Fazit 107

Page 80

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten! Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats der DDR, zwei Monate vor seiner Anordnung zum Bau der Berliner Mauer. Hier erinnert anläßlich der Designierung des neuen Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen

Oper

Holzhammer und Armbrust

Stephen Lawless inszeniert den »Wilhelm Tell« am Grazer Opernhaus gelinde gesagt plakativ. Nieder mit dem Steireranzug, es lebe der Schweizer Kapuzenpulli! Von Harald Steiner

Foto: Werner Kmetitsch

S

ie werden sich jetzt vielleicht denken, dass einer, der so etwas schreibt, wohl ein wenig spinnt, jedoch es hat alles seine Richtigkeit. Lassen Sie mich dazu etwas ausholen! Vor 723 Jahren wurde die Schweiz gegründet, vor 210 Jahren schrieb Friedrich Schiller sein Drama »Wilhelm Tell« – eine pure Sagengestalt übrigens, ohne historischen Kern. Vor 185 Jahren wiederum vertonte Gioachino Rossini den Stoff – sehr frei nach Schiller, aber bei Sagengestalten ist das ja erlaubt. Es sollte seine letzte Oper blieben, während seiner verbleibenden vier Lebensjahrzehnte komponierte Rossini keine Musik mehr. Und 115 Jahre ist es her, da wurde das Grazer Opernhaus, erbaut von Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, mit just diesem »Wilhelm Tell« eröffnet. Unlängst fand man die Schlussstein-Urkunde, die jetzt in einer Vitrine im Foyer zu bewundern ist, und was lag näher, als diesen Anlass mit einer Neuinszenierung von Rossinis Opus Magnum zu feiern? Der dafür auserkorene britische Regisseur Stephen Lawless erzählt schon während der Ouvertüre (schwungvoll dirigiert von Antonino Fogliani) die halbe Geschichte: Da steht eine allegorische Helvetia-Figur mit Standarte vor einem Blumenbeet in Form der Schweizerflagge, und das Schweizer Mannsvolk trägt lange Bärte. Doch der älplerische Friede wird jäh gestört: Rüpelhafte Soldaten in 1.-Weltkrieg-Feldgrau stürmen die Büh-

80 /// Fazit November 2014

ne, rupfen die Blumen aus und ersetzen den Schriftzug »Helvetia« durch »Habsburg«. Hämisch grinsende Habsburgische in Steireranzügen lassen sich in der Proszeniumsloge blicken, beißen in Äpfel, ein Gesslerhut im Ausseerland-Design mit Gamsbart wird zurechtgelegt und die Helvetia-Figur in Ketten abgeführt. Was muss sie in Folge alles noch erdulden – Massenvergewaltigung, Ermordung, Beerdigung, Exhumierung; ein Apfelschuss ist nichts dagegen! Doch der Widerstand formiert sich schon: Zwei Sprayer in roten Kapuzenpullis mit dem Schweizerkreuz schreiben das Wort »Liberté« auf die Bühnenwand. Nachdem das alles passiert ist, kann die Oper beginnen! Das Geschehen spielt sich meist auf einer halbkreisförmigen Tribüne ab, und da sitzt dann auch der Chor und muss sich nicht viel bewegen – außer man bewirft sich gegenseitig mit Papierkügelchen, wie dies unerfindlicherweise während des Rütlischwurs geschieht. Der Wilhelm Tell Oper in vier Akten von Gioachino Rossini Libretto von Étienne de Jouy und Hippolyte Bis Bis 13. November 2014 oper-graz.com

erste Akt präsentiert sich stark gekürzt, was wohl nicht zu vermeiden war, aber der Handlungslogik schadet. Dafür aber geistert ständig eine Lenin-Figur über die Bühne und steckt sich gemütlich ein Zigaretterl nach dem anderen an. Als er endlich den ersten Ton zu singen hat, merkt man: Nicht Lenin ist’s, sondern Walter Fürst! Dazu der Regisseur im Programmheft: »Bei revolutionären Umstürzen gibt es immer einen, der in zweiter Reihe steht, dem die Leute nicht zutrauen, ein Revolutionsführer zu sein, der aber geschickt im Hintergrund manipuliert. Bestes Beispiel ist Lenin.« Lenin, ein Mann der zweiten Reihe? Gleichviel, wenn Lawless dann auch noch Mahatma Gandhi bemüht, wird klar, dass Geschichte doch kein so leichtes Fach ist. Der Sänger dieses russischen Walter Fürst heißt David McShane und ist trotz Kettenrauchens tadellos bei Stimme. Tell, der Titelheld, wird von Publikumsliebling und Bariton James Rutherford verkörpert,


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.