Fazit 158

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Essay von Peter Sichrovsky

Brexit für Anfänger

m Herbst 2016, kurz nach der Abstimmung über Brexit, übersiedelte ich nach Guildford, einer Universitätsstadt etwa eine Stunde südlich von London. Wenn man das Glück hat, dass in dem katastrophalen britischen Eisenbahnsystem der Schnellzug funktioniert, kann man die Strecke auch in 35 Minuten schaffen. Guildford ist kein Schlafzimmer für London, obwohl viele, die dort leben, in London arbeiten. Es beherbergt die »University of Surray«, eine der besten Universitäten in Großbritannien und die »University of Law«. Zahlreiche Prominente leben dort, unter ihnen viele bekannte Fußballer, die das Schulsystem dort schätzen, Ringo Starr hat ein Haus, und auch ein Mitglied der Pink Floyd. Meine sozialen Kontakte beschränkten sich in Guildford weitgehend auf den Tennisklub, wo Mittwoch und Freitag die älteren Herren in Doppelformation spielen. Nach dem Tennis sitzen die Herren im Klubgebäude bei Kaffee, Tee und Keksen und diskutieren über Wetter und Urlaube, neu entdeckte Restaurants und natürlich Politik, allerdings eingeschränkt auf ein Thema: Brexit. Über die Tennisspiele sollte nicht gesprochen werden, das verbieten die Klubregeln, denn wenn der Platz nach einem Spiel verlassen wird, ist das Verlieren oder Gewinnen kein Thema mehr. Der Klub ist so organisiert, dass immer zwei Felder nebeneinander liegen, und so spielte ich an einem der letzten Freitage, bevor ich England vor ein paar Wochen verließ, mit meinem Partner gegen zwei andere, die alle zufällig ausgewählt werden, da es keine fixen Teams gibt. Auf dem Platz neben uns spielten ebenfalls vier ältere Herren, als plötzlich deren Spiel durch laute Stimmen unterbrochen wurde und auch unsere Gruppe aufhörte. Nun muss man berücksichtigen, dass Tennis in Großbritannien ein nobler Sport ist, im Gegensatz zu Fußball, vielleicht nicht ganz so nobel wie Cricket, aber definitiv dem Rugby weit überlegen. Nur bei Pferderennen zeigt schon die Kleidung der Zuseher, dass dies eigentlich kein Massensport ist und man die Angelegenheit eher unter sich genießt. Am Platz neben uns lag ein zerbrochener Tennisschläger, offensichtlich zu Boden geschleudert, ein merkwürdiges Ereignis in einem Klub, wo selbst jedes Fluchen untersagt ist und man sich nach dem Spiel freundlich die Hände reicht, selbst wenn einer der Spieler ständig Bälle als out erklärt hat, die mitten auf der Linie landeten. Nach Unterbrechung unseres Matches gingen wir vier langsam zur anderen Gruppe und hörten lautes Schreien, und als wir näher kamen, konnte ich einen der Spieler verstehen, er hieß Robert, war schlank und groß mit buschigen Augenbrauen, arbeitete früher in Schottland in der Ölindustrie und sagte laut und wütend: »Du zerstörst die Zukunft unserer Kinder!« »Im Gegenteil! Ich rette sie!«, schrie ihn George an, ein Rechtsanwalt, klein und rundlich mit roten Flecken im Gesicht, der nur mehr zweimal die Woche Klienten empfing. Nun mischte sich der dritte Spieler ein, Frank, der als Postmeister ein Postamt in der Nähe von Guildford geleitet hatte und immer wieder Tennis unterbrechen musste, um sich an sein neues Gelenk an der Hüfte, am Knie oder sonst wo zu gewöhnen. »Ich habe ja nichts gegen den Austritt, aber alles sollte ordentlich vorbereitet und organisiert sein. Mit so einem Chaos hat doch keiner gerechnet!« Aus ihm sprach eben der Postamtsdirektor, der seine Ordnung liebt. Gleichzeitig sprach Gary, der ein kleines Bauunternehmen leitete und wegen Zuckerkrankheit und Herzproblemen relativ früh seine Pension antrat, aber immer noch zwei bis dreimal die Woche Tennis spielte. »Raus aus dem Verein, sage ich! Koste es, was es wolle! Ich will mir weder von den Deutschen noch von den Franzosen mein Leben organisieren lassen!« Auch er sprach ungewöhnlich laut und über sein weißes Gesicht rannten Schweißtropfen, die nicht vom Tennisspielen kommen konnten. Nun ging es Schlag auf Schlag, als stünden die vier am Netz und es würden durch die kurze Distanz zwischen ihnen die Bälle hin und her flitzen. Frank: »Labour hätte es viel besser verhandelt, wir brauchen Neuwahlen.« Gary: »Du spinnst ja! Der Corbyn will den Sozialismus hier einführen.« Frank: »Also bitte, halte dich zurück, ich erinnere an den Code of Conduct in unserem Klub!« Robert: »Code of Conduct ist dir wichtig, und die Zukunft unserer Kinder nicht?« Und bald kam der Punkt, an dem sie erkannten, dass sie alle vier gleichzeitig sprachen und keiner mehr den anderen verstehen konnte.

Peter Sichrovsky lebte bis zum Ende dieses Sommers in der Nähe von London. Er räumt in einer persönlichen Bestandsaufnahme mit einigen Brexit-Mythen auf und bedauert, dass die EU mit den Briten viel mehr verliert als bloß eines von 28 Mitgliedern.

Foto: Keith Claunch

I

Mag. Peter Sichrovsky, geboren 1947 in Wien, ist Journalist, Schriftsteller, Manager und ehemaliger Politiker. Er hat Pharmazie und Chemie an der Universität Wien studiert und arbeitete in der Pharmaindustrie. Danach war er als Journalist für Profil, Spiegel und die Süddeutsche Zeitung tätig. 1988 gehörte er zum Gründungsteam des Standard. 1996 bis 2004 war er Mitglied des Europäischen Parlaments. 2006 bis 2016 war er im internationalen Management als CEO eines Energiekonzerns in Singapur und Manila tätig. FAZIT DEZEMBER 2019 /// 39


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