Fazit 100

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Europa wähltEuropa wählt Teil 3 Fazitserie

Von Johannes Tandl. Mitarbeit: Andreas Reisenhofer

Europa wählt sich ab

Die Europawahl rückt näher. Damit steigt der Hysterie-Pegel unter den beiden großen Fraktionen des EU-Parlaments, der Europäischen Volkspartei (EPP) und den Europäischen Sozialdemokraten (S&D). Faktum ist, dass überall dort, wo die nationalen Regierungen in der EU einen bequemen Sündenbock für eigene Versäumnisse sehen, EU-kritische Parteien auf dem Vormarsch sind.

I

m vorliegenden Teil der Fazitserie zur Wahl des Europäischen Parlamentes beleuchten wir die Situation im Baltikum, in Irland, Italien, Tschechien und in der Slowakei. Die baltischen Staaten, also Estland, Lettland und Litauen haben die Krise bereits weitgehend durchtaucht. Italien befindet sich noch mitten drinnen. Die Reformmüdigkeit nimmt zu und in der Folge wandern immer mehr wohlstandsverheißende Industriearbeitsplätze ab. Irland, das nach der Rettung seines überdimensionierten Bankenapparates und den Eurorettungsschirm flüchten musste, kann sich inzwischen wieder auf dem Kapitalmarkt refinanzieren. Und während sich die Slowakei als Industriestandort gut entwickelt, musste Nachbar Tschechien nicht zuletzt wegen des innenpolitischen Wirrwarrs zuletzt immer wieder Rückschläge hinnehmen. Irland – Vom Aufstieg und Fall des »keltischen Tigers« Bis zum Ausbruch der Finanzkrise galt Irland als der wirtschaftspolitische Musterschüler unter den Eurostaaten. Irland, der »keltische Tiger«, hatte es in wenigen Jahren vom Armenhaus zum Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen innerhalb der Europäischen Union geschafft. Rekordverdächtig war auch die niedrige irische Staatsverschuldung. Sie lag 2007 bei knapp 25 Prozent und somit deutlich unter der Maastricht-Grenze von 60 Prozent. Die Iren schafften es, mit den niedrigsten Unternehmenssteuersätzen innerhalb der EU ausländische Investoren anzulocken. Und da sich das bis heute nicht wesentlich geändert hat, haben viele globale Konzerne auch heute noch ihre Europa-Zentralen in Irland. Doch obwohl der Großteil dieser Unternehmen Irland trotz der Krise die Treue hielt, war das Wirtschaftswunder auf Sand gebaut. Zum einen hatte sich in Irland ein gigantischer Bankenapparat entwickelt, der mit hohen Renditeversprechen weltweit Anleger anlockte und sich, um diese Renditeversprechen erfüllen zu können, massiv außerhalb Irlands und somit auch beim Handel mit US-Subprime-Krediten engagierte. Zum anderen erlebte auch Irland einen unglaublichen Immobilienboom. Obwohl unglaublich viel und weit über die tatsächliche 76 /// Fazit März 2014

Nachfrage hinaus gebaut wurde, stiegen die Preise ständig weiter. Immobilienbesitzer wurden scheinbar reicher und reicher und immer mehr Iren zockten mit. Die durchschnittliche Verschuldung der irischen Haushalte stieg dadurch im Jahr 2007 auf 200 Prozent der verfügbaren Bruttoeinkommen. Für die finanzierenden Banken war das kein Problem. Allerdings nur solange die Immobilienpreise stiegen. Die überdimensionierten Banken waren daher bereits höchst anfällig geworden, als die Subprime-Krise ausbrach und vermeintliche hypothekarisch besicherte Milliarden-Werte auf dem US-Immobilienmarkt über Nacht wertlos geworden waren. Die irische Regierung musste über 350 Milliarden Euro in den Finanzsektor pumpen, um dessen Bankrott abzuwenden. Eine Bankenpleite hätte aufgrund der extremen Privatverschuldung nämlich auch die eigene Bevölkerung massiv getroffen. Die Staatsschulden explodierten in der Folge von 25 auf über 104 Prozent des BIP. Die Anleihezinsen uferten aus und Irland war plötzlich nicht mehr in der Lage, sich auf dem Kapitalmarkt zu refinanzieren. Im Herbst 2010 schlüpfte Irland daher als erstes Land unter den Euro-Rettungsschirm und benötigte Hilfspakete von insgesamt 85 Milliarden Euro. Die Reformen, zu denen sich Irland im Gegenzug verpflichten musste, hatten es in sich. Der Kündigungsschutz wurde gelockert, das Pensionsalter liegt derzeit bei 66 Jahren und wird bis 2028 auf 68 Jahre angehoben. Auch die Löhne wurden deutlich gekürzt. Und mit den Reallöhnen ist auch das BIP mehrere Jahre hindurch deutlich gesunken. Doch anders als in den anderen Krisenländern haben diese Arbeitsmarktreformen in Irland rasch gegriffen. Das industriefreundliche Land konnte seine Wettbewerbsfähigkeit bei den Arbeitskosten deutlich verbessern und die Unternehmen Irland in Zahlen Einwohner: 4,06 Millionen Wahlbeteiligung bei der letzten EU-Wahl: 57,6 % Durchschnittsalter: 34 Jahre Mobiltelefone auf 1.000 Einwohner: 874 Häftlinge auf 1.000 Einwohner: 0,84


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