Fazit 178

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Außenansicht Von Peter Sichrovsky

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igenverantwortung kann der Staat nicht generell den Menschen bei jeder Gefahr abnehmen. In Vertretung der Gesellschaft könnte er Warnungen ausssprechen wie mit Bildern auf Zigarettenpackungen und mit Anordnungen reagieren, unter welchem Alter und an welchen Orten nicht geraucht werden darf. Generell ist Rauchen jedoch nicht verboten. Nur ein Beispiel für das begrenzte Eingreifen des Staates, um die Bevölkerung zu schützen. Andere sind Sicherheitsgurt, Altersgrenzen bei Alkohol, Verbot von Drogen usw. Wie soll jedoch der staatlich verordnete Schutz vor einer Infektion funktionieren, wenn eine Impfpflicht nicht in Frage kommt? Wie können Frauen und Männer überzeugt – und eben nicht gezwungen – werden, sich impfen zu lassen, Masken zu tragen, Abstandsregeln einzuhalten und sich regelmäßig die Hände zu waschen? Darauf weiß die Politik keine Antwort, und das ist ihr nicht einmal vorzuhalten. Seit der Beginn der Covid-Pandemie leben Regierungen und damit auch die Bevölkerungen in einem Versuchslabor. Mal wird

Ahnungslos durch die Pandemie

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das eine probiert und die Folgen beobachtet, dann wieder das andere. Auf die täglichen Infektionen wartend, entscheiden Verantwortliche über Öffnung und Schließung von Geschäften, Schulen und Unternehmen, den Besuch von Sport- und Kulturveranstaltungen und wann und wo der Urlaub verbracht werden könnte. Politiker entscheiden nicht auf der Grundlage ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Erfahrungen. Sie spielen eher »Stille Post«, bekommen von Fachleuten Ratschläge und treffen Entscheidungen. Wobei am Ende eine ganz andere Information herauskommen könnte, wie sie am Beginn der Kette kommuniziert wurde. Generell funktioniert dieses System relativ gut bei den zuvor aufgelisteten Beispielen der staatlichen Interventionen in den Alltag. Problematisch wird es bei einer Situation, für die es keine Erfahrungen gibt, auch nicht von Seiten der Wissenschaftler. Der beste Weg aus der Corona-Pandemie ist weder erforscht noch bewiesen. Das motiviert viele, sich selbst ein Bild zu machen und eine Meinung zu bilden. Man recherchiert, sucht Informationen, sitzt am Computer und versucht Meinungen zu finden, um letztendlich selbst eine zu haben. Und hier scheitern Politiker. Es fehlen ihnen die Erfahrungen, mit welcher Methode eine gefährliche Infektion kontrolliert, und eine »Infektion« mit falschen Informationen ausgeglichen werden könnte. Genau so neu wie das Virus ist die Meinungsbildung über das Internet. Parallel zur reduzierten Erreichbarkeit über Fernsehen und Zeitungen wächst der Einfluss von Social Media auf Facebook, Instagram oder Twitter und anderer Onlinemethoden. Politische Vertreter, aber auch Journalisten, hinken hinterher und flüchten sich in schulmeisterliches Gehabe mit leeren lehrreichen Sprüchen. Sie bitten – warnen, ermahnen –, man möge sich impfen lassen und alle Vorschriften einhalten, und sie drohen, man müsse sonst die Anordnungen verschärfen. Die Verantwortlichen erkennen nicht einmal ihre Widersprüche in der Hilflosigkeit. Da wird ein Bürgermeis-

ter gefeiert, weil er die Vorschriften verschärft, ein Minister weil er sie entschärft, und ein Bundeskanzler, weil er alles anders macht. Die Ahnungslosen in Politik und Medien spielen uns ahnungslosem Volk die Wissenden vor, mit derart unterschiedlichen oft widersprüchlichen Meinungen, dass die Flucht ins Internet für viele der einzige Ausweg ist. Vor allem wenn Parteipolitik in den Streit einfließt, dieser dann mit einer absurden Links-Rechts-Logik völlig entgleitet und eine rationale Covid-Bekämpfung überlagert. Grün kämpft gegen Türkis, Rot gegen Grün und Blau gegen Rot. Und das mit einer Selbstüberschätzung, als würde im Parlament von den Abgeordneten entschieden werden, wann einem Herzkranken ein Schrittmacher eingesetzt werden darf und wann nicht. »Ich weiß, dass ich nichts weiß, doch manche wissen nicht einmal das«, ist eine Ergänzung der Weisheit von Sokrates, und passt so gut zur Jetztzeit. Hätten ahnungslose Politiker uns Ahnungslosen wenigstens einmal klar gemacht, dass – was immer sie anordnen – ein notwendiger Versuch sei, der sehr schnell an die reale Situation angepasst werden müsste, da es keine Erfahrungen gäbe, vielleicht hätte es eine größere Bereitschaft in der Bevölkerung gegeben, die Ratschläge auch anzun nehmen.

Sie erreichen den Autor unter peter.sichrovsky@wmedia.at


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