Fazit 129

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Essay von Camille Peugny

Opfert Frankreich seine Jugend? Eine Bestandsaufnahme Hohe Jugendarbeitslosigkeit, sinkender Lebensstandard und geringe soziale Mobilität – junge Franzosen begegnen in ihrem Land zahlreichen Schwierigkeiten. Um nicht eine ganze Generation zu opfern, ist es Zeit für einen echten politischen Vorstoß.

V

iele junge Berufstätige und Studierende in Frankreich zeigten während der massiven Demonstrationen gegen das neue Arbeitsgesetz im Frühjahr 2016 ihre Wut über einen aus ihrer Sicht weiteren Angriff auf ihre Generation. Dem Beispiel der spanischen »Indignados« folgend, versammelten sich über den gleichen Zeitraum Hunderte junge Männer und Frauen jeden Abend auf dem Place de la République in Paris, um gemeinsam über den Aufbau einer anderen Gesellschaft nachzudenken.

Foto: Thomas Deszpot

Dass in Frankreich seit einigen Jahren junge Leute bei sozialen Bewegungen stark vertreten sind, mag angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten, denen sie in ihrem Land begegnen, kaum verwundern. In den Augen mancher opfert Frankreich seine Jugend – durch einen politischen Kurs, der in erster Linie den älteren Generationen zugutekommt. Doppelt gestraft? Für die These einer »geopferten« französischen Jugend gibt es Indikatoren zu genüge, angefangen bei der schwierigen Arbeitsmarktsituation. Frankreich gehört zu den EU-Ländern, in denen die Arbeitslosenquote bei unter 25-Jährigen besonders hoch ausfällt: 2016 lag sie laut Eurostat bei rund 24 Prozent. Darüber hinaus befinden sich junge Leute in Frankreich häufig in einem unsicheren Arbeitsverhältnis: So verfügten 2014 nur 34 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 15 und 24 Jahren über einen unbefristeten Vollzeitvertrag, während 36 Prozent prekär beschäftigt waren (befristete Arbeitsverträge, Zeitarbeit, staatlich geförderte Beschäftigungen, Praktika) und das restliche Drittel die Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatte. Vor dem Hintergrund, dass in der französischen Gesellschaft ein unbefristeter Arbeitsvertrag die Eintrittskarte für den Wohnungsmarkt darstellt, liegt nahe, wie niedrig der Lebensstandard vieler junger Leute in Frankreich ist und welche Hürden sie auf dem Weg in die Eigenständigkeit nehmen müssen. Es wäre keine Übertreibung, die Berufsanfänger auf dem französischen Arbeitsmarkt als Anpassungsvariable zu bezeichnen: In der Tat sind es in erster Linie ebendiese neuen Marktteilnehmer, die in den Teufelskreis aus unsicheren Arbeitsplätzen und Phasen der Arbeitslosigkeit geraten. Nach Berechnungen des französischen Generalkommissariats für Strategie und Vorausschau, France Stratégie, waren zehn Prozent der 2013 erwerbstätigen Franzosen unter 25 Jahren im darauffolgenden Jahr ohne Arbeit, während es bei der Altersgruppe der über 40-Jährigen weniger als drei Prozent waren. [1]

Camille Peugny, geboren 1981, ist ein französischer Soziologe und Dozent an der Université Paris VIII. Er erforscht vorwiegend Fragen zu sozialer Mobilität, Reproduktion und Ungleichheit in Frankreich und Europa. twitter.com/cpeugny

FAZIT JÄNNER 2017 /// 45


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