Fazit 168

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Essay von Peter Sichrovsky

Die Wiederjudmachung

Reise in eine zerstörte Vergangenheit E

Sichrovskys Familie war ein Treffpunkt der Gestrandeten und Überlebenden. Besucht wurde sie von zurückgekehrten Emigranten, Überlebenden der Konzentrationslager und Flüchtlingen, die sich den alliierten Armeen angeschlossen hatten. Sie waren Juden, lebten vor dem Krieg in Österreich und hatten den Großteil ihrer Familien unter den Nationalsozialisten verloren.

Vier Freunde in Uniformen der Alliierten Da gab es den Onkel Lajos, von dem ich bis heute nicht weiß, warum ich ihn Onkel nannte. Er war weder mit meiner Mutter noch mit meinem Vater verwandt und hatte einen Schäferhund, eher selten für einen Juden damals. Als Jugendlicher meldete er sich zur Thälmann-Brigade in Spanien. Nach der Niederlage gegen Franco schlug er sich bis in die Sowjetunion durch, wo er sich der Roten Armee anschloss und 1945 als Soldat nach Wien kam. Der Onkel David, auch kein echter Verwandter. Er sprang vom Zug nach Auschwitz und versteckte sich jahrelang. Eine stark geschminkte Sonja mit ihrem dicklichen Mann, die, mit genügend Geld ausgestattet, die Kriegsjahre in Los Angeles in einer Villa mit Schwimmbad verbrachten, uns immer wieder Fotos zeigten und den Tag verfluchten, an dem sie zurück nach Wien kamen. All diese Berichte ersetzten mir Bücher, Radio und Kino. Ich lebte sozusagen in einem Abenteuerfilm. Nur wenige sprachen selbst über die eigene Flucht oder das Überleben in den Lagern. Es waren immer die einen, die über die anderen sprachen, wenn sie nicht anwesend waren. Ich verstand später nie die oft pathetische Heiligsprechung der Überlebenden. Natürlich hatten sie schrecklichen Qualen durchgemacht, aber wie mir einer, er hieß Onkel Robert, der drei Jahre in Buchenwald

Mag. Peter Sichrovsky, geboren 1947 in

Dem winzigen Reihenhaus mit einem verwilderten Garten auf der Rückseite und papierdünnen Wänden verdanke ich mein erstes eher indirektes erotisches Erlebnis, wenn unsere Nachbarn jeden Mittwoch Abend offensichtlich in ihrem Schlafzimmer, das an das Kinderzimmer angrenzte, wenn auch im Nebenhaus, sich dem regelmäßigen, wöchentlichen Beischlaf hingaben und ihn lautstark genossen. An diesen Abenden ging ich zum Erstaunen meiner Eltern immer freiwillig früh zu Bett mit einem Buch in der Hand und gab vor, in Ruhe lesen zu wollen. Auch sonst habe ich dieses Haus als ein Zentrum spannender und aufregender Erlebnisse in Erinnerung. Unsere Familie war ein Treffpunkt der Gestrandeten und Überlebenden. Zu den Besuchern gehörten zurückgekehrte Emigranten, Überlebende der Konzentrationslager und Flüchtlinge, die sich den alliierten Armeen angeschlossen hatten. Alle vier Besatzungsarmeen waren manchmal in unserem Haus vertreten. Vier Wiener, die Wien in britischer, französischer, amerikanischer und russischer Uniform besetzten oder befreiten. Bei all dieser Vielfalt hatten sie auch ihre Gemeinsamkeiten. Sie waren Juden, lebten vor dem Krieg in Österreich und hatten den Großteil ihrer Familien unter den Nationalsozialisten verloren.

Foto: Keith Claunch

in paar Jahre nach Ende des Krieges in Wien geboren, lebte ich mit meinen Eltern in Wien-Hietzing in einem halb zerbombten Haus, im vierten Stock, in einer großen Wohnung mit einem eigenen Kinderzimmer, damals ein echter Luxus. Mein Vater beschrieb mir später dieses Zimmer meiner frühen Kindheit als großen Raum gleich neben der Küche, mit genügend Platz für Gitterbett und Teppich, auf dem ich spielen konnte, und einer Tür an der gegenüberliegenden Wand, die mit Holzbrettern vernagelt war. Die Tür führte ins Nichts. Hinter ihr, wo vielleicht früher ein nobles Wohnzimmer mit bequemer Sitzgarnitur zum Lesen und zur Unterhaltung einlud, ging es hinunter in den Abgrund. Dieser Teil des Hauses war bei einem Bombenangriff zerstört worden. Meine Eltern kamen nach dem Krieg aus London zurück nach Wien. Wobei es eigentlich nur für meinen Vater ein Zurückkommen war, meine Mutter verließ 1938 Prag in Richtung England, lebte jedoch die Jahre zuvor immer ein Jahr in Prag und eines in Wien und sprach fließend Wienerisch mit einem noblen Hietzinger Akzent. Mein Vater wuchs im Zweiten Bezirk auf, sprach zwar Hochdeutsch mit uns, jedoch im Streit mit einem Taxifahrer konnte er sehr schnell auf den Dialekt der Leopoldstadt wechseln. Nach ein paar Jahren im vernagelten Kinderzimmer zogen wir in ein Reihenhaus in Meidling, dem 12. Bezirk in Wien. Angeblich bekam es mein Vater von der britischen Armee zugewiesen. Er hatte sich nach seiner Flucht von Wien nach England zur Armee gemeldet und kam als britischer Soldat zurück nach Wien, verließ dann die Armee und versuchte sich als Journalist.

Wien, ist Journalist, Schriftsteller, Manager und ehemaliger Politiker. Er hat Pharmazie und Chemie an der Universität Wien studiert und arbeitete in der Pharmaindustrie. Danach war er als Journalist für Profil, Spiegel und die Süddeutsche Zeitung tätig. 1988 gehörte er zum Gründungsteam des Standard. 1996 bis 2004 war er Mitglied des Europäischen Parlaments. 2006 bis 2016 war er im internationalen Management als CEO eines Energiekonzerns in Singapur und Manila tätig. FAZIT DEZEMBER 2020 /// 39


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