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RICHARD DAVID PRECHT HARALD WELZER

Debatt 1 DS Politik ieren

Richard David Precht, Harald Welzer Die vierte Gewalt S.FISCHER | 288 S. | 22,– € O P 220 Lesepunkte Auch als eBook | Hörbuch

SIE MIT!

WARUM ZWEIFELN immer mehr Menschen in Deutschland an unserer Demokratie und Meinungsfreiheit? Wie kommt es, dass immer weniger Menschen hinter dem stehen, was uns in den Medien als Mehrheitsmeinung präsentiert wird? Brisante Fragen, denen Richard David Precht und Harald Welzer in ihrem aktuellen Buch nachgehen, in dem sie das Mediensystem analysieren – genauer gesagt: die Veränderungen und Entwicklungen, die unsere Demokratie gefährden, z.B. Simplifizierung und Personalisierung in der Berichterstattung und Selbstangleichung der Medien. Ein Debattenbuch mit vielfältigen Impulsen, wie die „vierte Gewalt“ ihrer Rolle wieder gerechter werden kann.

EXKLUSIV | INTERVIEW

VIEL STEHT AUF DEM SPIEL: Zwei der profiliertesten Intellektuellen Deutschlands sehen den Gefahren ins Auge, die unsere Demokratie bedrohen. Diese hochbrisante Entwicklung, die tatsächlichen Ursachen und Herausforderungen untersuchen der Philosoph Richard David Precht (RDP, links im Bild) und der Sozialpsychologe Harald Welzer (HW, rechts im Bild) in ihrem ersten gemeinsamen Buch: „Die vierte Gewalt“. Im Fokus: die Medien und ihre Schlüsselrolle in der Demokratie. Eine präzise Analyse fordert zur lebendigen Diskussion heraus!

T Mit welcher Absicht haben

Sie Ihr Buch geschrieben?

HW: Wir wollten Veränderungen im Mediensystem nachzeichnen. In jedem gesellschaftlichen System gibt es Veränderungsprozesse. Aber das Mediensystem ist ein gesellschaftlicher Teilbereich, der eng mit der Demokratie und der Frage der demokratischen Öffentlichkeit verbunden ist.

T Was war der Auslöser? HW: Der konkrete Auslöser ist, dass wir eigentlich seit der Flüchtlingskrise 2015/16 beobachten können, dass es eine Entfernung der publizistischen Öffentlichkeit von der lebensweltlichen Öffentlichkeit gibt. Die veröffentlichte Meinung unterscheidet sich an vielen Stellen von der öffentlichen Meinung.

T Woher kommt das? RDP: Die Leitmedien orientieren sich in ihrer Meinungsbildung sehr selten an ihren ZuschauerInnen, HörerInnen oder LeserInnen, sondern in erster Linie an dem, was ihre KollegInnen meinen. Und dadurch, dass die Szene sich wechselseitig spiegelt und bestätigt, kann es passieren, dass in den Leitmedien Mehrheitsmeinungen entstehen, die keine Mehrheitsmeinung in der Öffentlichkeit sind.

T Was sind für Sie die

zentralen Fragen, mit denen Sie an das Thema herangegangen sind?

RDP:Ein Anlass war aktuell das Thema der Waffenlieferungen an die Ukraine. Bei dieser Frage ist die Öffentlichkeit etwa hälftig dafür bzw. dagegen. In der veröffentlichten Meinung aber ist sie in Kommentaren und Meinungsseiten beinahe zu 100 Prozent für diese Waffenlieferungen. Wir wollten uns nun erklären, wie eine solche Lücke zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung entsteht.

T Sie fürchten um die

Demokratie?

RDP: Das große Zauberwort einer gut funktionierenden Demokratie ist das Wort deliberativ. Das heißt: beratschlagend. Eine gut funktionierende Öffentlichkeit besteht darin, dass möglichst viele Gleiche über Gleiches reden können, ohne die gleiche Meinung haben zu müssen. Wenn das gegeben ist, wenn es also einen hohen partizipatorischen Anteil gibt, dann können die Medien ihre Funktion erfüllen, nämlich erstens so informativ wie möglich, zweitens so inklusiv wie möglich und drittens so integrativ wie möglich zu sein.

T Was läuft schief? HW: Wir haben jetzt eine Entwicklung von einer sachorientierten Debatte hin zu einer personalisierenden Debatte. In unserem Buch haben wir auch einen Vergleich, wie anders Debatten in den 1980ern und 90ern geführt wurden. Da gab es in der Bundesrepublik ja große Debatten, den Historikerstreit, Günter Grass in der SS, Martin Walsers Rede in der Paulskirche ... Es ging mit großer Bestimmtheit und durchaus Härte um die Sachfragen in der Diskussion! Es ging um Worte, Texte, historische Sachverhalte – aber nicht um die Person.

T Warum haben Sie denn den Titel

„Die vierte Gewalt“ gewählt?

RDP: Der Begriff der „vierten Gewalt“ ist relativ alt. Aber eine richtige Bedeutung hat er eigentlich erst in der Adenauerzeit bekommen. In dieser Zeit also hat man der Presse einen Status gegeben und gesagt: Eure Aufgabe ist es, der Politik auf die Finger zu schauen, ihr müsst sie kontrollieren und so eine Art „vierte Gewalt“ werden. Aus der Zeit kommt diese Selbstdefinition. Und sie legt den Schwerpunkt aufs Kontrollieren. Die vierte Gewalt soll kontrollieren.

T Und wie ist heute die Praxis? RDP: Heute haben wir die Situation, dass die vierte Gewalt sich mit dem Kontrollieren nicht mehr begnügt. Der Anspruch scheint nun zu sein, die Politik vor sich her zu treiben – also selber Politik zu machen.

T Woran würden Sie das Defizit an

Differenziertheit veranschaulichen?

HW: An Fragen zum Ukrainekrieg. Das wäre die Stunde einer Medienlandschaft, andere Positionen – wie sie in der Bevölkerung, aber auch in der internationalen Diskussion vorhanden sind – stark zu machen und gegen die Meinungsdominanz in den Parteien zu setzen. So dass wir vitale, öffentliche Debatten über diese Fragen, die alle elementar und folgenreich für unsere Zukunft sind, führen könnten. „Das große Zauberwort:

deliberativ – also beratschlagend!“

T Welche Leserschaft möchten Sie mit

Ihrem Buch erreichen?

HW: Alle, die an dem Wohlergehen unserer Gesellschaft interessiert sind! Schlicht und ergreifend. RDP: Und ich würde mir wünschen, dass das Buch eine Diskussion lostritt und wir eine frische, kritische, meinungsvielfältige Debatte hinbekommen.