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RETURN To sEoUl

Impulsiv

Originaltitel: Retour à Séoul D Belgien/Deutschland/Frankreich/Qatar 2022 D 116 min D R: Davy Chou D B: Davy Chou D K: Thomas Favel D S: Dounia Sichov D M: Jérémie Arcache, Christophe Musset D D: Ji-Min Park, Guka Han, Yoann Zimmer, Ouk-Sook Hur D V: rapid eye movies

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Freddie wurde als Baby von einem französischen Ehepaar adoptiert. Doch ihre Wurzeln liegen in Südkorea. Einem Impuls folgend reist sie in das Land ihrer leiblichen Eltern. Regisseur Davy Chou (DIAMOND ISLAND), der als Kind kambodschanischer Eltern in Frankreich aufwuchs und auch erst als Erwachsener Kambodscha kennenlernte, kennt sich aus mit der Zerrissenheit, die man spürt, wenn man sich immer im Dazwischen bewegt, nie wirklich zugehörig ist. Und diese innere Verbindung mit seiner filmischen Geschichte spiegelt sich auch in seiner sensiblen Inszenierung. Zudem thematisiert er Koreas Geschichte als „Baby-exportierende Nation“, die bis heute schambesetzt ist. Nach dem KoreaKrieg hatte Südkorea zunächst aus wirtschaftlichen Gründen angefangen, in Vielzahl vor allem Waisen und amerikanisch-koreanische Säuglinge ins Ausland zu vermitteln, aber auch später, als aufstrebende Industrienation, nicht damit aufgehört. Die konfuzianische Tradition des Landes stützt sich stark auf Blutsverwandtschaft und Ahnenlinien, die als Voraussetzung für eine intakte Familie gelten. Deshalb gelten adoptierte Kinder immer noch als minderwertig, auch wenn sich in den letzten Jahren die Einstellung der koreanischen Gesellschaft hierzu langsam verändert. Mittlerweile steigen die Inlandsadoptionen.

Chou lässt vielleicht auch deshalb Freddie in einem Mix aus Auflehnung und Selbstsabotage über koreanischen Boden fegen und dabei alle Grundpfeiler der Benimm-Codes, die in Korea unausgesprochen gelten, mit sich reißen. Sie mag sich nicht den Gepflogenheiten anpassen, ist fordernd und bis an die Schmerzgrenze extrovertiert. Vermittelt durch die staatliche Adoptionsagentur trifft sie auf die Familie ihres Vaters, die sie mit Entschuldigungen überschüttet aber auch fast umgehend der Meinung ist, dass Freddie in Korea leben und einen koreanischen Mann heiraten soll. Chou zeigt, in mehreren Zeitsprüngen über acht Jahre, Freddies Reibungen und Häutungen auf der Suche nach sich selbst und einem Ankerpunkt im Leben, hinreißend intensiv dargestellt von Park Ji-min in ihrer ersten Rolle – Freddie, als Sinnbild für den Stachel, der bis heute tief in der südkoreanischen Gesellschaft sitzt. D Susanne Kim ¢ Start am 26.1.2023

DANIEl RIchTER

Unprätentiös

Eine klassische Künstler*innendoku ruht auf drei Säulen: Aufnahmen bei der Arbeit, Selbstreflexionen und Kommentare von Freunden und Weggefährtinnen. Die erste Säule von DANIEL RICHTER ist solide: Wir sehen den Künstler in seinem Westberliner Hinterhofatelier, an den Wänden lehnen riesige Leinwände, auf dem Boden liegen Perserteppiche. Im Gegensatz zu Richters immer verschmierter Kleidung lassen sie keinen Tropfen Farbe erkennen. Durch die Luft fliegen Papageien, im Hintergrund laufen Platten, Reggae, Hip-Hop, Elektronisches. Die Szenen im Studio sind immersiv und energetisch und bringen Richters Kunstpraxis tatsächlich näher. Die zweite Säule ist angenehm schlicht: Für einen dokumentarfilmwürdigen Künstler wirkt Daniel Richter sympathisch und unprätentiös, seine Beobachtungen beschließt er gern mit trockener Selbstironie. Er versucht erst gar nicht, Tiefgründiges über die Malerei und die Welt zu sagen, daher erfahren wir nichts sonderlich Interessantes, aber auch nichts Peinliches. In einer bezeichnenden Passage erklärt eine Kunsthistorikerin den politischen Gehalt von Richters Gemälde „Tarifa“ von 2001, das geflüchtete Menschen auf einem Schlauchboot im Mittelmeer zeigt, und schaut im Anschluss online dessen Versteigerung bei Christie’s zu: 950.000 €, ein anonymer Kauf über das Telefon. Zwar äußert sich Richter auch über die Funktion von Kunst als Anlage und Geldwaschmittel, so richtig scheint ihn trotzdem nicht zu interessieren, woher sein Geld kommt. Der vom Künstler selbst initiierte Film darf auch die Schattenseiten erfolgreicher Kunst beleuchten; Richters Bestreben, nicht nur ein cooler, sondern auch ein linker Millionär zu sein, wird vom Filmemacher Pepe Danquart jedoch nicht weiter hinterfragt. Und die dritte Säule: ist Jonathan Meese. Yorick Berta D

¢ Start am 2.2.2023

kAllE kosmoNAUT

Aufwachsen in Marzahn-Hellersdorf

Tief im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf liegt die Allee der Kosmonauten. Hier wächst Pascal, den alle nur Kalle nennen, bei seiner Mutter und deren Freund auf. Für den persönlichen und sozialkritischen Langzeit-Dokumentarfilm KALLE KOSMONAUT über eine Jugend in Ost-Berlin in den 2010ern begleiten Tine Kugler und Günther Kurth Kalle zehn Jahre lang.

Kalle steht vor einem Plattenbau. „Ich hab Angst, wie’s mit mir weitergeht“, sagt der 16-Jährige. Unter Drogeneinfluss hat er einen Mann verletzt. Mit 10 Jahren ist Kalle allein zuhause. Seine Mutter hat ihm einen Zettel mit Anweisungen dagelassen: „Kein Blödsinn.“ Kalle spielt Fußball, Kalle hält Händchen, Kalle rappt. Die Kamera ist dabei. Dann der Einschnitt: Kalle muss eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und drei Monaten absitzen. Düstere Animationen von Alireza Darvish zeigen Kalle im Knast, aus dem er dem Filmteam nur Briefe schreiben kann. Ein riesiger Rabe symbolisiert das Unheil, das über Kalles jungem Leben kreist. Auf der mit Respekt und Empathie gefilmten Reise durch eine schwierige Berliner Jugend werten Kugler und Kurth nicht, treten Kalle und seiner Familie nie zu nahe und lassen Raum für eigene Erklärungsversuche: Wie ist es, in Marzahn-Hellersdorf aufzuwachsen? Mittlerweile trocken, schildert Kalles Oma, wie ihr Partner und sie vor Kalle tranken. Kalles Opa sehnt sich nach der „guten“ DDR-Zeit. Kalles Mutter Kerstin musste viel arbeiten und fragt sich, ob sie zu wenig Zeit für Kalle hatte. Seinen Vater hat Kalle seit Jahren nicht gesehen. Hätten sich Kalles Straftaten verhindern lassen? Eigentlich sei Kalle ein lieber Kerl, sagt die Kiezpolizistin. Kalle selbst ist fest entschlossen, nie wieder in einer Zelle zu landen. Ob er es schafft, weiß der reflektierte junge Mann nicht: „Was ist ein gutes Leben? Ich hab keine Ahnung davon! Aber die Luft will ich auch mal riechen.“ D Stefanie Borowsky ¢ Start am 26.1.2023

The long-term documentary KALLE KOSMONAUT about a childhood in East Berlin in the 2010s follows young Pascal, nicknamed Kalle, over 10 years.

FRITz BAUERs ERBE

Späte Prozesse

2018 steht der frühere SS-Wachmann Johann R. in Münster vor Gericht. Möglich wurde die Anklage dank der Zeugenaussage von Judy Meisel (USA), Überlebende des KZ Stutthof, die den Mann auf einem Foto identifizierte. Zwei Jahre später wird in Hamburg ein weiterer Wachmann des KZ Stutthof angeklagt; Zeugin ist die über 90-jährige Roza Bloch, die aus Israel anreist, um ihre Aussage zu machen. Beide Damen und ihre Familien stellen der deutschen Justiz die gleiche Frage: Warum hat es mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, diese Männer vor Gericht zu bringen? Dieser Frage versucht sich der Dokumentarfilm FRITZ BAUERS ERBE anzunähern. Das Team begleitete die Nebenklägerinnen, ihre Angehörigen und die Rechtsanwälte, die sie vor Gericht vertreten, während der Verfahren. Verständlich und detailliert geben Expert*innen in Gesprächen Einblicke in die Vorgänge vor Gericht, ihre Archivarbeit sowie die Geschichte der Prozesse gegen KZ-Verbrecher in der Bundesrepublik. Erst 1963 fand auf Initiative des jüdischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer mit dem Auschwitzprozess in Frankfurt zum ersten Mal ein Versuch statt, die „kleinen Rädchen“ im Getriebe des industriellen Massenmordes zur Rechenschaft zu ziehen. Seine „Rädchentheorie“ lehnte die deutsche Justiz jedoch ab – erst mit den Prozessen zum 11. September wurden Präzedenzfälle geschaffen, die es möglich machten, Mittäter an Massenverbrechen in Bauers Sinne zu verurteilen.

Regisseurinnen Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof lassen uns in ihrem einfühlsam gefilmten Film nachvollziehen, wie tief die Verbrechen (und die Verbrecher) der Nazizeit in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sind, und warum es auch nach über 70 Jahren immer noch sinnvoll und noch unabdingbar ist, dafür zu kämpfen, dass diese Taten so lange wie möglich juristisch verfolgt werden. D Eva Szulkowski ¢ Start am 2.2.2023

IN DER NAchT DEs 12.

Polizeifilm

Schon zu Beginn von Dominik Molls Film IN DER NACHT DES 12. erklärt eine Texttafel, dass es um einen unaufgeklärten Mord auf der Basis eines wirklichen Falls gehen wird. Die Sicherheit vermittelnde Form des Krimis, an dessen Ende mit der Aufklärung der Tat die Ordnung wieder hergestellt ist, wird ausdrücklich von Molls ungewöhnlichem Polizeifilm zurückgewiesen.

Eine junge Frau, Clara, ist auf dem Heimweg von einer Freundin von einem Unbekannten mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt worden. Der brutale Mord schockiert auch die Polizisten Yohan (Bastian Bouillon) und Marceau (Bouli Lanners). Sie verdächtigen Claras Sex-Bekanntschaften, von denen es mehr gibt, als Claras beste Freundin zunächst verrät. Nanie macht sich dadurch selbst verdächtig, aber sie fürchtet vor allem eine Vorverurteilung ihrer Freundin. Alle Beziehungen von Männern zu Clara sind von Gewalt kontaminiert, auch die der Polizisten. Im Revier reagiert die zunächst ausschließlich männliche Belegschaft zwar schockiert auf die Bilder der verbrannten Toten, ein Witz über ein Missgeschick bei der letzten Grillparty löst das Entsetzen aber schnell wieder auf. Der jüngste Freund von Clara beginnt im Verhör zu kichern, als er Details erfährt, ein Verdächtiger war wegen Gewalt gegen Frauen im Gefängnis, wieder ein anderer stalkte Clara. Aber der Mord selbst lässt sich keinem der Männer nachweisen.

Die fehlende Auflösung trotz jahrelanger, sorgfältiger Polizeiarbeit führt dazu, dass sich etwas anderes enthüllt: die latente Drohung männlicher Gewalt, die ständiger Bestandteil des Geschlechterverhältnisses ist. Sie wird zu einem Grundton des Films, der so eine fundamentale Verunsicherung erzeugt. In Molls Filmen gibt es oft ein dunkles Element, das eine permanente Bedrohung anzeigt oder ein Unglück ankündigt. In diesem kühlen, rationalen Polizeifilm ist dies nicht ein düsteres Omen wie in LEMMING oder eine exzessive Leidenschaft wie in DIE VERSCHWUNDENE, sondern die andauernde Ungewissheit und das alltägliche Potential zur Gewalt von Männern im Umgang mit Frauen, aber auch in ihren Gesprächen untereinander. D

¢ Start am 12.1.2023

Tom Dorow

wANN kommsT DU mEINE wUNDEN küssEN?

Tiefe Gefühle

Regisseurin Maria (Bibiana Beglau) macht sich von Berlin auf zum elterlichen Hof im Schwarzwald, weil ihre Schwester an Krebs im Endstadium leidet. Den Hof bewirtschaften inzwischen Laura (Gina Henkel) und Jan (Alexander Fehling), die als Schauspielerin und DJ früher Marias engste künstlerische Verbündete waren und sich im Landleben größere Freiheit erträumt haben. Doch der Hof fordert viel Kraft, dazu kommt die Sorge um Marias Schwester Kathi (Katarina Schröter), die versucht, ihre Krankheit mit schamanischen Ritualen im Winterwald zu kurieren. Marias Auftauchen löst eine Welle von Konfrontationen aus, in denen nach und nach Bruchstücke der gemeinsamen Geschichte sichtbar werden. Immer mehr Informationen über die Vergangenheit werden ausgegraben, immer mehr verschiedene Interpretationen und Versionen der Geschichte tauchen auf, die die vier durch tiefe Gefühle und heftige Verletzungen aneinanderbindet. Der Film ist ohne Drehbuch entstanden, Regisseurin Hanna Doose hat die Grundzüge der Geschichte festgelegt und die Szenen mit den Schauspielern in Improvisationen am Set entwickelt. Diese Arbeitsweise merkt man dem Film an. Die Figuren wirken dadurch sehr lebendig und authentisch, der Geschichte hätte ein stärkerer dramaturgischer Zugriff wahrscheinlich an manchen Stellen gutgetan. In der Überfülle an Plot verliert sich mitunter, worum es eigentlich geht. „Nichts ist gefährlicher für unsere Herzen als der Staub“ sang die Hauptfigur in Dooses erstem Film

STAUB AUF UNSEREN HERZEN, das könnte hier auch das Motto sein. Die Konfrontation mit der Vergangenheit wirkt als Katalysator für Veränderung und zwingt zu neuem Aufbruch. D Susanne Stern

¢ Start am 2.2.2023

In her second feature film, Hanna Doose brings together a group of forty-somethings with a shared past in a siuation that reopens old conflicts and forces them to break through the years of silence.

BAByloN

BABYLON, der neue Film von Damien Chazelle (LA LA LAND, WHIPLASH) entlehnt seinen Titel sicher nicht zufällig dem legendären Buch „Hollywood Babylon“ von jedermanns Lieblingssatanisten Kenneth Anger. Das starbesetzte Sündenpfuhl-Drama (Brad Pitt, Margot Robbie, Olivia Wilde) über den Übergang der Stummfilm- und den Übergang in die Tonfilmepoche in Hollywood soll, so raunt es nach ersten Andeutungen nach Probescreenings in den USA, ein „wilder Ritt“ der „Ausschweifung“ sein. Wir werden sehen.

¢ Start am 19.1.2023

Originaltitel: Babylon D USA 2022 D 189 min D R: Damien Chazelle D D: Brad Pitt, Margot Robbie, Tobey Maguire, Samara Weaving, Flea, Olivia Wilde, Jean Smart, Spike Jonze, Katherine Waterston, Max Minghella

wAR sAIloR

WAR SAILOR ist die bislang teuerste norwegische Filmproduktion aller Zeiten. Der Film spielt im zweiten Weltkrieg und handelt von den Handelsmatrosen Alfred Garnes und Sigbjørn (Wally) Kvalen, die im Atlantik um ihr Überleben kämpfen. Jederzeit kann ihr Frachter von deutschen U-Booten angegriffen und ausgeraubt werden. Auch die Nachrichten, die sie aus der Heimat erreichen, sind erschreckend. In Bergen, wo Alfreds Frau mit drei Kindern auf ihn wartet, hat die britischen Luftwaffe irrtümlich eine Grundschule und Wohnhäuser bombardiert.

¢ Start am 9.2.2023

Originaltitel: Krigsseileren D Norwegen/Deutschland/Malta 2022 D 150 min

D R: Gunnar Vikene D D: Kristoffer Joner, Pål Sverre Hagen, Ine Marie Wilmann, Henrikke Lund Olsen

EIN mANN NAmENs oTTo

EIN MANN NAMENS OVE (2015) war in Schweden einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Er erzählt vom grantigen Ove, der sich nach dem Tod seiner geliebten Frau eigentlich umbringen möchte – aber immer kommt etwas dazwischen: Die Nachbarin braucht Hilfe beim Heizungsentlüften, und jemand muss sich um die streunende Katze kümmern. Vor allem ist da die gut gelaunte und hochschwangere Iranerin Parvaneh, die sich von Oves Grummelei nicht abschrecken lässt und ihn resolut in ihre Projekte einspannt. Im Remake heißt Ove Otto und wird von Tom Hanks gespielt. ¢ Start am 2.2.2023

Originaltitel: A Man Called Otto D USA 2022 D R: Marc Forster D D: Tom Hanks, Manuel Garcia-Rulfo, Rachel Keller, Mariana Treviño

ARBoRETUm

Kurz nach der Jahrtausendwende warten die besten Freunde Erik und Sebastian in einem Thüringer Kaff nahe der ehemaligen Grenze darauf, dass endlich „etwas Großes“ passiert. Sie haben schon einen Plan, der Stadt zu zeigen, wer sie sind, aber bis sie den umsetzen, zocken sie Videospiele, werden von den örtlichen Faschos schikaniert und üben das Schießen mit dem NVA-Gewehr von Eriks Vater. Hauptsache, nicht im Saufalltag unterzugehen, mit dem die erwachsenen „Schafe“ ihre Traumata bekämpfen. Doch dann lernt Erik ein Mädchen kennen, Elli, die weg will, sobald sie 18 ist. ¢ Start am 9.2.2023

BIggER ThAN Us

Mit 12 Jahren hat Melati Wijsen eine Kampagne gegen Einweg-Plastik in Indonesien ins Leben gerufen. Mit 18 beschließt sie, die Welt zu bereisen, und andere junge Aktivist*innen zu treffen. Mit ihr zusammen besucht der Dokumentarfilm Mohammed, der in Libanon eine Schule für Geflüchtete aufgebaut hat, Mary, die sich auf Lesbos in der Flüchtlingshilfe arbeitet, Memory, die sich in Malawi für eine Anhebung der Alters, in dem Mädchen heiraten dürfen, auf 18 Jahre einsetzt und Rene der mit 12 begann, über das Leben in den Favelas zu schreiben.

¢ Start am 16.2.2023

Frankreich 2021 D 96 min D R: Flore Vasseur

wANN wIRD Es ENDlIch wIEDER so, wIE Es NIE wAR

Sonja Heiss (HEDI SCHNEIDER STECKT FEST) hat den autofiktionalen Roman von Joachim Meyerhoff verfilmt: Der kleine Joachim wächst als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein inmitten von 1.500 Patient*innen auf – die meisten Kinder, aber auch einige Erwachsene sind darunter, die hängengeblieben sind. Joachim kommt gut mit ihnen zurecht, weit schwerer tut er sich mit der eigenen kriselnden Familie. Der Film folgt dem Protagonisten im Alter von sieben, 16 und schließlich 25 Jahren. ¢ Start am 23.2.2023

Deutschland 2023 D 116 min D R: Sonja Heiss D D: Laura Tonke, Devid

Originaltitel: Tytöt! Tytöt! Tytöt! D Finnland 2022 D 100 min, FSK: 12 D R: Alli

Haapasalo D B: Ilona Ahti, Daniela Hakulinen D K: Jarmo Kiuru D S: Samu

Heikkilä D D: Aamu Milonoff, Eleonoora Kauhanen, Linnea Leino,

gIRls! gIRls! gIRls!

Freundinnen-Freitage

Die Freundinnen Mimmi (Aamu Milonoff) und Rönkkö (Eleonoora Kauhanen) stehen mit ihren 17, 18 Jahren an der Schwelle zum Erwachsenwerden. An drei aufeinanderfolgenden Freitagen schütteln verschiedene Erlebnisse ihre Gefühle gründlich durch. Mimmi, deren Mutter sie vernachlässigt und die vor Wut schon mal mit dem Hockeyschläger ausholt, verliebt sich in die leistungsorientierte Eisläuferin Emma (Linnea Leino), die sie beim Jobben im Smoothie-Laden kennenlernt. Rönkkö dagegen spürt beim Sex nichts – und das muss sich dringend ändern!

Die in dunklen und Pastellfarben im finnischen Winter inszenierte Coming-of-Age-Story dreier Teenagerinnen ist der dritte Spielfilm der 1977 in Helsinki geborenen Alli Haapasalo, die sich als Regisseurin oft starken weiblichen Figuren widmet. In GIRLS! GIRLS!

GIRLS! (Drehbuch: Ilona Ahti, Daniela Hakulinen) rückt sie drei unterschiedliche junge Frauen in den Fokus, die sich unbekümmert, frei und selbstbewusst ihren Raum nehmen. Offen, detailliert und auf so frische und witzige Art wie sie Smoothies mit sprechenden Namen mixen, reden die Heldinnen über ihre sexuelle Orientierung und über weibliche Lust. Haapasalo nähert sich feinfühlig, ernsthaft und dennoch mit Humor der Lebens- und Gedankenwelt der drei. Mimmi, Rönkkö und Emma dürfen Fehler machen, Wut rauslassen, sich ausprobieren und scheitern, ohne dass sie jemand dafür verurteilt. Der Feminismus im Film, der mit seinem 4:3-Format an Apps wie Instagram erinnert und mit Songs des weiblichen finnischen Rap-Duos SOFA unterlegt ist, bildet die selbstverständliche Grundlage der Geschichte der Teenagerinnen, die ihre eigenen Ziele und Träume auch gegen Widerstände verfolgen und sich trauen, Grenzen zu setzen. GIRLS GIRLS GIRLS ist ein Film von Frauen über Frauen – für alle Geschlechter und Altersgruppen. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 23.2.2023

A variety of experiences shake up the feelings of friends Mimmi and Rönkkö on three consecutive Fridays.

Originaltitel: Så jävla easy going D Schweden/Norwegen 2022 D 91 min, FSK 12 D R: Christoffer Sandler D B: Christoffer Sandler, Lina Åström, Jessika Jankert, Linda-Maria Birbeck D K: Nea Asphäll D S: Jens Christian Fodstad, Robert Krantz D M: Gustaf Spetz D D: Nikki Hanseblad, Melina Paukkonen, Shanti Roney, Emil Algpeus D V: Edition Salzgeber

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Gefühlskarussell

Joana scheint auf den ersten Blick eine durchschnittliche Jugendliche zu sein. Bis sie eines Tages ihre Medikamente nicht bekommt, weil die letzten Rechnungen noch nicht bezahlt wurden. Ab da entwickelt sich ein echtes Gefühlskarussell, denn ohne ihre ADHS-Tabletten dreht sich für Joana die Welt noch schneller als sowieso schon – und gerade da bemerkt sie die Neue in der Schule, Audrey, die Joana zusätzlich den Kopf verdreht. Wie also an Geld für neue Medikamente kommen und dabei nicht total anstrengend für alle anderen werden? Kurz gesagt: Joana versucht „einfach normal“ zu sein – und das ist sie hier auch. SO DAMN EASY GOING erzählt unaufgeregt, wie vielfältig Normalität aussehen kann: Da ist der Junge von nebenan, der beim Sex zu viel flucht, aber mit seinem Marihuana-Vorrat vielleicht die nötige Geldspritze für Medikamente geben kann. Und es gibt auch den Vater, der um Joanas Mutter trauert und zu Hause gegen seine Depressionen Tierquiz-Sendungen schaut, während die Rechnungen sich türmen. Mit viel Leichtigkeit und warmherzigem Witz zeichnet Christoffer Sandler in diesem Coming-of-Age-Film fast wie nebenbei ein Bild von ADHS, das die Klischees von hyperaktiven Kippel-Kindern unterläuft, indem er gerade keine Krankheitsgeschichte erzählt. Seine Aufnahmen pulsieren, und oft sind die Übergänge zwischen ADHS und Teenage-Angst fließend: Egal, ob Joana ins eiskalte Wasser im skandinavischen Winter springt, um ihre Gedanken zu ordnen, oder versucht, ihre zitternden Hände vor Gleichaltrigen in der Sauna zu verbergen – am Ende geht es um den Mut, sie selbst zu sein. Dass dabei eine Liebe zwischen zwei Mädchen entsteht, ohne Vorurteile von außen, lädt zum Träumen ein.

D Anna Hantelmann

¢ Start am 12.1.2023

When Joana has to get by without her ADHS pills due to the accumulation of unpaid bills, the teen‘s world spins faster than it already does – and just then she notices the new girl in school.

Originaltitel: Where Is Anne Frank? D Belgien/Luxemburg 2021 D 99 min, FSK (beantragt): 6 D R: Ari Folman D K: Tristan Oliver D S: Nili Feller D M: Ben Goldwasser, Karen O D V: farbfilm Verleih

Deutschland/Luxemburg/Polen 2021 D 92 min, FSK: 6 D R: Barbara Kronenberg D B: Barbara Kronenberg D K: Konstantin Kröning D S: Rune Schweitzer, Paul Maas D M: André Dziezuk D D: Romy Lou Janinhoff, Jonas Oeßel, Hildegard

Wo ist Anne FrAnk

Aus der Geschichte lernen

Der israelische Regisseur Ari Folman widmet sich in seinem Animationsfilm WO IST ANNE FRANK? dem bewegenden, vielfach verfilmten Schicksal des jüdischen deutsch-niederländischen Mädchens Anne Frank. Der Film entstand auf Initiative des von Annes Vater Otto gegründeten Anne Frank Fonds mit dem Ziel, in Zeiten des wachsenden Antisemitismus und Rassismus die junge Generation zu erreichen.

Nachdem Anne zu ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 ein Tagebuch geschenkt bekommen hat, entscheidet sie, ihre Einträge in Briefform an Kitty zu richten, eine imaginäre beste Freundin, die gut zuhört und der sie alles anvertrauen kann. Viele Jahre später bricht ein starkes Gewitter über Amsterdam herein. Im Anne Frank-Haus, dem weltbekannten Museum, in dem Annes Tagebuch ausgestellt ist, zerspringt das Glas, das es schützt. Aus dem Buch heraus erwacht Kitty zum Leben, die sich wundert, dass Anne und ihre Familie nicht da sind. Auf der Suche nach Anne streift Kitty samt Tagebuch durch das heutige, winterlich-düstere Amsterdam, in dem Geflüchtete in Zelten nahe den Grachten hausen. Kitty freundet sich mit Peter an, der eine illegale Unterkunft für Geflüchtete betreibt, und mit dem vor Krieg geflüchteten Mädchen Awa. Mithilfe des Tagebuchs, das mittlerweile die ganze Stadt sucht, reist Kitty immer wieder in Annes Leben zurück, spricht mit ihr – und erfährt nach und nach, was nach ihrem letzten Brief mit Anne passiert ist.

In WO IST ANNE FRANK?, für dessen 2D-Animation Lena Guberman verantwortlich zeichnet, schlägt Ari Folman (WALTZ WITH BASHIR) eindrücklich eine Brücke zwischen Kindern wie Anne, die während des Nationalsozialismus ihr Land verlassen mussten, und geflüchteten Kindern heute. D Stefanie Borowsky

¢ Start am 23.2.2023

Mission Ulja FUnk

Die 12-jährige Ulja (Romy Lou Janinhoff), jüngstes Kind einer russlanddeutschen Familie, liebt das Weltall. Sie kennt sie sich nicht nur bestens mit Himmelskörpern aus, sondern hat sogar einen entdeckt: Den Meteoriten VR-24-17-20, der in Weißrussland auf die Erde treffen soll. Als sie im Kindergottesdienst ihrer Freikirche davon erzählt, ist die Gemeinde nicht begeistert von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vor allem ihre sehr gläubige Oma Olga (Hildegard Schroedter) ist schockiert und betet zu Gott, dass er ihre Enkelin „auf den rechten Weg“ führen möge. Doch der einzige Weg, den Ulja gehen möchte, ist der zum Landeplatz ihres Meteoriten. Weil sie sehr zielstrebig und erfindungsreich ist, tritt sie zusammen mit ihrem Mitschüler Henk (Jonas Oeßel) die Reise durch Polen nach Weißrussland an. Versehentlich entführen sie dabei Oma Olga – und bald sind ihnen auch Uljas Eltern und ihre Glaubensgemeinschaft auf den Fersen.

MISSION: ULJA FUNK ist der erste lange Spielfilm von Regisseurin Barbara Kronenberg, die auch die Geschichte geschrieben hat. Der Film, der schon einige Preise gewonnen hat, wurde mit einer großen Crew aus verschiedenen Ländern realisiert. Man muss bei dieser turbulenten Komödie oft richtig laut lachen, viele Späße sind aber auch ganz schön heftig (zum Beispiel, wenn der betenden Oma einfach das Kreuz auf den Kopf fällt und sie ohnmächtig wird!). Ulja ist auf jeden Fall eine tolle Heldin: Sie erinnert ein bisschen an Wednesday Addams, die gerade mit der nach ihr benannten Netflix-Serie viele Herzen erobert hat. Auch sie lacht selten, hat starke Nerven und lässt sich von nichts und niemandem verbiegen. Gerade weil sie so nerdig und eigensinnig ist, begleitet man sie sehr gerne, während sie sich langsam mit Henk anfreundet, mit ihrer Familie streitet und unaufhaltsam ihren Träumen nachgeht. D Eva Szulkowski ¢ Start am 12.1.2023

12 year old Ulja, the youngest child in a Russian-German family, loves outer space. When she discovers that meteorite VR-24-17-20 is meant to hit Earth in Belarus, she hits the road with her classsmates.

DEr BESTE FILm

ALLEr zEITEN:

JEANNE DIELmAN, 23, QUAI DU COmmErCE, 1080 BrUXELLES

Seit 1952 hält die vom British Film Institute herausgegebene Filmzeitschrift „Sight and Sound“ alle zehn Jahre unter Filmjournalist*innen, Kurator*innen, Filmwissenschaftler*innen und Filmemacher*innen eine Umfrage nach den besten Filmen aller Zeiten ab, aus denen der Filmkanon der „100 besten Filme aller Zeiten“ generiert wird. Mindestens für den englischsprachigen Raum ist die Sight and Sound-Liste die wichtigste und bekannteste Leitlinie für wichtige Filme. 1952 befand sich Vittorio de Sicas neorealistischer Film Fahrraddiebe, damals gerade vier Jahre alt, auf Platz 1. Über 50 Jahre lang regierte ab 1962 Orson Welles’ CITIZEN KANE die Liste. Erst 2012 lösten Alfred Hitchcocks Vertigo in der „Critic’s Poll“ bzw. Yasuhiro Ozus TOKYO MONOGATARI (Die Reise nach Tokyo) in der „Director’s Poll“ Welles’ technisch brillanten Klassiker ab. Die „Sight and Sound Poll 2022“ ist gerade erschienen, und zum ersten Mal steht ein Film einer Frau auf der Spitzenposition: Chantal Akermans JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES. Akermans Film, mit einer Laufzeit von knapp dreieinhalb Stunden, war selten im Kino zu sehen, und auch im Internet ist JEANNE DIELMANN nicht zu finden. Aktuell zeigen einige Kinos den experimentellen feministischen Klassiker in Sondervorstellungen (Ausschau halten!)

Die ganze Liste findet ihr hier: bfi.org.uk/sight-and-sound/greatest-films-all-time