Fazit 115

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Essay von Manfred Prisching

Europa ist eine historische Anomalie L

obreden auf Europa gibt es viele. Sie sind mit mehr oder weniger pathetischen Zitaten aus dem geistigen Erbe des Abendlandes angereichert und tauchen den ehrgeizigen Versuch, die europäischen Länder in eine neue »Gemeinschaftlichkeit« zu führen, in das hellste Licht. Man sagt üblicherweise dazu: »Erfolgsgeschichte«. Freilich sind auch die gegenteiligen Behauptungen nicht so selten, gerade in der gegenwärtigen Epoche. Ihnen zufolge ist nichts wirklich gelungen, die Wirtschaftskrise war schon schlimm genug, und in Anbetracht britischer Verweigerer und griechischer Rabauken befindet sich das Gemeinschaftsunternehmen im Zusammenbruch.

Es könnte noch schlimmer kommen: Die USA und Russland streiten über die europäischen Köpfe hinweg und könnten Europa in einen heißen Krieg verwickeln. Alltäglich sagt man zu einer solchen Situation: »Pfusch«. – Politische Schwarz-Weiß-Gemälde sind nun allerdings fast immer Wirklichkeitsverzerrungen, und in Abgrenzung zu beiden extremen Versionen, dem späteuropäischen Paradies und der posteuropäischen Apokalypse, kann man sich vergewissern, warum Europa (in seinem gegenwärtigen Zustand) als schön betrachtet werden kann: als ein unter Bedachtnahme auf alle historischen und globalen Vergleiche wundersames Land, als eine positive Anomalie in der historischen Entwicklung.

Ein Kontinent zwischen späteuropäischem Paradies und posteuropäischer Apokalypse? Manfred Prisching bringt in Erinnerung, dass Europa Elemente der Zivilisation hervorgebracht hat, die großartige Errungenschaften für die ganze Menschheit sind.

Nicht selten besteht die verderbliche List der Geschichte ja darin, dass Völker, Nationen oder Kulturkreise ihrer eigenen Errungenschaften nicht mehr eingedenk sind, dass ihnen diese Erfolge vielmehr so selbstverständlich und alltäglich geworden sind, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen und deshalb auch nicht wertgeschätzt werden. Die Völker und Menschen haben dann vergessen, wie es in der Geschichte gewesen ist; sie können sich nicht vorstellen, dass es anders sein könnte als in der Gegenwart; und sie gehen deshalb leichtsinnig mit diesen kulturellen Beständen um. Man nennt das dann: »Dekadenz«. Es ist deshalb in Erinnerung zu bringen, dass Europa Elemente der modernen Zivilisation hervorgebracht hat, die großartige Errungenschaften für die ganze Menschheit sind. Ich beschränke mich auf vier Bilder: das denkende, das friedliche, das respektvolle und das reiche Europa. Diese Adjektive klingen zu schön, um wahr zu sein, und natürlich muss man zugeben, dass es sich in der Tat insofern um eine Beschönigung handelt, als die gegenwärtige Epoche zwar aus einer langen Geschichte herausgewachsen ist, in der diese Gegenwart, in Versuch und Irrtum, in Fortschritt und Rückschlag, entfaltet wurde, aber auch aus einer Geschichte, auf die man nicht so stolz sein kann wie auf die europäische Gegenwart. Europa ist durch Jahrhunderte von Gewalt hindurchgegangen, bis es so weit gekommen ist, dass es sich zur Friedlichkeit entschlossen hat. Es war ein blutrünstiger Kontinent, mit Völkern, die alle paar Jahre, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, übereinander hergefallen sind. Wir haben schließlich auch gerade erst das »Jahrhundert der Extreme« hinter uns gebracht, in der die Vernichtungslogik noch einmal eine ungeahnte Steigerung erfahren hat. Aber diesmal wollen wir von den schöneren Seiten der Gegenwart sprechen – vom gegenwärtigen Zustand Europas, der eine atemberaubende geschichtliche Besonderheit darstellt.

Foto: Archiv

Man kann die Feststellung dieser Anomalie durch die Fragestellung ergänzen, ob man sich in Würdigung aller Entwicklungen damit zufriedengeben sollte, einen stolzen Blick auf Vergangenes zu werfen und den Niedergang Europas – vielleicht gar nicht in Form eines dramatischen Zusammenbruchs, sondern eher in der Gestalt einer voraussehbaren Erosion im Laufe des nächsten Jahrhunderts – als schicksalhaftes Geschehen hinzunehmen.

Mag. Dr. Manfred Prisching ist Universitätsprofessor und Autor. Er studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre. 1985 wurde er habilitiert und ist als Dozent und seit 1994 als Professor an der Karl-Franzens-Universität tätig. 1997-2001 war er wissenschaftlicher Leiter der steirischen Fachhochschulen. Prisching ist korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Herausgeber der Reihe »Sozialethik«. manfred-prisching.com FAZIT AUGUST 2015 /// 47


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