Fazit 154

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Ich bin stillos. Ich habe Freunde, die wohnen sehr modern, da ist nichts zu viel. Bei mir ist alles zu viel. Elfriede Ott, Schauspielerin, 1925–2019

Henriette Gallus über Kunst, Graz und die Steiermark

Wesentlich gesprächsoffen. Oder so … die Dinge sind eben nicht so einfach. Beruflich interessieren mich diese Nationalisierungen natürlich weitaus mehr.

Von Michael Petrowitsch

H

enriette Gallus, stellvertretende Intendantin des Steirischen Herbst, spricht locker und aber sowas von entspannt über das zweite Jahr ihres herbstlichen Daseins. Über ihre Projekte und über ihre beruflichen Ausrichtungen. Da geht’s ums Berufliche! Aber lesen Sie selbst! Bist Du angekommen? Als Grazerin? Da sind wir schon bei einem unserer Festivalthemen. Nationale Konzepte sind nicht meins, ich komme aus der DDR, also einem Land, das es nicht mehr gibt. Zuschreibungen dieser Art sind mir fremd, obwohl das natürlich gleichzeitig prägt. »Deutsche im Ausland« zu sein, ist nicht meine primäre Wahrnehmung. Ich sehe alles kleinteiliger,

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Gab es eine Sozialisierung, die Dich in das Politische, das der Herbst mit Ekaterina Degot intensiv betreibt, geführt hat? Gab es einen großen Bruch in Deiner Biographie? Im Literaturbetrieb, in dem ich als Lektorin gearbeitet habe, waren mir Kommunikationskonzepte und Strategien wichtig. 2011 kam mir die Documenta in Kassel quasi dazwischen und hat mich über Nacht ins Zentrum der Kunstwelt katapultiert. Ich war für die Stelle, wenn man ehrlich ist, überhaupt nicht qualifiziert. Aber ich habe mich nicht gefürchtet und mich festgebissen. Das mache ich heute immer noch so.

Wenn du Kassel mit Graz vergleichst, sind die Leute anders, reagierst du kuratorisch anders? Ich selber sehe mich nicht als Kuratorin. Die Narrative, die wir erzählen, kommen von der Intendantin Ekaterina Degot. Ich denk dann darüber nach, wie sich ihre Ideen in Graz, in der Steiermark, und in der Welt gut vermitteln und manifestieren lassen. Graz ist, was die Kunstszene angeht, wesentlich breiter, weitläufiger und viel besser ausgestattet als in Kassel. Die Kulturschaffenden sind hier wesentlich mehr Teil des offiziellen Diskurses. In Kassel konzentriert es sich auf die großen Museen und die Documenta, die freie Szene hingegen ist sehr klein, dafür gibt es eine starke Kunstuniversität, die sehr wichtig

ist. Graz ist wesentlich kommunikationsintensiver, gesprächsoffener, als ich das aus Deutschland, Griechenland oder Norwegen – wo ich auch schon gelebt und gearbeitet habe – kenne, das gefällt mir. Graz ist natürlich hübscher als Kassel, was ja nicht so wahnsinnig schwer ist [lacht]. In Graz kann man ohne Probleme ein bis zwei Wochen verbringen, ohne dass einem auffällt, dass es um die Welt sonst ziemlich schlecht bestellt ist und einiges den Bach runtergeht. Was ist Dein Kunst- bzw. Kulturbegriff, entschuldige, das interessiert mich auch … Kunst schafft Räume und spiegelt wider, was im täglichen Leben passiert. Wenn es gute Kunst ist, dann schonungslos und unverstellt und ehrlich. »Die Kultur« hingegen ist institutionalisierter und gezähmter, organisiert und verwaltet. Kunst ist im Idealfall frei von Zwängen und Bedenken.

Was ist der Steirische Herbst, was ist das »steirische« am Steirischen Herbst? Wir haben uns viele Gedanken gemacht über die Steiermark. Von Anfang an. Für uns war klar, dass wir nicht einfach irgendetwas machen wollen, sondern etwas, das bewegt und Bedeutung hat. Wir hatten Recherchereisen in die Steiermark, haben uns wahnsinnig viel umgesehen, dafür haben wir uns Zeit genommen. Wir wollen, dass die Arbeiten vor Ort und aus dem Ort entstehen. Nicht woanders erarbeitet und dann quasi importiert. Vielgestaltiges Engagement in den Gemeinden wird wichtig, natürlich mit globaler Relevanz.


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