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Punch Drunk Auf einen Tanz mit den Göttern

Auf einen Tanz mit den Göttern

In ihrer neuen Inszenierung „The Burnt City“ beschwören Punchdrunk in London die antike Mythologie als ekstatischen Rave im Neonlicht

Von Lina Wölfel

Eine mythische Welt: „The Burnt City“ist die bislang größte Inszenierung von Punch Drunk Ich gehe nach rechts, öffne eine stählerne Tür und stehe plötzlich allein auf einem großen Platz, der nur vom flackernden Licht bunter Neonröhren der umliegenden Geschäfte beleuchtet wird. Getrieben von den pulsierenden, dunklen Bässen des Sounddesigns von Stephen Dobbie will ich gerade in die Bar gehen, als zwei maskenlose Gestalten Hand in Hand aus dem Café kommen. Ich folge ihnen durch schmale Gassen, an der Bar, einem japanischen Lebensmittelgeschäft und einer Wäscherei vorbei, durch den Seiteneingang eines Stundenhotels in den ersten Stock, durch den Flur und in einen Raum, der nach einem Siebzigerjahre-Anwaltsbüro aussieht. Aus einem Nebenraum kommen weitere Personen – Maskenlose und Maskentragende. In den nächsten Minuten sehen wir einer ekstatischen Tanzszene zu. Die Körper der Tänzer:innen fliegen erst über Tische, dann durch die Räume, und verlangsamen sich schließlich bis hin zur Slow Motion. Von meinem ersten Adrenalinrausch runterkommend, kann ich das Geschehen um mich herum endlich verorten: die dichte, nächtliche Stadt mit ihren komischen Shops, ihren bunt-flackernden Neonschildern und den pochenden Beats – ich bin in Troja. Eine Stadt, die sich, dem Untergang geweiht, in einem Anfall von seltsamer Euphorie zum letzten Tanz aufbäumt. „The Burnt City“ ist die bislang größte Inszenierung der 2000 von Felix Barrett gegründeten Theatergruppe Punchdrunk. In zwei ehemaligen Waffenarsenalen am Londoner Stadtrand mit gut 10.000 Quadratmetern Fläche entfalten 28 Performer:innen eine mythische Welt, die auf Euripides Tragödie „Hekabe“ und Aischylos „Agamemnon“ basiert. Neben der trojanischen Stadt, durch die ich mich zu Beginn des Abends bewegt habe, befindet sich in einer weiteren riesigen Halle auch das antike Griechenland als unheilvolles, düsteres und brachiales Niemandsland. Riesige Panzerigel dienen als Opferkreuz und Schlachtfeld gleichermaßen, über eine große Treppe geht es zu Agamennons Palast hinauf, der aus einem zwanzig Meter langem Beton-Catwalk besteht. Je nach Eintrittszeit haben die Besucher:innen zwischen zwei und drei Stunden Zeit, sich frei durch die dystopische Welt zu bewegen.

Wie bei Punchdrunk üblich, muss ich mit meiner Überforderung und Angst, etwas zu verpassen, umgehen. Bleibe ich und beobachte, wie sich ein Charakter, ein Erzählstrang beziehungsweise ein Konflikt entfaltet oder gehe ich weiter?

Die dichte, nächtliche Stadt mit ihren komischen Shops, ihren bunt-flackernden Neonschildern und den pochenden Beats – ich bin in Troja. Eine Stadt, die sich, dem Untergang geweiht, in einem Anfall von seltsamer Euphorie zum letzten Tanz aufbäumt.

Wer sich ein geschlossenes Narrativ wünscht, wird wohl enttäuscht werden. Wer aber bereit dazu ist, sich durch versteckte Räume zu bewegen und Performer:innen in Kostümen an der Grenze zwischen RaverPunk und historisierender Ballrobe zu folgen, wie sie sich durch den verwirrenden Plot winden –, für den machen Felix Barrett und Maxine Doyle das Angebot einer mit allen Sinnen erfahrbaren Welt.

Denn es lohnt, sich immer mal vom Gedränge der Massen wegzubewegen, in Ruhe durch die bis ins letzte Detail ausgestatteten Räume zu streifen, Türen zu öffnen und durch Kleiderschränke zu gehen. So entdecke ich zum Beispiel in einem Schlafzimmer eine Postkarte aus dem McKittrick Hotel in New York – dem Ort, an dem ich vor sechs Jahren mit „Sleep No More“ meine erste Punchdrunk-Inszenierung gesehen habe.

Wer sich ein geschlossenes Narrativ wünscht, wird wohl enttäuscht werden. Wer aber bereit dazu ist, sich durch versteckte Räume zu bewegen und Performer:innen in Kostümen an der Grenze zwischen Raver-Punk und historisierender Ballrobe zu folgen, wie sie sich durch den verwirrenden Plot winden –, für den machen Felix Barrett und Maxine Doyle das Angebot einer mit allen Sinnen erfahrbaren Welt. Eine Welt, in der man sich selbst verlieren kann, lernen kann, den eigenen Impulsen zu folgen und in den turbulentesten Momenten plötzlich Ruhe zu finden. Hinter meiner Maske habe ich intime und öffentliche, bezaubernde und abstoßende Momente miterlebt, fasziniert von der Möglichkeit zu sehen, aber nicht gesehen zu werden. Ich hatte Sand und Dreck unter meinen Füßen, als eine tote Prinzessin durch die Luft gewirbelt wurde, bin durch einen Tunnel aus Lammfell in den geheimen Unterschlupf der Seherin gekrochen und spürte, wie Polymestor, nachdem Hekabe ihn geblendet hatte, sein Gesicht in meine Hände legte und mich danach zu einem letzten Tanz des Abends aufforderte. Zugegebenermaßen, ich habe ein wenig den Süßigkeitenladen vermisst, in dem ich mich in New York durch die Bonbongläser probiert habe. Nichtsdestotrotz war die antike Mythologie für mich an diesem Abend nicht nur Szenografie, die Tänzer:innen nicht bloß Staffage. Für drei Stunden sind sie Wirklichkeit geworden. T