Fazit 144

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Der Kuss ist nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Nahrungsübertragung von Schnabel zu Schnabel, wie sie bei Vögeln üblich ist. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Verhaltensforscher, 1928–2018

Kontinentales

Europa. Kein Manifest …

… nur ein paar Gedanken Von Michael Bärnthaler

Fotos: Peter Korneffel, Armin Linnartz, Peter Troissler

W

as ist Europa? Ein Kontinent? Eine Idee? Werte? Ein Ethos? Die Menschen, die da leben? Ihre Kultur? Ihr Blut? Ihr Boden? Die EU? Angela Merkel? All das gehört irgendwie zu Europa. Was ist Europa noch? »A place of aspiration for immigrants, and of deference and restraint for the native born« – wie Christopher Caldwell in seinem hervorragenden Buch über »die Revolution in Europa« schreibt? Was soll aus Europa werden? Einig sind sich alle, dass Europa – gemeint ist oft genug die EU – großartig ist. Sonst kämen ja auch die ganzen Migranten nicht. Dass die Europäer, die europäischen Menschen, die europäischen Völker großartig seien, wird man seltener hören. Außer es geht um Angela Merkel – die ist natürlich auch super. »Europa« ist auch Legitimationsschlagwort der politischen Klasse: Gegen Europa kann nur sein, wer gegen den Weltfrieden ist. (Ich bin natürlich nicht gegen den Weltfrieden.) Gerade weil es notwendig scheint, sich affirmativ auf Europa zu beziehen, gewinnt die Frage an Bedeutung: Was ist Europa? Europa ist das, was diejenigen Menschen, die sich Begriff und Lebensraum »Europa« aneignen, daraus machen. Dementsprechend wird aus Europa entweder Merkelland oder Eurabien oder – ein rechtes, ein konservatives Projekt? Wer politisch mitspielen will, muss sich affirmativ auf Europa beziehen, auf die eine oder andere Weise. Konservative werden Europa nicht

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auf Ideen reduzieren, sondern den konkreten Zusammenhang von Menschen, Ideen, Tieren, Landschaft usw. usf., der Europa ausmacht, zu würdigen wissen. Sie werden diesen Zusammenhang bewahren und verteidigen. Weil sie, weil wir in diesem europäischen Zusammenhang als Europäer existieren, weil wir dieser konkrete Zusammenhang sind … Das ist Europa. »The message that majorities have needs, too, is often unwelcome«, schreibt Caldwell. Menschliches Denken bewegt sich oft in einem gewissen Pendeln zwischen Extrempositionen, und so ist es nur (psycho-)logisch, dass wir, um historisches Unrecht auszugleichen, heute dazu tendieren, Minderheiten besonders zu schätzen, ja zu verehren. Diese ideologische Tendenz der Gegenwart ist gefährlich unter anderem deshalb, weil sie wiederum selbst eine Reaktion provoziert, die sich mehr oder weniger stark gegen Minderheiten richten wird … Der Mensch ist ein Balanceproblem. Wer das nicht versteht, hat nichts verstanden. Auf linke Politik gibt’s eine rechte Reaktion: links-rechts, links-rechts … Es geht immer so weiter. In verschiedenen Kontexten treten prinzipielle Gegensätze immer wieder hervor. Und ja, Angela Merkel muss weg! n Übersetzungen: »Ein Ort der Ambition für Einwanderer sowie ein Ort der Rücksichtnahme und Selbstbeschränkung für die Einheimischen« und »Die Botschaft, dass auch Mehrheiten Bedürfnisse haben, wird oft nicht gern gehört«.


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