Neue Zeitschrift für Musik. Leitmedium für zeitgenössische Musik

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PORTRÄT

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© Konrad Fersterer

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AUS STILLE GEBOREN DIE MUSIK DER UKRAINISCHEN KOMPONISTIN ANNA KORSUN von Martin Tchiba Im September 2014 gewann Anna Korsun den Preis der GaudeamusMusikwoche in Utrecht. Ihre «auffallende Unbefangenheit und große Hingabe an Material und Form» stellten den «konstanten Faktor» in ihrer

Das Ringen um Gleichgewicht: Auf der verformbaren Asthenosphäre, der zweitäußersten Schicht des Erdkörpers, «schwimmt» die starre Lithosphäre, die sich bei Belastung absenkt, bei Entlastung wieder aufsteigt. Im Klavierquintett Isostasie (2011) von Anna Korsun wird dieses geologische Prinzip Klang. Die Komponistin betrachtet jahrhundertelange Prozesse im Zeitraffer, komprimiert die Bewegungen der Erdkruste zu großzügigen Glissandi – es ächzt, quietscht, schreit. Eine nahezu berstende Spannung herrscht zwischen Klavier und Streichquartett, gut zehn Minuten lang. Und dann ist es still. Beim Streifzug durch Korsuns Œuvre fällt auf, dass sie sich in den meisten ihrer Arbeiten konsequent auf eine einzige – oft recht kompakte – kompositorische «Aufgabenstellung» pro Werk konzentriert. Diese allerdings wird in aller Ausführlichkeit «durchleuchtet», sodass auch aus einfachsten Ideen hochdifferenzierte Partituren resultieren. Das gilt für Isostasie ebenso wie für das Kammermusikstück Dream of a Whale (2010), für welches Korsun die «Erforschung der Langsamkeit» als Sujet wählte. Laut Anweisung der Komponistin soll das Werk von den Musikern erst in zügigerem, dann in zunehmend langsamerem Tempo geprobt werden, bis schließlich – nahe der sensiblen Grenze, an der sich die Strukturen in Einzelereignisse auflösen – das subjektive «as slow as possible» erreicht wird. Es geht abwärts, hinunter in die unwirtlichen Tiefen der Ozeane, die Heimat gigantischer Meeressäuger, deren Gesang Korsun in ausgedehnte Glissandi übersetzt. Eine düster-fesselnde Poesie ist es, die sich hier ob einer gelungenen Klang-Melange aus Horn, Bassposaune, tiefer Stimme,Tomtom und zwei Kontrabässen entfaltet, zehn Minuten im Bassregister verweilend. Der eigentlich erschütternde Moment findet sich am Ende des Stücks: Plötzlich schießt das Geschehen, begleitet von einem heftigen accelerando, in die Höhe; ein leidenschaftliches Aufbäumen ist das, gegen die Dunkelheit, gegen die Langsamkeit. Die beinahe kathartische Wirkung dieses abschließenden Abschnitts resultiert aus den vorhergegangenen zehn Minuten, aus dem Mut, den Aufenthalt am untersten Limit der Tempo-Skala fast irritierend ausführlich zu gestalten, sodass das Verlassen dieses Segments tief aufatmen lässt. Korsun wagt viel, reizt Extreme aus.

Arbeit dar, so die Begründung einer von Korsuns Musik «tief berührten» Festival-Jury. Das Werkverzeichnis der 1986 im ostukrainischen Donezk geborenen Komponistin, die bei Moritz Eggert in München studiert hat und zur Zeit als Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart lebt, zählt bereits knapp fünfzig Einträge.

«BURST A BALLOON»

In UnderSurFace für Flöte, Oboe, Horn,Violine, Violoncello und Klavier (2012) gibt es ebenfalls einen derartigen Bruch kurz vor Schluss: In den ersten acht Minuten entwirft Korsun

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