Fazit 169

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Essay von Günter Riegler

Die üblichen Verdächtigen

Zum Verhältnis von Wirtschaftssystem und politischer Kultur

ie Corona-Pandemie ist nicht nur hinsichtlich des Gesundheitswesens und der Befindlichkeit unserer Gesellschaft eine Herausforderung, sondern insbesondere auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Der Staat spannt einen noch nie da gewesenen Rettungsschirm, Kurzarbeit, Nullzinsen, Fixkosten- und Umsatzzuschüsse definieren das Verhältnis zwischen Staat und Bürger neu. Die Sehnsucht nach »mehr Staat« greift um sich – die Skepsis gegenüber Kapitalismus und Marktwirtschaft wächst. Unser gesellschaftlicher Grundkonsens über die ökonomische Verfasstheit des Landes scheint in Frage zu stehen. Eine ökonomische Bestandsaufnahme. I. Corona – hat der Markt versagt? Nein, hat er nicht Die Philosophin Isolde Charim ließ im Mai 2020, also gegen Ende der ersten Welle in einem Gastkommentar in der Kleinen Zeitung verlauten, die gegenwärtige Krise habe den Beweis dafür erbracht, dass »der Markt (…) diese Bedrohung nicht regeln (…)« könne, der »Markt mit seinem Credo Privatisieren, Deregulieren, Sparen« fiele der Epidemie zum Opfer. Es brauche, so Frau Charim weiter, eine »Renaissance von Konzepten des Gemeinwohls« und eine »drastische Rehabilitierung des öffentlichen Bereiches«, denn man habe jahrelang das Gesundheitswesen ausgehungert. Interessanterweise treffen sich in der Kritik am Gesundheitswesen ganz linke und ganz rechte Positionen – es gehört zum rechts wie links gern verlautbarten Gemeinplatz, man hätte den Sommer für den »Ausbau von Intensivkapazitäten« nützen müssen, die Regierung habe »geschlafen«, man hätte längst schon weitere Pflegekapazitäten aufbauen müssen und so weiter. Dabei wird außer Acht gelassen, dass ein geometrisches Infektionswachstum selbst durch noch so viele Spitalsbetten und durch noch so aufgestockte »Pflegekapazitäten« nicht bewältigt werden kann und dass während des gesamten Sommers und Frühherbst hindurch die öffentliche Meinung durch obskure Pseudowissenschafter dominiert wurde, die verbreiteten, dass das Covid-19-Virus »nicht gefährlicher als eine gewöhnliche Grippe« sei und dass die Spitäler und Intensivstationen unnötige Kapazitäten vorhielten, die niemand brauchen würde. Sollte man also der Meinung sein, das Gesundheitssystem habe infolge »Marktversagens« nicht adäquat in der Krise reagiert, dann ist das für Österreich sicher nicht richtig. Erstens, weil der Markt kein Steuerungsinstrument, sondern ein Mechanismus des Ausgleichs von Angebot und Nachfrage ist, sowie zweitens, weil marktwirtschaftliche Mechanismen im österreichischen Gesundheitssystem keine nennenswerte Rolle spielen. Unser Spitals- und Gesundheitssystem ist nahezu vollständig aus Gebühren und Steuern finanziert und steht nahezu uneingeschränkt zur Verfügung. Die Bereitstellung von Leistungen der Gesundheitsversorgung folgt – hierzulande – nicht den Marktgesetzen, sondern ausschließlich gesundheits-, versorgungspolitischen sowie regionalökonomischen Zielsetzungen. Wer also argumentiert, der Markt stünde der Gesundheitsversorgung entgegen, kann gerade in der Covidkrise kein Versagen von Marktprozessen vorweisen. II. Nicht der Markt versagt, sondern das Verantwortungsgefühl mancher Bemerkenswert an Isolde Charims Kommentar ist der Umstand, dass darin eine weit verbreitete Sehnsucht nach »mehr Staat« zum Ausdruck kommt und viele Befürworter eines »mehr Staat« zugleich an anderer Stelle »mehr Freiheit« fordern. Wer sich die letzten neun Monate der Corona-Pandemie unter dem Gesichtspunkt von »Markt« und »Staat« vor Augen führt, wird beobachtet haben, dass von einigen politischen Vertretern sowie von manchen Medienhäusern zwei einander ausschließende Forderungen erhoben wurden: einerseits jene nach individueller Freiheit (zB die Freiheit, über Testen, Impfen, Ausgehen etc zu entscheiden), andererseits jene nach staatlichen (also gemeinschaftlichen) Interventionen (zB des Ausbaues der Krankenhaus-/Pflegekapazitäten, der staatlichen Bezuschussung der von der Krise betroffenen Wirtschaftszweige und Gesellschaftsgruppen bis hin zur Gratisbereitstellung von Schutzmasken und Impfstoffen). Die

Wenn gesellschaftliche Entwicklungen aus dem Ruder laufen, dann sind die üblichen Verdächtigen rasch bestimmt: Kapitalismus und Marktwirtschaft. Am Beispiel der Coronakrise lässt sich gut untersuchen, dass Wirtschafts- und Marktgesetze nicht Ursachen, sondern Resultate der kulturellen Grundverfasstheit der Gesellschaft sind.

Foto: Heimo Binder

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Dr. Günter Riegler, geboren 1966 in Graz, ist seit 2017 als Stadtrat Mitglied der Grazer Stadtregierung. Aktuell für die Ressorts Kultur und Finanzen. FAZIT JÄNNER 2021 /// 39


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