Rezension
Grenzen der Grenzenlosigkeit Anmerkungen zu Paul Colliers »Exodus« von Michael Bärnthaler
M
igration ist in aller Munde. Jeder hat eine Meinung dazu, es gibt eine Migrationsdebatte, in der Menschen sich pro oder anti Migration positionieren und einander Argumente oder oft auch nur Gefühle um die Ohren hauen ... Im Rahmen der Migrationsdebatte in europäischen Ländern geht es natürlich in erster Linie um die Einwanderung in diese, also in unsere Länder, deren Arbeitsmärkte, Sozialsysteme und Kulturen. Verfolgt man die Migrationsdebatte in den üblichen Medien, so fällt sofort auf, wie emotional über dieses Thema gestritten wird – das gilt für Gegner wie für Freunde von Migration und Migranten ... Denn es geht ja um Menschen, um fremde Menschen, die zu uns kommen und auf diese oder jene Weise mit uns interagieren wollen, und so stellen sich sofort Fragen wie: Sind sie gefährlich? Kommen sie als Feinde? Als Gäste? Als Gastarbeiter? Oder bleiben sie? Integrieren sie sich? Werden sie unsere Freunde? Denn der Fremde, der zu uns kommt, stellt für uns zunächst immer ein Problem dar, eine gewisse Störung in der gewohnten Ordnung, den vertrauten Abläufen und Routinen. Der Fremde, der Migrant, der Einwanderer ist nicht nur ein mir jeweils unbekanntes Individuum, sondern auch eine symbolische Figur, die – an den Rändern des politischen Spektrums – tatsächlich geliebt respektive gehasst wird. Für die einen ist der Migrant ein permanent Grenzen überwindender, die Welt verbessernder, freudig begrüßter Bote der Veränderung – für die anderen ist er ein krimineller Eindringling, pure Bedrohung. Es liegt auf der Hand, dass reale Migranten in manchen Fällen tatsächlich Letzteres, in anderen Fällen Ersteres, in den meisten Fällen aber irgendetwas zwischen diesen Extremen sind. Aufgrund dieser Unsicherheit, die mit dem Fremden untrennbar verbunden ist, lässt es sich nicht vermeiden, dass die Migrationsdebatte sich als eine Auseinandersetzung mit hohen emotionalen Einsätzen präsentiert – und je mehr Einwanderer kommen, das ist klar, desto emotionaler wird sie geführt werden. Es ist nun ein erklärtes Ziel von Paul Colliers Buch »Exodus. How Migration Is Changing Our World«, das seit kurzem auch auf Deutsch vorliegt, die öffentliche Diskussion über Migration und Migranten zu versachlichen, um verschiedenen Pro- wie An-
80 /// FAZIT AUGUST 2015
ti-Extremisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nicht nur deshalb ist die Lektüre von »Exodus« ausdrücklich zu empfehlen! Das Buch liefert einen sehr guten Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den globalen Migrationsströmen des beginnenden 21. Jahrhunderts; Collier fasst Ergebnisse vieler Studien zusammen und lässt kaum einen Aspekt von globaler Migration unbeleuchtet. Der liberale Oxford-Professor, der sich bezüglich des beginnenden Jahrhunderts alles anders als pessimistisch gibt, vermeidet in seinen Analysen den seinem Fach oft vorgeworfenen ökonomischen Reduktionismus. Er untersucht nicht nur Auswirkungen von Migration beispielsweise auf Arbeitsmärkte, sondern ebenso die schwerer fassbaren sozialen Effekte der Heterogenisierung einer Gesellschaft durch Zuwanderung, unter denen vor allem eine gewisse Erosion des Vertrauens der Menschen untereinander hervorzuheben ist. Diesbezüglich stützt er sich auf Forschungen des bekannten Harvard-Soziologen Robert Putnam. Mir scheinen insbesondere die folgenden Erkenntnisse über Migration im 21. Jahrhundert mitteilenswert zu sein: Es geht nicht um die Frage, ob Migration stattfinden soll, sondern darum, wie viel und welche Migration für die drei Akteure Migrant, aufnehmendes Land und entsendendes Land optimal ist. Dabei gibt es natürlich Interessenskonflikte, aber ebenso gemeinsame Interessen. Effektiv begrenzt werden kann globale Migration derzeit nur durch die potenziellen Aufnahmeländer, die durch ihre Attraktivität in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht Migranten aus armen Ländern anziehen. In diesem Zusammenhang plädiert Collier für die selbstbewusste Bezugnahme auf das Konzept der Nation, das identitätsstiftend wirkt und Vertrauen wie praktische Solidarität auf einer die Stammes- und Familienbande überschreitenden Ebene ermöglicht. Auch wenn es im Westen heute chic ist, sich nur als Individuum und Weltbürger zu verstehen, so spielen nationale und andere Zugehörigkeiten – nüchtern betrachtet – als vermittelnde Instanzen zwischen Menschheit und Individuum doch immer noch eine wichtige Rolle. Da also nur die westlichen Nationalstaaten in der Lage sind, Migration effektiv zu steuern, so sollen sie dies auch tun – zum