zu kämpfen, und anderseits nutzte sie sie als ein Mittel, um ihr zentrales Verfahren, sprich das konzentrierte Beobachten seitens der Schüler, zu verbessern. Tatsächlich benutzte einer von Suschitzkys frühesten Fotoessays, der 1931 in Der Kuckuck publiziert wurde, Bilder, um zu veranschaulichen, wie intensiv Kinder, die nach Montessorimethoden unterrichtet werden, in ihren durch sie selbst motivierten Lernprozess versunken sind (Abb. 7).21 Die frühesten Negative aus Edith Tudor-Harts Archiv stammen von etwa 1930 und legen die Vermutung nahe, dass sie die Fotografie erst nach einer Studienphase am Bauhaus, der Schule für Kunst und Gestaltung in Dessau, aufgriff. Aus ihren Bauhausjahren haben sich kaum Unterlagen erhalten. Ende 1928 schrieb sie sich für den berühmten Vorkurs ein und war 1930 ungewöhnlicherweise immer noch darin verzeichnet. Als Studentin in Walter Peterhans’ 1929 eingerichteter Abteilung für Fotografie war sie nicht registriert, und es existieren auch keine Aufnahmen aus ihrer Zeit in Dessau.22 Dennoch dürften die Bauhausjahre für Suschitzky in ästhetischer und politischer Hinsicht wichtig gewesen sein. Ihre Zeit dort fiel mit der radikalsten Phase des Bauhauses unter dem Direktorat des Architekten Hannes Meyer zusammen und in einer englischen Kunstzeitschrift verteidigte sie 1931 energisch den revolutionären Funktionalismus der Schule.23 Im Sommer 1923 hatte sich dort eine kommunistische Zelle gebildet, die etwa zehn Prozent der Studentenschaft umfasste; während Meyers Amtszeit wurde diese Zelle zunehmend außerhalb der Schule tätig.24 Suschitzkys frühe Ausbildung als Fotografin erfolgte zu einer Zeit, als eine stärker politisch engagierte Pädagogik eine Reihe von Bauhausstudenten veranlasste, modernistische Verfahren realistischen Methoden unterzuordnen, die sich der Aufgabe der politischen Mobilisierung widmeten.25

Kominternaktivisten. Außerdem scheint sie für kurze Zeit Erfahrungen in einem kommerziellen Fotoatelier gesammelt zu haben. Ihre veröffentlichten Fotoessays begannen in regelmäßigeren Abständen zu erscheinen; die beiden besten befassten sich mit der Armut im Londoner East End und ein anderer mit dem bei den Wienern beliebten Badegebiet der Lobau. Es handelt sich um das Werk einer Fotografin, die bemüht ist, ihre Ambitionen an den kommerziellen und politischen Parametern der sozialdemokratischen Presse auszurichten (Abb. 8 und 9).27 Die etwa hundertfünfzig erhaltenen Negative aus den Wiener Jahren zeugen von einer genügsamen und technisch versierten Fotografin, die Themen wie die Entbehrungen der Arbeiterklasse und die reformorientierte Kultur der österreichischen Sozialdemokratie ebenso erkundete wie die Bedrohung durch militaristische und faschistische Kräfte. Ein Großteil dieses Bereichs von Suschitzkys Archiv wurde offenbar beschlagnahmt oder aufgegeben, doch die Überreste zeugen von einer im Entstehen begriffenen realistischen Methode, dem Versuch, ein Narrativ der Wirklichkeit zu konstruieren, das auf den Klassengegensätzen gründet. Ihre Bilder suggerieren eine Fotografin, die bereits erfahren darin ist, Reportagen in Bilder zu verwandeln, indem sie eine Rolleiflexkamera auf Hüfthöhe hält und zulässt, dass das Motiv den Rahmen ausfüllt, um so in einen Dialog mit den von ihr Fotografierten zu treten. Es ist bezeichnend, dass Suschitzky sich mit einer 35-mm-Kamera nie wohlfühlte: Die Mittelformat-Rolleiflex, nie ganz das modernistische Kameraauge, ermöglichte ein schnelles Arbeiten, das zum Dialog mit der abgelichteten Person ermutigte. Instinktiv war die Fotografie ein Medium, durch welches der Porträtierte, der Fotograf und das imaginierte Publikum miteinander kommunizieren konnten. Auf diese Weise begannen Suschitzkys Fotografien von einem Gespür für Nuancen zu zeugen, das ihrer politischen Haltung zunehmend abging. So schrieb sie in ihren Briefen an Alexander Tudor-Hart in L­ ondon, ihr Russisch mache deutliche Fortschritte: »Der Weg nach Moskau wird nicht sehr lang sein für mich – ha!«28

Im Oktober 1930 war Edith Suschitzky wieder in London und weckte erstmals die Aufmerksamkeit der Special Branch, als man sie zusammen mit CPGB-Führern auf einer Demonstration für die Workers’ C ­ harter am Trafalgar Square identifizierte. Trotz Versuchen, den Einfluss des W ­ iener Bürgermeisters Karl Seitz und des in Cambridge lehrenden Ökonomen Maurice Dobb geltend zu machen, wurde Suschitzky im Januar des folgenden Jahres aus Großbritannien ausgewiesen.26 Sie kehrte nach Wien zurück und fand rasch eine neue Aufgabe als Fotografin für die sowjetische Nachrichtenagentur TASS, eine durchaus übliche Rolle für 17


1 Dieser Essay geht auf meine ältere Veröffentlichung »Politics, Photography and Exile in the Life of Edith Tudor-Hart (1908–1973)« zurück, die in: Arts in Exile in ­Britain 1933–1945: Politics and Cultural Identity, Bd. 6: The Yearbook of the Research ­Centre for German and Austrian Exile Studies, hrsg. von Shulamith Behr und Marian Malet, Amsterdam und New York 2005, S. 45–87, erschienen ist. Edith Tudor-Hart wurde 1908 als Edith Suschitzky geboren, und ich verwende ihren Mädchennamen bis zum Datum ihrer Hochzeit im Jahr 1933. Sie selbst schrieb ihren Namen abwechselnd mit und ohne Bindestrich. Aus Gründen der Einheitlichkeit habe ich die erste Variante gewählt, außer dort, wo der Name in Titeln oder Originaldokumenten anders e­ rscheint. 2 Diese und weitere Informationen über Suschitzkys Festnahme stammen aus Polizeiberichten. Eine Mikrofilmkopie derselben befindet sich im Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, MF A/270, ff. 1355–1508. 3 Die KPÖ wurde am 26. Mai 1933 vom österreichischen Kabinett verboten. Hinsichtlich ihrer Geschichte stütze ich mich auf Herbert Steiner, Die kommunistische P­ artei ­Österreichs von 1918 bis 1933: Bibliographische Bemerkungen, Meisenheim am Glan 1968, sowie auf Barry McLoughlin u. a., Kommunismus in Österreich 1918–1938, Innsbruck 2009. 4 Eric Hobsbawm, Interesting Times: A Twentieth-Century Life, London 2002, S. 13. 5 Zur Geschichte der Montessoribewegung in Österreich siehe Franz H ­ ammerer, Maria Montessoris pädagogisches Konzept: Anfänge der Realisierung in Österreich, Wien 1997. Eine zeitgenössische Beschreibung findet sich bei Rudolf Hauser, »Die Montessori-Bewegung in Österreich«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 6, 1930, S. 588–594. 6 Siehe Wilfried Konnert, Favoriten im Wandel der Zeit, Wien 1974, und J. Robert Wegs, Growing Up Working Class: Continuity and Change Among Viennese Youth, 1890– 1938, London 1989. 7 Zur Geschichte der Familie Suschitzky siehe Annette Lechner, »Die Wiener Verlagsbuchhandlung ›Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky‹ (1901–1938) im Spiegel der Zeit«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 44, 1995, S. 187–273. 8 L aut dem Sozialhistoriker Geoff Eley fand in diesen Jahren »die stärkste gesamteuropäische Transformation der Gesellschaft seit der Französischen Revolution statt«. Siehe Geoff Eley, Forging Democracy: The History of the Left in Europe, 1850– 2000, Oxford, 2002, S. 124. Siehe auch Helmut Gruber, Red Vienna: Experiment in Working-Class Culture 1919–1934, Oxford 1991. 9 Siehe Ernst Papanek, The Austrian School Reform, New York 1962, und Georg Tidl, Sozialistische Mittelschüler Österreichs 1918 bis 1938, Wien 1977. 10 Robert Streibel (Hrsg.), Eugenie Schwarzwald und ihr Kreis, Wien 1996, und ­Deborah Holmes, Langweile ist Gift: Das Leben der Eugenie Schwarzwald, Sankt Pölten 2012. 11 Friedrich Scheu, Ein Band der Freundschaft: Schwarzwald-Kreis und Entstehung der Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler, Wien 1985, S. 165. 12 Genia Quittner, Weiter Weg nach Krasnogorsk: Schicksalsbericht einer Frau, Wien 1971, besonders S. 19–23. 13 Bruno Frei, Das Elend Wiens, Wien 1921, S. VIII. 14 Siehe Nigel West und Oleg Tsarev, The Crown Jewels: The British Secrets at the Heart of the KGB Archives, London 1998, S. 106 und 108, und John Costello und Oleg Tsarev, Deadly Illusions, London 1993, S. 133 f. und 137. Eine Darstellung von

18

Arnold Deutschs Arbeit für die Sowjets in West und Tsarev 1998, S. 103 ff., sowie Christopher Andrew und Vasili Mitrokhin, The Mitrokhin Archive: The KGB in ­Europe and the West, London 2000, S. 73 ff. In einem zusammen mit Philip K ­ nightley verfassten Buch behauptet Genrikh Borovik, Deutsch sei derjenige gewesen, der Suschitzky 1929 in Wien angeworben habe; siehe The Philby Files: The ­Secret Life of the Master Spy—KGB Archives Revealed, London 1994, S. 301. 15 West und Tsarev 1998 (wie Anm. 14), S. 273. 16 Costello und Tsarev 1993 (wie Anm. 14), S. 448, Anm. 48. 17 Victor Serge, Memoirs of a Revolutionary, Iowa City 2002, S. 177. 18 Siehe Monika Faber (Hrsg.), Zeit ohne Zukunft: Photographie in Wien 1918–1938, Wien 1998, sowie Vienna’s Shooting Girls: Jüdische Fotografinnen aus Wien, hrsg. von Iris Meder und Andrea Winklbauer, Ausst.-Kat., Wien 2012. 19 Siehe vor allem das Sonderheft der SDAP Zeitschrift Der jugendliche Arbeiter, 4. April 1931, das dem Thema »Das Photo im Dienste des Sozialismus« gewidmet ist. Diese Ausgabe enthielt einen Artikel des Herausgebers von Der Kuckuck, Siegfried Weyr, »Das Photo als Kampfmittel«, S. 8–10. Zur detaillierten Geschichte des Vorwärts Verlags und von Der Kuckuck siehe Stefan Riesenfellner und Josef Seiter, Der Kuckuck: Die moderne Bild-Illustrierte des Roten Wien, Wien 1995. 20 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein: Studien über marxistische Dia­lektik, Berlin 1923. 21 Edith Suschitzky, »Was will der neue Kindergarten?«, in: Der Kuckuck, 27. September 1931, S. 10. 22 Briefwechsel mit Lutz Schöbe, Bauhaus, Dessau, 19. November 2003. Suschitzky scheint ihr Studium 1929 unterbrochen zu haben und wurde irgendwann in diesem Jahr als »Gaststudentin« vermutlich bei Peterhans registriert. Wolfgang Suschitzky erklärt in Edith Tudor Hart: The Eye of Conscience, London 1987, S. 10, sie habe bei Peterhans studiert. 23 Edith Suschitzky, »A University of Commercial Art«, in: Commercial Art, März 1931. Der Titel, der den Tenor des Artikels verfälscht, stammt vermutlich nicht von Suschitzky. Eine Darstellung von Meyers Direktorat zwischen 1928 und 1930 bei Rainer K. Wick, Teaching at the Bauhaus, Ostfildern-Ruit 2000, S. 77–82. 24 Michael Siebenbrot, »Zur Rolle der Kommunisten und anderer fortschrittlicher Kräfte am Bauhaus«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen, 23, Nr. 516, 1976, S. 481–485. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Dessau Fritz Hesse entband Meyer von seinem Posten als Direktor des Bauhauses aufgrund der zunehmenden Politisierung der Schule. 25 H erbert Molderings, »From the Bauhaus to Photojournalism«, in: Photography at the Bauhaus, hrsg. von Jeannine Fiedler, London 1990, S. 265–285. 26 Abgefangene Briefe von Wilhelm Suschitzky an Edith Suschitzky, 28. November 1930, und von Maurice Dobb an Alexander Tudor-Hart, 2. Dezember 1930, The National Archives, United Kingdom, TNA KV 2/1012. 27 Edith Suschitzky, »Whitechapel: Londons Elendsviertel«, in: Der Kuckuck, 29. März 1931, S. 14; »Der Markt des nackten Elends«, in: Der Kuckuck, 4. Oktober 1931, S. 15, und »Wildbaden in der Lobau«, in: Der Kuckuck, 21. August 1932, S. 4. 28 A bgefangener Brief von Edith Suschitzky an Alexander Tudor-Hart, undatiert (wahrscheinlich März 1931), TNA KV 2/1012.




Edith Suschitzky Riesenrad im Prater, Wien, 1931 Neuer Silbergelatine-Abzug, 29,3 Ă— 29,2 cm National Galleries of Scotland, PGP 279.1

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Edith Suschitzky Aufmarsch zum Ersten Mai, Landstraße, Wien, 1931 Neuer Silbergelatine-Abzug, 27,7 × 27,7 cm National Galleries of Scotland, PGP 279.10


Edith Suschitzky Versammlung zum Ersten Mai vor dem Rathaus, Wien, 1931 Neuer Silbergelatine-Abzug, 30,1 Ă— 30,1 cm National Galleries of Scotland, PGP 279.24

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24

Edith Suschitzky Veteran des Ersten Weltkriegs, Wien, um 1930 Digitaler Inkjet-Print, 30,1 Ă— 29,9 cm National Galleries of Scotland, PGP 279.83


Edith Suschitzky Jo-Jos verkaufender Veteran des Ersten Weltkriegs, um 1930 Silbergelatine-Abzug, 19,6 Ă— 21,9 cm Galerie Johannes Faber

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26

Edith Suschitzky Arbeitslose Schlange stehend, Wien, um 1930 Digitaler Inkjet-Print, 30,2 Ă— 29,9 cm National Galleries of Scotland, PGP 279.84


Edith Suschitzky Frau, Wien, um 1930 Digitaler Inkjet-Print, 30,2 Ă— 29,9 cm National Galleries of Scotland, PGP 279.85

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28

Edith Suschitzky Arbeitslose Familie, Wien, 1930 Silbergelatine-Abzug, 23,7 Ă— 19,5 cm Wien Museum, 204463


Edith Suschitzky Frau und Kind, Wien, um 1930 Digitaler Inkjet-Print, 30,5 Ă— 30 cm National Galleries of Scotland, PGP 279.86

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Edith Suschitzky Obstverkäufer, Wien, um 1930 Neuer Silbergelatine-Abzug, 30,3 × 30 cm National Galleries of Scotland, PGP 279.17


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