Fazit 154

Page 39

Essay von Friedrich von Borries

Design formt Gesellschaft 100 Jahre Bauhaus

ch sitze am Schreibtisch und bin müde. Der Tag war lang, die Nacht zuvor haben die Kinder schlecht geschlafen und ich deshalb auch. Nun sind sie wieder im Bett. Endlich Zeit zum Arbeiten. Ganz oben auf meiner To-do-Liste steht dieser Text über das Bauhaus und die Frage, ob Gestaltung Gesellschaft verändern kann – und der Esstisch, der noch nicht abgedeckt ist. Wie lässt sich die Fallhöhe zwischen dem historischen Bauhaus, dem Gesellschaftsdesign und dem dreckigen Geschirr aushalten? Oder anders gefragt: Warum soll man sich mit dem Bauhaus beschäftigen, wenn noch so viel anderes zu tun ist? Und ist für das, was heute zu tun ist, ein Blick auf das Bauhaus sinnvoll? Das historische Bauhaus stand, verkürzt ausgedrückt, vor der Frage, mit welchen neuen, unkonventionellen Gestaltungsansätzen die in seiner Zeit virulenten Probleme industrieller Produktion gelöst und eine moderne Kultur und gerechte Gesellschaft erschaffen werden könne. Es ging also darum, wie man Gestaltung so weiterentwickelt, dass sie nicht mehr bürgerliche oder gar aristokratische Repräsentationswünsche erfüllt, sondern den Idealen und der Verfasstheit der entstehenden demokratischen Gesellschaft einen Ausdruck verleiht. Oder besser noch: wie man deren hehre Ideale und Vorstellungen in gelebte Wirklichkeit und materielle Kultur übersetzt. Dazu gehörten der Wohnungsbau, aber auch Gegenstände des täglichen Bedarfes. Etwa die berühmten Möbel wie der Freischwinger, auf dem man nicht sitzt wie auf einem Thron, sondern, wie der Name schon sagt, frei schwingt; etwas unsicher vielleicht, immer in Bewegung – aber dafür auch frei. Der Versuch, die moderne Industrieproduktion zu reformieren und der modernen Gesellschaft mittels der neuen Gestaltung einen eigenen ästhetischen Ausdruck zu verleihen, schlug sich auch im Umgang mit Form und Materialität nieder. Die Bauhäusler nutzten moderne Materialien und Technologien. Es entstanden einfache, minimalistische Formen, auf überflüssigen Dekor wurde verzichtet.

Heute stehen wir vor dem Scherbenhaufen der weltweiten Modernisierung, die es weder geschafft hat, im globalen Maßstab die Deckung eines Mindestbedarfes (Versorgung mit Wohnraum, Bildung, Gesundheit) zu gewährleisten, noch eine gerechte Gesellschaft zu bauen. Im Gegenteil: Die Moderne hat eine Spur der ökologischen und psychosozialen Zerstörung gelegt und die globale Ungerechtigkeit verstärkt, an der die zukünftigen Generationen sich werden abarbeiten müssen. Gleichzeitig haben sich die technologischen Möglichkeiten weiter entwickelt, als man vor 100 Jahren ahnen konnte oder träumen wollte. Mit künstlicher Intelligenz, synthetischer Biologie, Nanocomputing und Neuroengineering stellt sich die Frage nach dem »neuen Menschen« in einer ganz anderen Weise, als es sich die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts vorstellten. Das alles führt dazu, dass wir heute – vergleichbar, aber eben doch ganz anders als vor einem Jahrhundert – die Begriffe »Design« und »Gestaltung« radikal neu denken müssen. Im Folgenden werde ich dazu einen Vorschlag skizzieren. Um welche Gestaltung geht es? Überlebensdesign Um das bedrückende, ja erdrückende Erbe der Moderne – die industrielle, weltzerstörende Massenproduktion und die naturvergessene Wachstumslogik – zu bewältigen, steht Design heute vor einer grundsätzlichen Aufgabe: Es gilt, das Überleben der Menschheit zu sichern. Diese Überlebenssicherung setzt beim Kampf gegen die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen an, die unsere Gesellschaft nach wie vor betreibt. Plastikmüll, Klimawandel, Überfischung – die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Designer der Gegenwart müssen die Ausrüstungsgegenstände für einen Lebensstil entwickeln, der eben nicht die eigenen Lebensgrundlagen zerstört, sondern sie zumindest erhält – und gleichzeitig diesen neuen Lebensstil begehrlich, attraktiv, lebenswert erscheinen lässt.

Mit der »Bauhaus-Idee« verbinden sich vor allem schnörkellose, in Form und Farbe reduzierte Architektur, schlichte wie elegante Funktionalität sowie klares und scheinbar zeitlos modernes Design. Anläßlich ihres 100jährigen Bestehens will der Berliner Architekt Friedrich von Borries die Begriffe Design und Gestaltung radikal neu denken.

Foto: Projektbüro Borries

I

Friedrich von Borries, geboren 1974 in Berlin, ist deutscher Architekt, Kurator und Hochschullehrer. Er studierte Architektur an der Universität der Künste in Berlin und promovierte an der Universität Karlsruhe. Seit 2009 lehrt von Borries als Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und leitet das Projektbüro Friedrich von Borries in Berlin. friedrichvonborries.de FAZIT JULI 2019 /// 39


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
Fazit 154 by Fazitmagazin - Issuu