Essay von Marcel Serr
»Shoot their hearts and blow their minds« Terrorismusbekämpfung in Israel: Vorbild für Europa?
Kaum eine Demokratie hat eine derartig lange und intensive Erfahrung in der Bekämpfung von terroristischen Gefahren wie Israel. Mit welchen Bedrohungen war das Land im Laufe der Zeit konfrontiert? Wie hat Israel reagiert? Und: Was kann Europa davon lernen?
sraels Geschichte ist auch eine Geschichte des Terrorismus und seiner Bekämpfung. Der jüdische Staat wird seit seiner Gründung 1948 mit allen erdenklichen Formen terroristischer Gewalt konfrontiert. Trotz gelegentlicher Rückschläge sind die Erfolge des Landes eindrucksvoll: Obgleich es in den vergangenen knapp 70 Jahren stetig Anschlägen und Angriffen ausgesetzt war, behauptet sich Israel als wohlhabende Demokratie. Die Terroranschläge, die Frankreich, Belgien und Deutschland jüngst erschütterten, deuten darauf hin, dass sich auch Europa zukünftig verstärkt mit Terrorbekämpfung zu befassen hat. Daher lohnt ein Blick auf die Erfahrungen Israels. Die Ursprünge israelischer Terrorismusbekämpfung wurzeln in vorstaatlicher Zeit. In den 1930er Jahren baute der Brite Orde Wingate zum Schutz der zionistischen Siedlungen vor arabischen Überfällen die »Special Night Squads« auf. Er setzte auf demonstrativ gewalttätige, offensive Operationen zur Abschreckung – bis heute ein wesentlicher Bestandteil israelischer Militärdoktrin. Im Israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 flohen rund 700.000 Palästinenser in die Nachbarländer beziehungsweise wurden dorthin vertrieben. Einzelpersonen und Gruppen aus diesen palästinensischen Exilgemeinden wurden zur primären nichtstaatlichen Bedrohung für Israel. In den 1950er Jahren kosteten Sabotage-, Mord- und Raubüberfälle palästinensischer Eindringlinge 286 Israelis das Leben und richteten einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden an. Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (Israel Defence Forces, IDF) verübten massive Vergeltungsschläge in angrenzenden Staatsgebieten. Der spätere Ministerpräsident Ariel Sharon baute 1953 hierzu Israels erste Spezialeinheit auf, das »Unit 101«. [1]
Vom Sechstagekrieg bis in die 1980er Jahre Mit der Eroberung der Westbank und des Gazastreifens im Sechstagekrieg 1967 waren die IDF mit der Kontrolle einer feindlich gesonnenen Bevölkerung konfrontiert. Insbesondere in Gaza war die Gewaltbereitschaft gegen die Besatzer hoch. Innerhalb kurzer Zeit ergaben sich die Palästinenser jedoch nach Ausgangssperren, Verhaftungen und flächendeckender Geheimdienstarbeit Israels in ihr Schicksal. [2] Ein wesentlich größeres Sicherheitsproblem waren die Terrorgruppen, die sich in den palästinensischen Flüchtlingslagern in den arabischen Nachbarländern bildeten. Unter dem Dach der Palästinensischen Befreiungsorganisation (Palestine Liberation Organisation, PLO) hatten sie zunächst in Jordanien ihre Operationsbasis. Zu den bedrohlichsten gehörte neben Jassir Arafats Fatah die Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine, PFLP). Diese Gruppe »erfand« 1968 die Flugzeugentführung und leitete damit die Entstehung des modernen internationalen Terrorismus ein. Bis 1976 sollten palästinensische Terroristen 16 Flugzeuge entführen, oft mit dem Ziel, inhaftierte Mitstreiter
Foto: Julia Serr
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Marcel Serr, geboren 1984 in Ludwigshafen am Rhein, ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er ist wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes (DEI) und promoviert an der Universität Haifa über die israelischen Streitkräfte in asymmetrischen Konflikten. fb.com/marcel.serr
FAZIT DEZEMBER 2015 /// 39