WBGU Politikpapier: Zeit-gerechte Klimapolitik: Vier Initiativen für Fairness

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Politikpapier Nr. 9

Klimapolitik

August 2018

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen

Dekarbonisierung frühzeitig, partizipativ und gerecht gestalten: Prüfstein Kohleausstieg Das Ziel, bis Mitte des 21. Jahrhunderts die Weltwirtschaft zu dekarbonisieren, ist zentrale Voraussetzung für die Eindämmung des Klimawandels. Die Dekarbonisierung muss politisch eingeleitet und gestaltet werden, z.  B. durch eine zielführende Bepreisung von Treibhausgasemissionen sowie Politiken der Innovationsförderung und Unterstützung von regionalem wie sektoralem Strukturwandel. Kohle ist der treibhausgasintensivste Energieträger und verursacht zudem erhebliche Umweltund Gesundheitsbelastungen (WBGU, 2011). Im Konzert mit anderen Maßnahmen zum Klimaschutz sollte der Kohleausstieg 2030 weltweit weitgehend vollzogen sein (Rockström et al., 2017). Einige Nationen und Regionen werden besonders von der anstehenden Transformation betroffen sein. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe könnten sie von bisherigen Strukturwandelprozessen lernen: Viele Regionen in Europa erleben schon seit Jahrzehnten einen Niedergang des Bergbaus oder die Abwanderung großer Unternehmen in unterschiedlichen Sektoren, so dass Erfahrungen mit der Abfederung regionaler Strukturbrüche vorliegen, die genutzt werden können. Allerdings gelten für den Kohleausstieg im Zuge der Dekarbonisierung spezifische Bedingungen. Eine zeit–gerechte Transformation muss innerhalb der oben genannten kurzen Zeiträume erfolgen, da sonst die in Paris gesteckten Klimaziele nicht erreicht werden können. Dekarbonisierung wird, im Gegensatz zu in Marktwirtschaften üblichen Dynamiken des Strukturwandels, nicht durch den Markt erzwungen, sondern ist ein politisches Ziel, das der Einsicht in die destruktiven Wirkungen gefährlichen Klimawandels folgt. Der in Deutschland, Europa und anderswo notwendige Strukturwandel zur Klimaverträglichkeit erfolgt daher nicht mehr nur mit dem Ziel der ökonomischen Modernisierung der betroffenen Regionen, sondern auch aus globaler Verantwortung: Es gilt, Klimaschäden und -risiken weltweit zu begrenzen. Große Transformationen wirtschaftlicher Strukturen wie des Energiesystems gehen mit großen gesellschaft-

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lichen Veränderungen einher (wie z.   B. bei der industriellen Revolution). Nicht nur Geschäftsmodelle, Arbeitsformen und Wertschöpfungsketten, auch Fortschrittsideen, Akteurskonstellationen und regionale Identitäten richten sich neu aus. Transformationen sind daher hochpolitisch; Zukunfts- und Gerechtigkeitsfragen rücken in den Vordergrund. Im aktuellen Diskurs um Klimaschutz und „gerechten Wandel“ (Just Transition) wird entsprechend die direkte Beteiligung von Beschäftigten an der Abwicklung von Kohleunternehmen eingefordert, begleitet von dem Wunsch, attraktive Arbeitsplätze nach dem Kohleausstieg zugesichert zu bekommen. Der Begriff Just Transition wurde schon in den 1990er Jahren von Gewerkschaften mit der Forderung etabliert, Beschäftigte gegen die Auswirkungen von Umweltpolitik abzusichern. Heute stellen sich die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und der Internationale Gewerkschaftsbund (ITUC) selbst hinter die Forderung nach einem Strukturwandel für nachhaltige Wirtschaftsmodelle und beschreiben ihn als kollektive Erneuerungsaufgabe regionaler Gesellschaften (ITUC-CSI, 2017:  3). Häufig jedoch wird der Begriff Just Transition mit dem Argument verbunden, dass Prozesse wie der Kohleausstieg verlangsamt werden müssten, um gerecht sein zu können. Die Herausforderung ist also, politische Prozesse so zu gestalten, dass regional gerechte und ausreichend schnelle Dekarbonisierung möglich wird, die weltweite und irreversible Schäden gefährlichen Klimawandels vermeidet: Zeit–gerechter Strukturwandel ist notwendig. Zwar können im Kontext von Strukturwandel zukünftige Wirtschafts- und Arbeitsmarktstrukturen nicht im Einzelnen geplant werden, aber soziale Leitplanken der Teilhabe, der sozialen Abfederung, der Stärkung der vom Strukturwandel Betroffenen sowie der inklusiven Zukunftsgestaltung sollten essenzielle Bestandteile der Transformation zur Klimaverträglichkeit sein. Damit definiert sich gerechte Transformationspolitik aus Sicht des WBGU nicht (nur) über die Dauer, sondern über die Qualität sowie die soziale Gestaltung


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