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Kunstinsert Die Erfindung des Theaters aus der Malerei

S. 28, 30 und S. 32-33 Gemälde aus einem Bildzyklus von insgesamt 40 Bildern, entstanden im Sommer 2022 parallel zur Inszenierung „Die gefesselte Phantasie“ bei den Raimund-Festspielen in Gutenstein, Österreich. Acryl auf Leinwand, jeweils 1 x 1 m

Die Erfindung des Theaters aus dem Geist der Malerei

Achim Freyer wandert mit seiner unerschöpflichen Malwut zwischen den Kunstformen

Von Johannes Odenthal

Achim Freyer bei der Bemalung der Planen des Theaterzelts in Gutenstein im Sommer 2022. Die Inszenierungsarbeiten dehnten sich aus auf die Gestaltung des Theaters selbst sowie den Park mit von ihm konzipierten und bemalten Skulpturen aus Beton

„mit T“, vierteilige Arbeit, Acryl auf Leinwand, 2 x 2 m, Oktober 2022

Gemälde aus einem Bildzyklus von insgesamt 40 Bildern, entstanden im Sommer 2022 parallel zur Inszenierung „Die gefesselte Phantasie“ bei den RaimundFestspielen in Gutenstein, Österreich. Acryl auf Leinwand, jeweils 1 x 1 m.

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„Einstein on the Beach“, Hebbel Theater 1988

Achim Freyer hat wie kein anderer bildender Künstler aus Deutschland das zeitgenössische Theater geprägt. Geboren 1934, studierte Freyer Malerei und Grafik, bevor er 1955 Meisterschüler von Bertolt Brecht wurde und als Bühnen- und Kostümbildner arbeitete. 1972 übersiedelt er in den Westen und beginnt mit eigenen Arbeiten als Regisseur. Freyer inszeniert an den führenden Theatern weltweit und erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den „Faust” für sein Lebenswerk. Er war Teilnehmer an der documenta 1977 und 1987. Von 1976 bis 2002 war er Professor an der Universität der Künste Berlin. Seit 2012 ist sein Berliner Kunsthaus mit umfassender Sammlung als Achim Freyer Stiftung ö entlich zugänglich. Es war der erste Telefonanruf in seinem Leben. Er musste mit dem Fahrrad aus seinem Heimatdorf zur nächsten Telefonzelle am Stadtrand von Berlin fahren. Er wählte die Nummer vom Berliner Ensemble und am Telefon war Bertolt Brecht. Das war 1955. Bertolt Brecht nahm den studierten Grafiker Achim Freyer als Meisterschüler auf, aber nicht, um Plakate für das Berliner Ensemble zu machen. „Plakate machen, das können Sie schon! Werden Sie Meisterschüler bei mir am Haus.“ Die kurze Zeit bis zu Brechts Tod prägte Achim Freyers Verständnis von Bühne, Regie und Kunst. 1970 holt ihn Benno Besson an die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Sehr bald gehört Achim Freyer zu den innovativsten Theaterkünstlern der Gegenwart. Als dann „Clavigo“ in der Regie von Adolf Dresen am Deutschen Theater wegen angeblicher Konvergenzen mit der westlichen Popkunst in der Ausstattung von 1971 abgesetzt wird, konkretisiert sich die Entscheidung für Achim Freyer, die DDR zu verlassen. Das Theater war für Achim Freyer zur entscheidenden Möglichkeit geworden, sein bildkünstlerisches Denken und Arbeiten mit einem öffentlichen Publikum zu teilen. Indes waren die Ausstellungen seiner Werke immer wieder aus ideologischen Gründen geschlossen worden.

Mit seinem Nebenberuf, der Bühnenkunst, wird Achim Freyer in den Folgejahren weltberühmt. Immer ist er jedoch Maler, bildender Künstler, der seinen Gestaltungsraum grenzenlos auf alle verfügbaren Medien ausweitet. Es ist diese Maßlosigkeit, die manische und exzessive Leidenschaft, durch die er seine eigene Welterfahrung, die inneren Prozesse der Wahrnehmung, die Landkarten der seelischen Konflikte, des Leidens und des grenzenlosen Glücks in Malerei übersetzt. Dabei wird Achim Freyer zum Medium, das kollektive Atmosphären und politische Räume verarbeitet, um sie durch eine radikale und subjektive Transformation zu übersetzen und mit anderen zu teilen.

Aus dieser Haltung entfaltet sich ein unaufhörlicher Energiefluss schöpferischen Handelns, eine ebenso disziplinierte wie präzise Arbeitsweise, die immer den Dialog mit dem konkreten Material, den konkreten Umständen sucht. Es ist niemals so, dass Achim Freyer eine ästhetische Idee erzwingt. Er bewegt sich vielmehr mit den Menschen und dem Material, wird zum Komplizen der Bedingungen, fordert diese bis an die Grenzen der Belastbarkeit heraus, aber nicht, um sie zu beherrschen. Vielmehr folgt er deren und seinen eigenen Möglichkeiten und Gesetzen, um sie zum Ausdruck zu bringen, um sie zu erlösen.

So wächst sein bildnerisches Werk unentwegt weiter. Im Sommer 2022 inszeniert Achim Freyer „Die gefesselte Phantasie“ für die Raimundspiele in der Marktgemeinde Gutenstein. Seine Gestaltungsenergie gibt sich nicht mit Regie, Bühne und Kostüm zufrieden, greift auf die Planen des Zelttheaters über, erschafft bemalte Skulpturen aus Beton. In einem Schaffensrausch entstehen parallel dazu Dutzende von großformatigen Bildern, ein einzigartiger Zyklus aus Farbwelten, in denen er seine eigenen Verfahren von Komposition und Bildsyntax für sich erneut öffnet. Zwei Monate später, an seinem Rückzugsort in der Toskana, entsteht eine neue Bildserie aus zusammengesetzten Leinwänden, konsequenten Form- und Farbkompositio-

Die konsequente Erforschung aller formalen Möglichkeiten prägt das Werk von Achim Freyer bis in die Gegenwart. In seiner grenzenlosen Fantasie erschließt er Räume der Freiheit, des Spiels, aber auch der Utopie, eine Welt zu erscha en als Gegenentwurf zu den Strukturen von Macht und Unterdrückung.

nen, die trotz formaler Strenge lichte Räume einer expressionistischen inneren Landschaft entstehen lassen.

In seinem ständig wachsenden Oeuvre von mehr als 25.000 Werken aus Bildern, Zeichnungen, Skulpturen und Environments kämpft Achim Freyer mit seiner ganzen Energie für einen erweiterten Raum der Künste, für die Kunst als Gegenentwurf zu Krieg und lähmender Angst. Wie er es selbst in seiner Dankesrede bei der Verleihung des „Faust“ für sein Lebenswerk am 26. November 2022 sagte: „Bildwelten schaffen – nicht Abbilder von Welt. Kompass fürs Leben, zum Überleben eines jeden, so soll es sein. Bitte!“ Und später: „Kunst ist Kampf, ist Müssen, ist Lieben.“

Achim Freyer ist immer der Welt zugewandt. So verleiht er jedem Gesprächspartner das Gefühl, dass er sich ihm oder ihr voll und ganz widmet. Die Zeit spielt keine Rolle. Er ist ganz da. Und zugleich benennt er diese grundsätzliche Unzufriedenheit, da er in seinem Atelier sein möchte, wo er sich den materiellen Auseinandersetzungen mit Farben, Leinwänden, Räumen und gefundenen Objekten voll und ganz widmen kann. Achim Freyer lebt verschiedene Leben parallel, das Leben des bildenden Künstlers, des Theatererfinders, des Sammlers und vereint sie doch in einem großen Strom kreativen Handelns.

Zweimal, 1977 und 1987, wird Achim Freyer zur documenta eingeladen. Auf der documenta 6 verarbeitet Freyer in dem Environment „Deutschland – ein Lebensraum“ das Erbe von Nationalsozialismus und deutscher Teilung. In der Konstellation mit den politischen Plakaten von Klaus Staeck entsteht eine kritische künstlerische Setzung, die mit Beuys’ Installation „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ und der dazugehörigen Free International University als radikalem Ausgangspunkt für ein neues Verständnis von Kunst korrespondiert. Auf der documenta 8 (1987) zeigt Achim Freyer mit seiner Arbeit „Der gestreckte Blick oder die Krümmung der Fläche zum Raum“ die Verbindungslinien zwischen den bildkünstlerischen und szenischen Künsten, reflektiert die Beziehungen zwischen Bühne und Malerei. Er steht in einer Traditionslinie künstlerischer Forschung, wie sie mit Oskar Schlemmer oder Wassily Kandinsky am Bauhaus in den zwanziger Jahren entwickelt worden ist. Mit einer raumgreifenden, 20 x 15 Meter großen blauen Farbfeldmalerei am Staatstheater neben dem Fridericianum wird dieser Forschungsansatz anschaulich. Durch einen Sturm wenige Tage nach der documenta-Eröffnung wird die Leinwand vollständig zerstört. Konzeptionell mündet die temporäre Installation in eine neue Werkserie.

Besonders anschaulich wird das Neudenken des Theaters aus der bildenden Kunst in der Philip-Glass-Oper „Einstein on the Beach“ von 1988 oder der Trilogie „Metamorphosen des Ovid“ (Mensch und Gott), „Woyzeck“ (Mensch ohne Gott) und „Phaeton“ (Mensch als Gott) am Burgtheater Wien in den Jahren 1987 bis 1991. Im Programmheft zu „Einstein on the Beach“ sagt Achim Freyer: „Das Theater selbst wird das Thema seiner Zerlegung in Sprachelemente, Laut, Klang, Farbe, Punkt, Linie, Fläche, Figur, Raum, Bewegung, Zeit, die Entdeckung des eigenen Darstellungskosmos eines jeden Elements in seiner weiteren Zerlegung.“ Freyer macht die Bühne zur experimentellen Konstruktionsebene jedes einzelnen Gestaltungselements. Theater wird Kunst.

Die konsequente Erforschung aller formalen Möglichkeiten prägt das Werk von Achim Freyer bis in die Gegenwart. In seiner grenzenlosen Fantasie erschließt er Räume der Freiheit, des Spiels, aber auch der Utopie, aus der Kunst heraus eine Welt zu erschaffen als Gegenentwurf zu den Strukturen von Macht und Unterdrückung. Dafür steht auch das Kunsthaus der Achim Freyer Stiftung, in dem Achim Freyer seit mehr als sechzig Jahren eine einzigartige Sammlung von inzwischen mehr als 2.000 Kunstwerken zusammengeführt hat, die seine Vision einer vorurteilsfreien Begegnung mit Kunst der Öffentlichkeit erschließt: ein Raum der Toleranz und Integration, ein Antimuseum der Gegenwart. T

Hasenmensch vor Fenster, 1977. Teil des Environement „Deutschland, ein Lebensraum“ für die documenta 6