JURAcon Jahrbuch 2014/2015

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Interview mit Dr. Jürgen Reiß

­ orgabe –, alleine zu probieren. Mein Ziel war vorV rangig, mich bis zum Abschluss meines Promotionsverfahrens einigermaßen über Wasser zu halten und dann mit Anfang 30 in eine angesehene Kanzlei einzutreten. Ich machte mich in Karlsruhe selbstständig, weil dort eine Community von über 6.000 Italienern lebte, und ich dachte: Für die kann ich tätig werden. Darauf hatte mich das Italienische Generalkonsulat in Stuttgart aufmerksam gemacht; 6.000 Italiener in Karlsruhe, die brauchen einen italienischsprachigen Anwalt. Von meinen Freunden und Studienkollegen wurde ich natürlich für verrückt erklärt. Jedoch: Schneller, als mir lieb war, hatte ich wahnsinnig viel zu tun. Und war total begeistert! JURAcon: Wie verlief Ihre Selbstständigkeit? Ich war zwei Jahre so beschäftigt und auch zufrieden, dass ich die Dissertation habe schleifen lassen. Ich war in Karlsruhe wirklich „Mädchen für alles“, habe mich mit Familienrecht beschäftigt, Restaurantbesitzer beraten – ganz alltägliche Fälle. Das war übrigens eine sehr dankbare Mandantschaft, ich wurde eingeladen zu Familienfesten, Kindstaufen etc. Ich war fast so eine Mischung aus Rechtsanwalt und Sozialarbeiter. Nach zwei Jahren, 1998, habe ich aber intellektuell eine Krise bekommen und sagte mir: Dafür hast du nicht Jura studiert und so gute Examen gemacht, der Weg muss in eine größere Kanzlei gehen. Dazu musste ich zunächst meine Dissertation abschließen, was zwei Jahre später der Fall war. Ich bekam in dieser Zeit dann auch ein hochattraktives Angebot aus einer Großkanzlei, wo ich den Italian Desk hätte mitaufbauen können. Das lehnte ich aber ab. JURAcon: Warum? Sie suchten doch gerade nach größeren Fällen, der geistigen Herausforderung. Weil ich inzwischen gemerkt hatte: Ich bin letztlich ein Einzelgänger und will mir nichts sagen lassen. Ich bin immer gegen den Strom geschwommen und habe meine eigenen Vorstellungen durchgesetzt, selbst wenn viele mich immer wieder für verrückt erklärt haben. Auch

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wenn meine Mandate klein und meine Mandantschaft oft sehr anstrengend waren: Ich war mein eigener Herr. JURAcon: Wie ging es weiter? Ich schloss mich mit einem befreundeten italienischen Avvocato zusammen, den ich aus dem Studium kannte, und so deckten wir schon mal die Achse Karlsruhe–Bologna ab. Von da an verbrachte ich immer drei Wochen im Monat in Karlsruhe und eine in Bologna. Mein Ziel war es, vom Avvocato stabilito, dem EUAnwalt in Italien, zum Avvocato integrato, dem richtigen italienischen Rechtsanwalt, zu werden. Ich bin also bei meinem Partner in die Lehre gegangen und habe ihn zu den Prozessen begleitet. 2003 bekam ich meinen Doktor. Zeitgleich kam auf Empfehlung der C.H. BeckVerlag auf mich zu, mit der Anfrage, ob ich Co-Autor einer Monographie zum italienischen Erbrecht werden wolle. Danach konnte ich natürlich leicht weitere Aufsätze platzieren und überhaupt viel publizieren. JURAcon: Verlagerte sich Ihr Schwerpunkt damit mehr nach Italien? Inzwischen hatte ich meine Aufenthalte in Bologna aufgestockt. Ich war jeweils halb in Karlsruhe und Bologna und begann Vorträge bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Florenz und Bologna zu halten. Mit der Zeit gewann ich auf diese Weise immer mehr interessante gewerbliche Mandanten mit lukrativen Mandaten, sodass ich die Tätigkeit für die Italiener in Karlsruhe zurückschrauben konnte. Auf das Erbrechtsbuch folgte ein Immobilienrechtsbuch, so waren meine beiden Lieblingsrechtsgebiete abgedeckt. Im Gesellschaftsrecht, meinem dritten Spezialgebiet, veröffentlichte ich ein Büchlein für die IHK, sodass ich auch darin präsent war. Das Jahr 2005, mit der Prüfung zur Zulassung als italienischer Avvocato vor der Anwaltskammer, hat dann noch mal buchstäblich mein Leben verändert. JURAcon: Inwiefern? Ich war jetzt einer der wenigen, die die echte Doppel­ zulassung hatten! 139


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