6 minute read

ADIÓS BUENOS AIRES

Ein Bandeon-Spieler will das krisengeschüttelte Argentinien verlassen, doch die Begegnung mit einer aufregenden Frau machen den Plänen einen Strich durch die Rechnung. Ein funkelndes Filmfest (nicht nur) für Tango-Fans!

Argentinien 2001: Julio Färber (Diego Cremonesi), Besitzer eines kleinen Schuhladens in Buenos Aires und leidenschaftlicher Bandoneon-Spieler in einem Tangoorchester, sieht angesichts der allgegenwärtigen Wirtschaftskrise und des politischen Chaos keinen anderen Ausweg mehr, als nach Deutschland, dem Geburtsland seiner Mutter, auszuwandern. Doch dann nimmt das Schicksal eine unerwartete Wendung. Durch einen Autounfall lernt er Mariela (Marina Bellati) kennen. Die temperamentvolle Taxifahrerin geht ihm anfangs gehörig auf die Nerven, schleicht sich aber bald samt ihrem Sohn Pablito in sein Herz. Und mit Ricardo Tortorella (Mario Alarcón), der betagten, aber noch immer betörend singenden Tango-Ikone früherer Zeiten, findet Julios Tango-Band eine neue Stimme und fast zu altem Glanz zurück. Das alles soll Julio aufgeben für ein wirtschaftlich gesichertes Leben in Europa, wo niemand so für den Tango und die Liebe brennt?

Mit angenehmer Leichtigkeit entwickelt German Kral seine vielschichtigen Figuren, wenige Pinselstriche genügen, um glaubwürdige Typen zu zeichnen. Ein erstklassiges Ensemble sorgt mit südamerikanischem Charme für die notwendige Empathie. Ähnlich unangestrengt werden die diversen Konflikte präsentiert: Missverständnisse in der Liebe. Pubertierende Töchter. Abgeschobene Senioren. Materielle Sorgen. Last not least ein Land im fatalen Strudel der großen Krise. Die Lage scheint ohne viel Hoffnung. Doch wenn du glaubst, es geht nicht mehr: kommen von irgendwo tröstende Tango-Klänge daher. Virtuos wird die Musik aufgeführt und souverän in die Handlung eingebaut. Songs und Story erzählen gleichermaßen von Liebe, Leidenschaft und Schmerz. Ob bei all solcher Tango-Theatralik noch ein Happy-End denkbar ist? Wie wird Stehaufmännchen Julio sich in letzter Minute entscheiden…? programmkino.de / Dieter Oßwald

Living

Englischsprachiges Remake von Akira Kurosawas Film „Ikiru“ (1952) über einen Beamten, der im Trott des Alltags verlernt hat, was es heißt, wirklich zu leben. Bis ihm aufgrund einer Krankheit kaum noch Zeit bleibt.

London im Jahr 1953: Mr. Williams (Bill Nighy) ist ein Beamter, der streng nach Vorschrift handelt, jedweden Idealismus verloren hat und Vorgänge auch einfach zu den Akten legt, wenn sie sich nicht klären lassen. So wie die Petition einiger

Damen, die die Stadt ersuchen, in ihrem Viertel einen Spielplatz zu bauen. Doch dann erhält Mr. Williams eine erschütternde Diagnose. Er hat nur noch wenige Monate zu leben. Nun muss er sich fragen: Hat er überhaupt jemals wirklich gelebt? Und könnte er es zumindest jetzt in seinen letzten Monaten?

Akira Kurosawas Film basiert auf einem Roman von Leo Tolstoi. „Living“ ist eine Adaption von „Ikiru“. Dabei geht man sogar soweit, dass man die Handlung wie im Originalfilm in den frühen 1950er Jahren spielen lässt. Für Regisseur Oliver Hermanus war das durchaus herausfordernd, denn er wollte mit seinem Film den Eindruck erzeugen, ein Werk zu präsentieren, das wirklich vor mehr als 70 Jahren produziert worden ist. Dazu setzt er auf ein 4:3-Bildformat, nutzt aber auch eine heute gar nicht gängige Schnittform. Er lässt Szenen den Raum sich zu entfalten. Die schnelle Schnittabfolge modernen Kinos lässt der Regisseur gänzlich fallen. Die Farbpalette ist den Filmen der damaligen Zeit angepasst. Für die einleitende Sequenz wurden Aufnahmen von London aus alten Wochenschauen digital überarbeitet. Dazu kam eine klassische Schriftart für die Stabsangaben und eine Musik, die auch altmodisch anmutet. „Living“ sieht damit aus wie ein Film, der vor langer Zeit entstand. Seine Geschichte indes hat an Aktualität nichts verloren. Bezeichnend ist die Szene, als Williams’ Kollegen nach der Beerdigung auf dem Weg nach Hause schwören, sich künftig wie er zu engagieren und die Dinge nicht einfach schleifen zu lassen. Aber „Living“ ist ein Film, der sich nichts vormacht. Von dem guten Vorsatz bleibt nichts. Nur ein weiterer Stein im Mosaik dieser traurigen Geschichte eines Lebens. Kein Film, der wirklich Freude bereiten würde, aber einer, der – zumindest für eine kurze Zeit – aufweckt und jedem Zuschauer die Frage stellt: Lebst du wirklich?

Karlsruhe

Sparta

Ein Mittvierziger zieht in die verarmte, ländliche Einöde Rumäniens, wo er mit Jungen aus der Umgebung ein verfallenes Schulgebäude zu einer Festung ausbaut. Ulrich Seidls zweiter Teil eines filmischen Diptychons über zwei Brüder.

Vor Jahren hat es den Mittvierziger Ewald nach Rumänien verschlagen. Jetzt wagt er einen Neuanfang. Er verlässt seine Freundin und zieht in die verarmte, ländliche Einöde, wo er mit Jungen aus der Umgebung ein verfallenes Schulgebäude zu einer Festung ausbaut. Die Kinder entdecken dort eine Unbeschwertheit, die sie so nicht kannten, doch der Argwohn der Dorfbewohner lässt nicht lange auf sich warten. Und Ewald muss sich einer lange verdrängten Wahrheit stellen.

“Sparta” ist das Bruderstück zu “Rimini” und Vollendung von Ulrich Seidls Diptychon über die Unentrinnbarkeit der eigenen Vergangenheit und den Schmerz, sich selbst zu finden. Regisseur Ulrich Seidl über den Film: “Ich habe vor vielen Jahren, lange bevor es dieses Projekt überhaupt gegeben hat, auf die Frage eines Journalisten, welches Thema ich keinesfalls für einen Film bearbeiten würde, gesagt: Kindesmissbrauch. Als ich aber eines Tages auf die wahre Geschichte eines Deutschen, der Nacktfotos von Buben gemacht und über eine kanadische Agentur im Internet verkauft hat, gestoßen bin, wusste ich, dass ich mich darauf einlassen möchte. Allerdings war der Tatsachenfall nur ein Ansatz und Ausgangspunkt für die Entwicklung des Drehbuchs für “Sparta”. Mit der Hauptfigur Ewald haben sich Ko-Autorin Veronika Franz und ich sehr weit von der Inspirationsquelle entfernt. Ewald macht die Fotos und Videos nicht, um damit Geschäfte zu machen. Vielmehr sucht er nach einem Weg, mit seiner pädophilen Neigung umzugehen. Wie sein Bruder Richie, dessen Geschichte ich in “Rimini” erzählt habe, wird er von seiner Vergangenheit eingeholt, ist seine Selbstfindung eine Schmerzhafte. Ich wünsche mir, dass der Zuschauer nach einem Film von mir anders aus dem Kino kommt als er hinein gegangen ist. Ich will verunsichern, weil jede Verunsicherung Fragen aufwirft und, im besten Fall, auch zu neuen Erkenntnissen führt.”

Die Linie

Der Film seziert das gestörte Verhältnis einer gleichgültigen, egomanischen Mutter zu ihren Töchtern und thematisiert das Verlangen nach mütterlicher Liebe und stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen. Ebenso besonnen wie einfühlsam.

Die 35-jährige Musikerin Margaret (Stéphanie Blanchoud) ist in der Vergangenheit häufiger durch Gewalttätigkeit aufgefallen. Auch Liebesbeziehungen gingen deshalb in die Brüche. Eines Tages greift sie ihre Mutter, die 55-jährige Christina (Valeria Tedeschi), während eines eskalierenden Streits an. Die Polizei muss anrücken, Margaret wird verhaftet. Die Folge des Streits: ein Hörschaden bei Christina. Für die Solo-Pianistin eine Katastrophe. Es wird entschieden, dass sich Margaret dem Haus ihrer Familie nicht mehr als 100 Meter nähern darf – und das für drei Monate. Doch das hält sie nicht davon ab, die Nähe ihrer Familie zu suchen. Sie will sich für vergangene Fehler entschuldigen und sehnt eine Aussöhnung herbei.

„Die Linie“ ist eine filmische Charakterstudie über eine Familie, die von dysfunktionalen Beziehungen durchzogen ist. Im Zentrum steht das komplizierte, angespannte Miteinander zwischen Margaret und Christina. Margaret hat ihr Leben lang um die Anerkennung und Liebe der Mutter gekämpft, doch gelang es ihr nie, zur stets passiven, wenig empathischen Christina durchzudringen. Ihre kleine Schwester, die 12-jährige Marion (hingebungsvoll und entrückt: Elli Spagnolo), zieht eines Tages eine blaue Linie um das Grundstück der Familie – jene Grenze, die Margaret fortan nicht mehr überschreiten darf. Was die labile Frau nicht abhält, diese Demarkationslinie dennoch immer wieder aufzusuchen. Stellvertretend steht diese Linie für jene Barriere, die Margaret immer schon zwischen sich und ihrer Mutter vernahm. Eine passende metaphorische Entsprechung, die die französisch-schweizerische Filmemacherin Ursula Maier hier findet und die letztlich den Film wie ein roter Faden durchzieht. Maier beweist ein gutes Gespür für das Inszenieren mitreißender und emotional gewichtiger Ausbrüche. Ansonsten dominieren in „Die Linie“ allerdings vielmehr die Andeutungen und subtilen Hinweise. programmkino.de / Björn Schneider

She Chef

Der Dokumentarfilm begleitet die frischgebackene, österreichische Kochweltmeisterin Agnes auf ihre Lehr- und Wanderjahre durch drei der renommiertesten Restaurants der Welt.

„She Chef“ ist das Portrait von Agnes, frisch gebackene Kochweltmeisterin. Nach der Ausbildung in Österreichs TopRestaurant, dem „Steirereck“, begibt sich die 25-Jährige auf eine spannende Reise, um von den besten Köchen der Welt zu lernen und ihre eigene Küchensprache zu entwickeln. So unterschiedlich Persönlichkeiten und Stile der berühmten Köche aus Vendome, Disfrutar und Koks auch sein mögen: Die Stars der Szene sind alles Männer. Wir begleiten Agnes auf ihrem eigenen Weg zur Spitzenköchin in einer Zeit, in der Frauen sich nicht einfach nur mehr hintenanstellen. „She Chef“ stellt sich die Frage nach der Zukunft der Arbeitswelt, nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nach den Träumen der nachfolgenden Generation. Ganz nebenbei führt uns der Film an die sinnliche Schönheit dieses Handwerkes heran abseits des üblichen Starkults.

Agnes auf die Frage, ob es wFrauen erleichtern könnte, sich in der Sterneküche durchzusetzen und eine Chancengleichheit zu schaffen: „Der Ausgangspunkt ist der Umgang miteinander in den Küchen. Schwierig wird es, wenn die Männer ein Männerbild in die Küche tragen, das man ‚toxisch‘ nennt. Unter dem großen Druck, der herrscht, wird es dann oft unangenehm bis unangemessen. Genauso aber bei den Frauen: Viele haben das Bild von sich, dass sie bestimmte Sachen einfach nicht so gut können, so stark verinnerlicht, dass auch ich manchmal genervt davon bin. Man kann als Mann männlich sein oder als Frau weiblich und gemeinsam als Menschen arbeiten und sich helfen, dafür muss aber jeder eine gewisse Reflexion über das eigene Verhalten mitbringen. Und dann fängt der Fisch natürlich immer vom Kopf an zu stinken: Aber da kommen jetzt junge Küchenchefs und Chefinnen nach, die ein größeres Bewusstsein für Genderfragen mitbringen und dadurch ändert sich auch einiges in den Küchen.“