Fazit 101

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Europa wähltEuropa wählt Teil 4 Fazitserie

Von Johannes Tandl. Mitarbeit: Andreas Reisenhofer

Europa wählt sich ab

Was die Wähler in mittlerweile allen EU-Ländern eint, ist das Ohnmachtsgefühl, Brüssel ausgeliefert zu sein, ohne mitbestimmen zu können. So verbindet europaweit nur noch ein Drittel der EU-Bürger ein positives Image mit der Union. Am stärksten wird die Überregulierung sowie die mangelnde demokratische Legitimierung der EU-Institutionen bemängelt.

D

a die EU-Parlamentarier die meisten Sachfragen pragmatisch nach Länderinteressen entscheiden, spielt es für die Wähler kaum eine Rolle, ob sich wie prognostiziert die Europäischen Sozialdemokraten durchsetzen oder ob die Europäische Volkspartei das Rennen macht. Dazu kommt in allen EU-Ländern ein katastrophaler Informationsstand über die EU-Gremien und die Brüsseler Entscheidungsprozesse. Die Wähler werden am 25. Mai daher nicht über die EU abstimmen, sondern über die eigene Innenpolitik. Damit bildet das Ergebnis der EU-Wahl alles Mögliche ab, eine Richtungsentscheidung für die Union ist sie jedenfalls nicht. Belgien – Trotz Dauerstreits geeint Wer Belgien verstehen will, muss zuerst die Europäische Union verstanden haben. Denn wie die EU besteht auch Belgien aus verschiedenen Regionen und Ethnien, deren friedliche Koexistenz auf einer für Außenstehende kaum verständlichen Gemengelage unterschiedlichster Ansprüche und Interessen beruht. Dazu kommt, dass die belgischen Politiker keine Gelegenheit auslassen, sich auf Kosten des Gesamtstaats aber bzw. zu Lasten der jeweils anderen Ethnien und Regionen zu profilieren. Trotz unglaublicher Zentrifugalkräfte, die sich immer wieder in flämischen Separationstendenzen artikulieren, funktioniert Belgien irgendwie viel besser, als man es je vermuten würde. Belgien gliedert sich in das holländischsprachige Flandern im Norden und das französischsprachige Wallonien im Süden. Die Hauptstadt Brüssel bildet die dritte Region. Dort wird sowohl Französisch als auch Niederländisch gesprochen. In Brüssel stellen jedoch längst die Migranten der ersten bis dritten Generation die Bevölkerungsmehrheit. Und diese tendieren eher zur Weltsprache „Französisch“ als zum nur regional bedeutsamen Holländischen. Dadurch ist das labile Gefüge der Sprachen ordentlich durcheinander geraten. Kaum Probleme gibt es hingegen mit der rechtlich gut abgesicherten kleinen deutschsprachigen Minderheit im Osten des Landes, der ungefähr 70.000 Belgier angehören. Mit einer Staatsreform haben die Belgier versucht, den Dauerstreit zwischen flämischen und frankophonen Parteien zumin76 /// Fazit April 2014

dest für die nächsten Jahre beizulegen. Dabei ging es um den gemischtsprachigen und daher umstrittenen Wahlkreis Brüssel-Hall-Vilvoorde (BHV). Das jahrzehntelang unüberwindbare Problem war, dass dort sowohl flämische als auch frankophone Parteien gewählt werden konnten, obwohl Hall, Vilvoorde und die dazugehörigen Kommunen auf flämischem Gebiet liegen. Mit der Wahl 2014 ist nun Schluss mit dieser in den Augen der flämischen Belgier völlig unerhörten Skurrilität. Nun gibt es die Doppelliste nur noch in der offiziell zweisprachigen Landeshauptstadt Brüssel und einigen Ausnahmegemeinden. In den übrigen 29 Kommunen des Wahlkreises dürfen die Wähler – auch wenn sie selbst frankophon sind – nur noch flämische Parteien wählen. Die Flamen hatten das seit einem halben Jahrhundert gefordert. Höhepunkt des Streits um BHV war die monatelange Lähmung des belgischen Staatswesens nach der Wahl im Juni 2010. Dass Belgien auch ohne Regierung irgendwie weiterfunktionierte, versteht sich dennoch von selbst. Denn kein anderes entwickeltes Land der Welt kam bisher länger ohne funktionierende Regierung aus. Für den Großteil der Flamen bietet die Reform die Chance für einen Neubeginn des belgischen Staates. Dennoch gibt es weiterhin einige Parteien, die auf eine Zweiteilung Belgiens setzen. Die frankophonen Parteien wiederum haben der Teilung des Wahlkreises BHV vor allem deshalb zugestimmt, weil sie so ein höheres Budget für die Landeshauptstadt Brüssel – ihrem wichtigsten Stimmenreservoir – durchsetzen konnten.

Belgien in Zahlen Einwohner: 10,38 Millionen Wahlbeteiligung bei der letzten EU-Wahl: 90,4 % Durchschnittsalter: 40,9 Jahre Mobiltelefone auf 1.000 Einwohner: 799 Häftlinge auf 1.000 Einwohner: 0,91


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