Fazit 138

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Demokratie heißt immer, ein Stück eigener Kontrolle abzugeben, um gemeinsam handeln zu können. Frank-Walter Steinmeier, deutscher Bundespräsident

Rezension

Linke und Rechte nach 1968

Elf Anmerkungen in ungeordneter Folge im Anschluss an Thomas Wagners Buch »Die Angstmacher«

Die Angstmacher von Thomas Wagner, Aufbau-Verlag 2017, 352 Seiten, 19 Euro

Fotos: Thomas Köhler, Aufbau-Verlag (Faksimile), Lupi Spuma

Von Michael Bärnthaler

1. Es gibt einen bestimmten, von »den 68ern« exemplarisch praktizierten Stil provokativ-aktionistischer Politik-Kunst, welcher mittlerweile zur Waffe der Wahl im Kampf gegen jedes politische Establishment geworden ist. Das Establishment ist heute – auch in Folge der Kämpfe »der 68er« – stark linksliberal geprägt. Auch wenn es nach wie vor Opposition von links gibt, kommt die wirklich relevante Opposition heute mehr und mehr von rechts. Besagter Stil wird daher in zunehmendem Maße auch von (sogenannten »Neuen«) Rechten gepflegt. Da ein Moment des Anti-Autoritären mit diesem Stil untrennbar verbunden ist, entsteht eine Dialektik zwischen Freiheit, befreiender Bewegung und Schließung, Setzung neuer Autoritäten innerhalb der rechten Opposition selbst. Auf Seiten des Establishments wiederum vergrößert sich die Spannung zwischen Anspruch und Realität der plu80 /// FAZIT DEZEMBER 2017

ralen Öffentlichkeit in dem Maße, wie man meint, diese durch Abschottung gegen rechts schützen zu müssen. 2. Was gibt den Menschen Halt? Können Traditionen und Institutionen heute noch leisten, was Rechte von ihnen erwarten? Oder geht psychologische und soziologische Stabilisierung nur noch – aber immerhin – aus technischen Sachzwängen hervor? Weitergedacht: Ist die Stabilisierung, auf die wir uns letztlich hinbewegen, gar eine transhumanistische ...? 3. Neue Linke und Neue Rechte teilen über weite Strecken einen gewissen antibürgerlichen Habitus. Alain de Benoist: »Mein Hauptgegner war immer der Kapitalismus in ökonomischer Hinsicht, der Liberalismus in philosophischer und das Bürgertum in soziologischer Hinsicht.« Dieser Feindbestimmung entspricht der provokative Oppositionsstil (siehe 1), insbesondere durch die in ihm anvisierte Verbindung von Kunst und Politik. Wo dieser Stil effizient zur Anwendung kommt, kann er realpolitische Spielräume eröffnen; bleibt er ineffizient, dient er lediglich zur Selbstbespaßung und Lebensgefühlsproduktion seiner Akteure. 4. Der Universalismus (der Vernunft), theoretisch etabliert als notwendig allgemeiner Geltungsanspruch ethischer Normen, manifestiert sich praktisch stets als Imperialismus (der Vernunft?). Im Rahmen des aktuellen politischen Konflikts zwischen, grob gesagt, rechtem Nationalismus und linksliberalem Globalismus stellt sich die dringende Frage, wie partikulare Kollektividentitäten – bejaht man ihr Recht oder ihre Notwendigkeit – ohne eine totale

Absage an jeden Universalismus (der Vernunft) theoretisch und praktisch fundiert werden können. Diese Frage – die sich etwa in Bezug auf einen Nationalstaat wie Deutschland oder auch in Bezug auf eine spezifisch europäische Identität stellt – führt letztlich zu der Frage nach den angemessenen, das menschliche Leben schützenden wie aktiv fördernden Grenzen überhaupt. 5. Es kann bereits eine Spaltung der bürgerlichen Intellektuellen entlang der Konfliktlinie Globalismus/Nationalismus beobachtet werden (»Cuckservatives« vs. »Rechte«). 6. In Zeiten der Grenzenlosigkeit muss der Begriff der Grenze neu gedacht werden (siehe 4). Grenzenloses Anything goes bringt das (psychologische und politische) Problem der Austauschbarkeit mit sich. Eine rechte These wäre etwa: Ohne einen gewissen äußeren Druck, der auf sinnvolle Bindungen (z.B. im Rahmen der Ehe) hinwirkt, verfehlt eine Mehrzahl der pseudofreien Subjekte das für sie persönlich mögliche Optimum (an Lebensqualität, Lebenssinn ...). (Die Subjekte sind pseudofrei, sofern sie zu vernünftiger Selbstbestimmung nur sehr begrenzt in der Lage sind.) Wenn Identität nicht nur individuell gedacht und gelebt werden kann, dann müssen partikulare Kollektividentitäten eine konstitutive Rolle in jedem Lebensentwurf spielen. Es wäre darüber zu reden, welche partikularen Kollektividentitäten, die natürlich nicht alle (und es gibt viele ...) völlig frei wählbar sind, hier von zentraler Bedeutung sein sollen. Das Gesagte impliziert, dass wir niemals nur


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