Fazit 138

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Essay von Klaus F. Rittstieg

Alltagssexismus – die alltägliche Sexismusdebatte hristiane kommt aus Hamburg-Harburg. Sie ist Marketingleiterin bei Schülke & Petersen – Lebensmittelgroßhandel – und 38 Jahre alt. Christiane sitzt gerade dort, wo sie am liebsten sitzt: in einem Strandcafé in Rimini. Wenn ihr im Büro alles auf die Nerven geht, reist sie in Gedanken genau hier her – mit Blick aufs Meer. Der Kellner begrüßt sie mit einem charmanten Lächeln: »Ciao bella ragazza!«– Sabine lächelt und versucht, nicht rot zu werden. Er hat sie wiedererkannt! Ja, sie weiß, dass er heute wahrscheinlich noch zwanzig andere weibliche Gäste im Alter von zehn bis Mitte vierzig »bella ragazza« (also »schönes Kind«) nennen wird, aber egal – ist dieser italienische Esprit nicht einfach hinreißend? Warum gibt es so etwas nicht in Deutschland? Cut. Christiane sitzt in ihrem Büro bei Schülke & Petersen in Hamburg-Harburg. Sie brütet gerade über der Marketingplanung für das kommende Jahr. Da kommt ihr Kollege Horst herein und wirft ihr ein fröhliches »Hallo, schönes Kind!« zu. Sein Pech ist, dass Christiane gerade nicht im Urlaubsmodus ist. Was fällt ihm eigentlich ein! Typisch Macho: Er will sie auf ihr Äußeres reduzieren und ihr damit zeigen, dass er sie als Marketingleiterin nicht für voll nimmt. Das könnte ihm so passen. Was jetzt kommt, wollen wir uns an dieser Stelle gar nicht weiter ausmalen, ob sie ihn nur verbal in seine Schranken weist oder das Ganze der zuständigen Gleichstellungsbeauftragten meldet – auf jeden Fall ist es ein Skandal. Auch wenn wir den Vergleich etwas weniger hinkend in ein Café in Hamburg-Harburg verlegen, würde Christiane auch hier die Anrede als »schönes Kind« ganz sicher nicht durchgehen lassen. Das ist nämlich Alltagssexismus. Und das geht gar nicht.

Aber wäre Horst nicht Horst, sondern vielleicht Luigi aus Perugia, und würde das Ganze auf Italienisch vortragen oder zumindest mit einem deutlich hörbaren italienischen Akzent – das wäre natürlich etwas ganz anderes. Auch Carlos aus Madrid dürfte selbstverständlich »Hola Guapa!« rufen (also »Hallo, Hübsche!«), und selbst dem Anton aus Tirol wäre noch einiges erlaubt, was für Horst aus Hamburg-Harburg ein ganz klares No-Go wäre. Die Grenze zwischen Esprit und Sexismus, zwischen einem charmanten Kompliment und einer erniedrigenden Beleidigung, zwischen einem leichten Erröten und moralinschwangerer Empörung ist eine geografische. Und zwar eine sehr differenziert geografische. Es ist nämlich keine einfache Nord-Süd-Grenze, sondern sie scheint sich eher an Kulturkreisen zu orientieren. Es muss jemand aus diesem mittelmeerisch angehauchten Charmegürtel so von Sizilien über Norditalien und dann weiter bis Südspanien sein. Auch mit einem weichen französischen Akzent oder als Lateinamerikaner kann man mit einer wohlwollenden Reaktion rechnen, mit Einschränkungen auch als fescher Österreicher. Türken oder Araber dagegen sind zwar auch Südländer, aber wenn der Mesut vom Nachbarbüro ein »Hallo, schönes Kind« zur Begrüßung anbringen würde, dann wäre das fast noch schlimmer als beim Horst. Das Thema Alltagssexismus wird immer wieder gern im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Frauen diskutiert. Wenn aber bei einem Italiener oder Spanier Alltagssexismus nicht nur okay, sondern sogar erwünscht ist, während genau dasselbe Verhalten bei einem Deutschen oder Türken ein Skandal wäre, dann ist die politisch korrekte Reaktion auf sogenannten Alltagssexismus eigentlich – eine Diskriminierung von Männern. Österreich, das gleichberechtigtste Land der Erde »Hängt sie auf, die schwarze Sau, hängt sie auf …!« – Fröhlich und beschwingt, in gelöster Volksfestatmosphäre, singen die Fans des GAK (Grazer Athletiksport Klub) ihr Lied. Ich bin etwas schockiert und verstehe gar nichts mehr. Auf dem Spielfeld – der GAK spielt gerade gegen Rapid Wien – steht nur ein schwarzafrikanischer Spieler, nämlich Benedict Akwuegbu aus Nigeria. Aber der spielt ja für den GAK! Was für ein unglaublicher Rassis-

Die »#MeToo-Debatte«, ausgelöst durch sexuelle Übergriffe männlicher Hollywood-Produzenten, geistert seit einigen Wochen durchs Internet. Klaus Rittstieg befasst sich in seinem aktuellen Buch mit dem Thema Alltagssexismus. Wir bringen einen Auszug.

Foto: Stefan Kristoferitsch

C

Dr. Klaus F. Rittstieg, geboren 1971 in Hamburg, hat an der Technischen Universität Graz Chemie und Umweltbiotechnologie studiert. Er arbeitet bei einer Grazer High-Tech-Firma als Produktmanager für optische Messsysteme. stille-gegenrevolution.com

FAZIT DEZEMBER 2017 /// 39


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