Fazit 124

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Essay von Friedrich August von Hayek

Die Intellektuellen und der Sozialismus I

n allen demokratischen Ländern herrscht der starke Glaube vor, der Einfluss der Intellektuellen auf die Politik sei vernachlässigbar, in den Vereinigten Staaten sogar noch mehr als anderswo. Dies ist ohne Zweifel wahr in Bezug auf die Macht der Intellektuellen, mit ihren momentanen speziellen Meinungen Entscheidungen zu beeinflussen, und in Bezug auf ihre Macht, das Wahlverhalten der Menschen dort zu beeinflussen, wo ihre Ansichten von denen der Massen abweichen. Und trotzdem hatten sie vermutlich nie einen größeren Einfluss über etwas längere Zeiträume, als sie es heute in diesen Ländern haben. Sie üben diese Macht aus, in dem sie die öffentliche Meinung beeinflussen. Im Lichte der jüngeren Geschichte ist es etwas seltsam, dass diese entscheidende Macht der gewerbsmäßigen Händler von Ideen aus zweiter Hand noch nicht in weiteren Kreisen erkannt worden ist. Die politische Entwicklung der westlichen Welt während der letzten hundert Jahre veranschaulicht dies überdeutlich. Der Sozialismus war niemals und nirgendwo zuerst eine Arbeiterbewegung. Er ist keineswegs ein offensichtliches Mittel gegen das offensichtliche Übel, das die Interessen dieser Klasse notwendigerweise verlangen werden. Er ist eine Konstruktion von Theoretikern, herrührend aus gewissen Tendenzen abstrakten Denkens, die eine lange Zeit nur Intellektuellen geläufig waren; und er erforderte lange Bemühungen der Intellektuellen, bevor die Arbeiterklasse überzeugt werden konnte, ihn als ihr Programm anzunehmen.

Der österreichische Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek war einer der wichtigsten Vertreter der österreichischen Schule der Nationalökonomie. Faszinierend an diesem Essay ist seine Aktualität. Dabei stammt der Text aus dem Jahr 1949 und ist entnommen aus der »University of Chicago Law Review«.

Das Wesen des Prozesses, durch den die Ansichten der Intellektuellen die Politik von morgen beeinflussen, ist deswegen von weit mehr als nur akademischem Interesse. Es ist ein Faktor von weit größerer Wichtigkeit als allgemein angenommen wird, egal ob wir versuchen wollen, den Lauf der Dinge zu beeinflussen oder ihn nur voraussehen wollen. Was auf den zeitgenössischen Beobachter wie ein Konflikt gegensätzlicher Interessen wirkt, ist in der Tat oft schon lange vorher im Kampf der Ideen in kleinen Zirkeln entschieden worden. Paradoxerweise haben meistens nur die Parteien der Linken viel dazu beigetragen, den Glauben zu verbreiten, dass es die zahlenmäßige Stärke der gegnerischen materiellen Interessen war, die politische Fragen entschieden hat, wohingegen in Wirklichkeit diese selben Parteien regelmäßig und erfolgreich die Schlüsselposition der Intellektuellen verstanden und entsprechend gehandelt haben. Ob mit Absicht oder nur den Umständen geschuldet, haben sie ihre Hauptanstrengungen immer darauf gerichtet, die Unterstützung dieser »Elite« zu gewinnen, während eher konservative Gruppen genauso regelmäßig wie erfolglos einem naiveren Verständnis der Massendemokratie folgend gehandelt haben, und üblicherweise vergeblich versucht haben, den individuellen Wähler direkt zu erreichen und zu überzeugen. Der Begriff »Intellektuelle« allerdings vermittelt nicht sofort ein wahres Bild der großen Klasse, die wir meinen, und die Tatsache, dass wir keinen besseren Namen haben, um diejenigen, die wir Händler von Ideen aus zweiter Hand genannt haben, zu bezeichnen, ist nicht der unwichtigste Grund, warum ihre Macht nicht verstanden wird. Selbst diejenigen,

Foto: Österreichische Nationalbibliothek

In jedem sich auf den Sozialismus zubewegenden Land ist der Phase der Entwicklung, in der der Sozialismus der bestimmende Einfluss auf die Politik wird, über lange Jahre eine Phase vorausgegangen, während der sozialistische Ideale das Denken der aktiveren Intellektuellen bestimmten. In Deutschland wurde diese Phase gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreicht; in England und Frankreich etwa um die Zeit des Ersten Weltkriegs. Dem oberflächlichen Betrachter mag es erscheinen, als hätten die Vereinigten Staaten diese Phase nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht, und dass die Anziehungskraft eines geplanten und gelenkten Wirtschaftssystems unter den amerikanischen Intellektuellen heutzutage genau so stark ist, wie sie jeher unter ihren deutschen und englischen Kollegen war. Nach Erreichen dieser Phase ist es erfahrungsgemäß nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ansichten der heutigen Intellektuellen zur bestimmenden Kraft der Politik werden.

F. A. v. Hayek, 1899–1992, absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften sowie der Staatswissenschaften an der Universität Wien. 1929 erfolgte dort seine Habilitation. Sein Lebensweg führte ihn an verschiedene Universitäten in London, New York, Chicago, Freiburg sowie Salzburg. In den Dreißigerjahren wurde Hayek zu einem Hauptkritiker des Sozialismus. 1974 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Als sein berühmtestes Werk gilt das 1944 zunächst in englischer Sprache erschienene »The Road to Serfdom« (»Der Weg zur Knechtschaft«). FAZIT JULI 2016 /// 39


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