Fazit 157

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Jeder will Tenor sein, denn das sind die Töne, die die Frauen mögen.

Karel Gott, Sänger und Komponist, 1939–2019

Vernon Subutex am Grazer Schauspielhaus

Grandios inszeniertes Larifari

Von Christian Klepej

Fotos: František Ortmann, Lex Karelly, Archiv (2)

M

anchmal bin ich froh, dem einen oder anderen Prinzip in der Regel auch nachzukommen. Etwa, keine Romane lebender Schriftsteller zu lesen, was ich mir mit dem Tag des Ablebens von John Updike – diesem gewaltigen amerikanischen Geschichtenerzähler – zu Eigen machte. So ging der Kelch des über 1200 Seiten langen und damit zumindest mit einem Fug als »Großwerk« zu bezeichnenden Romans »Das Leben des Vernon Subutex« der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes an mir schlanker Hand vorrüber. Und was mir da erspart geblieben ist, haben mir aktuelle Rezensionen, so weit ich halt das intellektuell ungeheuer aufgeladene Geschwurbel überhaupt ver-

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standen habe, gut illustriert. Ich darf bei der Ungelegenheit nur auf den Titel der Besprechung im Spiegel, »Triumph der Tirade«, oder den im Falter, »Der düstere Groove der Utopie«, verweisen, die mir beide mehr als reichten, um zu erkennen, da bin ich nicht zuhause. Virginie Despentes ist offenbar eine recht angesagte Literatin – sie gilt als »Feuilletonsfavoritin« und wird als »Balzac des 21. Jahrhunderts« bezeichnet. Ob da jetzt der geschätzte Honoré de Balzac, an dessen menschlicher Komödie ich noch lange kiefeln werde, angesprochen ist, sei dahingestellt; mir ist das Interesse bei meinen Recherchen abhanden gekommen. Wobei das für uns heute nicht so wichtig ist, kann man eine solche Betrachtung, einen solchen Vergleich sowieso erst in 200, meinetwegen 150 Jahren halbwegs sinnvoll ziehen. Bekannt geworden ist die gute Virginie jedenfalls mit ihrem Frühwerk »Fick mich« (Baise-moi, 1994), womit wir uns wohl ausreichend mit der Autorin beschäftigt haben. Nun hat sich das Grazer Schauspielhaus des »Vernon Subutex« angenommen und eine über mehr als vier Stunden gehende Dramatisierung dieses Stoffes unter der Regie von Alexander Eisenach vorgelegt. Angeschaut hab ich mir das nur, weil ich quasi zufällig vor Ort war und ich erst in der Schauspielhausbar Minuten vor der Vorstellung von Dauer und Romanvorlage Kenntnis nahm. Dann ging es los und die ersten plusminus 60 Minuten wurde ich in meiner leichten Vorahnung bestätigt, hier einem wahrlich »kritischen« Werk

beizuwohnen, was ja an den großen europäischen Bühnen viel zu selten der Fall ist. Mit ungekannter »Kapitalismuskritik« (Der böse, böse Vermieter, …), viel ganz seltener »Gesellschaftskritik« (Franzosen, Drogen, Muslime, …) und einem kräftigen Schuss total überraschender »Rundumkritik« (es ist alles total Scheibe und alle anderen nur keiner selber trägt Schuld daran). Die ersten plusminus 60 Minuten! Denn um die zweite Stunde herum, wenn man sich drauf einlässt, beginnt man langsam, aber sicher in diese wahrlich großartige Inszenierung einzutauchen. Abgeschüttelt und befreit von jeder inhaltlichen Relevanz zum Buch, erkennt man, dass da ein großartiges Ensemble – jeder einzelne Schauspieler tut das Seine dazu – eine unglaublich dichte, wort- und bildgewaltige Inszenierung darbietet. Ein Schauspiel im besten Wortsinne. Die paar unvermeidlichen Vulgärismen, die noch da und dort aufblitzen und auch die eine oder andere splatterartige Gewaltszene werden zwar nicht mit Sinn, aber doch mit »Unterhaltung« gefüllt. Das ganze Stück bekommt auf der Bühne auf sich alleine gestellt eine wundersame Erzähldynamik, die mich als Besucher nicht mehr losgelassen hat. Gegen Ende der dritten Stunde war mir klar, ich würde dieser sensationellen Aufführung so lange beiwohnen, solange mein Körper das zugelassen hätte. Einige wahrlich beachtliche Dialoge – die muslimische Tochter einer Pornoactrice (dargestellt von einer kräftig aufzeigenden Katrija Lehmann), führt beispielsweise eine unglaubliche spannende Auf-


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