14 minute read

Kommentare zu den Einzelanmerkungen

1 Praeludium manualiter ex G BuxWV 162

Einzelüberlieferung: Lindemann Tab (Buchstabentabulatur). Dieses Praeludium gehört zu den pädagogisch orientierten Stücken im Repertoire der Lindemann Tabulaturen. Gleich zu Beginn gehört die präzise Überlegatonotation des gebrochenen G-dur-Akkords in Takt 3 zu den anspruchsvollen Beispielen einer komplexen Notation in der Buchstabentabulatur (siehe Faksimile links). In Takt 5 erfordert der e-moll-Akkord die kurze Oktave, während im folgenden Takt ein tiefes Fis vorkommt. Hier besteht gleich zu Beginn eine Situation, die das im Vorwort geschilderte Tastenarrangement mit der kurzen Oktave und der Anlage von doppelten Obertasten für die Töne Fis und Gis voraussetzt. Der Fugenstil in diesem Werk entspricht einem Improvisationsmodell mit vielen parallelen Terzen, Sexten und Dezimen. Bemerkenswert ist der geringe Anteil von vierstimmigen Abschnitten und die inkonsequente Stimmführung an verschiedenen Stellen, wo eine Stimme verschwindet und durch eine neu einsetzende nachfolgende Stimme (meistens im Diskant) ersetzt wird. Diese Stimmenmutation ist in den Takten 35–37 und 39–41 zu beobachten. Eine vergleichbare Situation ist auch in der Manual-Toccata (BuxWV 164) zu finden.1 Der Rahmen der mitteltönigen Stimmung wird an mehreren Stellen, vor allem bei Kadenzen, überschritten. Besonders auffällig ist die Kadenz nach H-dur in den Takten 48–50 in der Mitte des Praeludiums. Hier besteht eine Dissonanzkonzentration unter der Voraussetzung einer mitteltönigen oder einer modifiziert mitteltönigen Stimmung. Die musikalische Gewichtung des Dissonanzcharakters der Tonart H-dur geht bei der modernen gleichstufigen Temperatur verloren.2 2 Praeludium ex g BuxWV 163 Einzelüberlieferung: Berlin Ms (Liniennotation). Von ganz anderem Zuschnitt ist das Manual-Praeludium ex g. Es ist zusammen mit den großen Pedal-Praeludien im Berlin Ms überliefert und entspricht durch die formale Differenzierung sowie die harmonische und kontapunktische Finesse den hohen kompositorischen Ansprüchen in dieser Sammlung. Die weiten Griffe in den Takten 96 und 108 benötigen die kurze Oktave, während andererseits auch das tiefe Fis vorkommt (T. 14). Das rhythmische und harmonische Profil wird durch das Fehlen vieler Überbindungen vor Dissonanzen bestimmt, wie sie in den Editionen des 20. Jahrhunderts zu finden sind und dadurch den stilistischen Charakter umformen. Die Adaption des Froberger-Stils in den freien Teilen rückt dieses Praeludium in die Nähe der freien Clavierwerke von Johann Adam Reincken. In diesem Praeludium ex g (manualiter) wird der Rahmen der mitteltönigen Stimmung nur geringfügig überschritten: durch einige Durchgangsnoten in der ersten Fuga (ab T. 10) sowie durch kurze Betonungsdissonanzen im mittleren Interludium (ab T. 87) und der letzten Gigue-Fuga. 4 Toccata ex G BuxWV 165 Leseprobe Hauptquelle: Möller Ms (Liniennotation). Konkordanz: Preller Ms (Liniennotation). Diese Toccata, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Frühfassung von J. S. Bachs Manualtoccata D-dur (BWV 912a) überliefert ist,3 gehört zu den Meisterwerken im freien Repertoire Buxtehudes. Bemerkenswert sind im einleitenden Toccatenteil die zwischen den Händen alternierenden Akkordbrechungen, die ab Takt 15 mit differenzierten Überlegatobindungen notiert sind. In einem Interludium ab Takt 21 treten für neun Takte starke Dissonanzeffekte durch Modulationen nach H-, Fis- und Cis-dur auf. Die expressive musikalische Wirkung geht bei dieser Stelle allerdings durch die moderne gleichstufige Temperatur verloren. Das zweite Drittel dieser virtuosen Toccata wird von einer Fuga eingenommen, die im letzten Drittel in einen figurierten Ostinatosatz übergeht. Diese Kombination von Fuga und Ostinato ist im Clavierwerk Buxtehudes singulär und zeigt in der überwiegend zweistimmigen, ununterbrochenen 16tel-Bewegung Ähnlichkeit mit Reinckens Fugenstil. Eine Abschrift von Johann Gottfried Preller (1727–1768)4 enthält neben einigen Notentextabweichungen sehr viele hinzugefügte Ornamente und Fingersätze, die einen Interpretationsstil des mittleren 18. Jahrhunderts repräsentieren.5 5–13 Die Canzonen BuxWV 166–173, 225 Die Canzonen Buxtehudes können als ein Kompendium der Fugenkunst aufgefasst werden, in dem sehr verschiedene kontrapunktische und formale Konzepte vorkommen. Typisch sind die z. T. ausgedehnten Themen mit einer durchgehenden 16tel-Bewegung und vielen großen Intervallsprüngen. Diese Themen eignen sich in vielen Fällen nicht gut für das Pedalspiel. In den Pedalwerken kann dieser Fugentypus auch manualiter ausgeführt werden, wobei oft nur bei den Hauptkadenzen und am Schluss ein Pedaleinsatz erforderlich ist.6 In Anlehnung an die Quellentitel werden in dieser Edition die Bezeichnungen „Canzon“ und für die kleineren Werke „Canzonetta“ gebraucht.Sample page

3 Toccata ex G BuxWV 164 5 Canzon ex C BuxWV 166

Die Überlieferung geht auf drei Quellen zurück: Berlin Ms, J. Günther Bach Buch und Schubart Ms (alle Liniennotation). Die Mehrfachüberlieferung zeigt den Beliebtheitsgrad dieser Toccata, die – vergleichbar den Pedaltoccaten Buxtehudes – einen stilübergreifenden Charakter hat. Der geringstimmige Manualsatz kann mit BuxWV 162 verglichen werden und entspricht damit dem gleichen pädagogischen Konzept, das eine Anleitung zur Improvisation einschließt. Auffallend ist auch hier im Mittelteil die Stimmenmutation: Das Verschwinden von Stimmen in Akkordbrechungen im Bass und das folgende Neueintreten von Stimmen in der Diskantlage (ab T. 31). Der Rahmen der mitteltönigen Stimmung wird nur in der harmonischen Schärfung der Schlusskadenz (T. 48) überschritten.

Hauptquelle: E. B. 1688 (Liniennotation). Der mehrteilige Aufbau ähnelt den Praeludien Buxtehudes ohne den einleitenden freien Teil. Ab Takt 24 wird der Fugenstil verlassen und es setzt eine parallele Figuration ein (vgl. Toccata ex G (BuxWV 164), T. 12 und 13). Die folgenden Akkordbrechungen entsprechen den Takten 25 bis 27 in

der Toccata ex d (BuxWV 155). Auch die beiden Kadenzen in der freien Froberger-Manier ab T. 38 und 72 stehen dem Praeludien- und Toccatenstil nahe. Für die Durchmischung der Stile in den freien Buxtehudewerken ist diese Canzon ein typisches Beispiel. Es besteht eine Verwandschaft mit dem Capricciostil Johann Jacob Frobergers. Der Rahmen der mitteltönigen Stimmung wird in Takt 85 überschritten, allerdings nur sehr kurz zur harmonischen Schärfung der Kadenz. 9 Canzon ex G BuxWV 170

6 Canzonetta ex C BuxWV 167

Einzelüberlieferung: Lindemann Tab (Buchstabentabulatur). Im Gegensatz zur stilistisch, formal und figurativ sehr anspruchsvoll gestalteten Canzon ex C (BuxWV 166) liegt hier ein simples Beispiel des Fugenstils als Improvisationsmodell für den Anfangsunterricht vor. Die Quelle geht auf die Studienzeit bei Buxtehude zurück. Der Rahmen der mitteltönigen Stimmung wird an keiner Stelle überschritten.

Einzelüberlieferung: Lindemann Tab (Buchstabentabulatur). Diese Canzon kann mit ihrer geringeren kontrapunktischen Substanz, einem häufigen generalbassmäßigen Ober- oder Unterstimmensatz und den zweistimmigen Parallelführungen zum Thema im ersten Teil als Gegenmodell zur Canzon ex e gelten. Es handelt sich um ein virtuoses Improvisationsmodell. Bemerkenswert ist der zumeist dreistimmige Satz, der nur am Ende der drei Teile zur Vierstimmigkeit erweitert wird. Leseprobe Das Thema erfordert in der tiefen Lage die Taste Fis (Takt 109), die auf den besaiteten Tasteninstrumenten in Buxtehudes Umfeld vorhanden war. Die Grenzen der mitteltönigen Stimmung werden nicht überschritten.

Sample page

10 Canzon ex G BuxWV 171

7 Canzon ex d BuxWV 168

Hauptquelle: Berlin Ms (Liniennotation). Nebenquelle: Leipzig Tab (Buchstabentabulatur). Der in den bisherigen Editionen übliche Titel „Canzona“ kommt nicht in den Quellen vor („Canzon“ in Leipzig Tab und „Canzonet“ im Berlin Ms). Die Identifizierung der Lübecker Herkunft des Berlin Ms durch Peter Wollny hat zur Einschätzung als Hauptquelle geführt.7 Die Canzon ex d gehört mit dem weitgehenden Verzicht auf den freien Stil in Kadenzen und den Überleitungstakten zwischen fugierten Abschnitten zu den kontrapunktisch strengsten Beispielen in diesem Stil. Die Nähe zu Frobergers Canzonen mit den unmittelbaren Übergängen von einem zum jeweils folgenden fugierten Teil ist auffällig. Eine Besonderheit ist das Auftreten der Umkehrung des Themas. Es handelt sich nicht um ein Improvisationsbeispiel, sondern um ein Kompositionsmodell. Die Grenzen der mitteltönigen Stimmung werden eingehalten. Hauptquelle: Berlin Ms (Liniennotation). Durch den wiederholten Gebrauch von Fis in der tiefen Oktave kann auch diese Canzon dem Cembalorepertoire zugewiesen werden. Im zweiten Teil ist ein generalbassmäßiger Ober- oder Unterstimmensatz zu beobachten. Der Satz ist zunächst dreistimmig und erst ab Takt 30 durchgängig vierstimmig. Dieses Konzept der zunehmenden Stimmenzahl wird durch die Beachtung der Pausensetzung aus dem Berlin Ms verdeutlicht. Auffällig ist der hemiolische Charakter der ersten Takthälfte des Themas im 12/8-Takt in den Takten 22, 23, 28, 30 und 33 (siehe Notenbeispiel unten). Der Rahmen der mitteltönigen Stimmung wird eingehalten.

8 Canzon ex e BuxWV 169

Einzelüberlieferung: Lindemann Tab (Buchstabentabulatur). In dieser Canzon zeigt sich ein weiteres Kompositionsmodell, in dem im zweiten Teil zwei Themen in Engführung auftreten. Das häufige Vorkommen des Tones Dis ist in der Buchstabentabulatur unproblematisch, da hier die Obertaste zwischen D und E nicht als Es, sondern als Dis bezeichnet wird. Der Ton Ais wird hingegen als B notiert.8 Das häufige Auftreten von Ornamentzeichen und die Töne Dis, Ais und Eis deuten auf die Bestimmung für das Cembalo, wo die Grenzen der mitteltönigen Stimmung durch eine Modifikation der Einstimmung im Quintenzirkel verschoben werden können: mit dem „Wolf“ nicht wie üblich zwischen Es und Gis, sondern zwischen C und Eis (statt F).9 Die Töne Es, B und F kommen in BuxWV 169 nicht vor. Notenbeispiel: BuxWV 171, T. 23, Tz 1–2 11 Canzonetta ex G BuxWV 172 Zwei Hauptquellen: J. Günther Bach Buch (Liniennotation) und J. Christoph Bach Ms (Liniennotation). Der beinahe identische Notentext wurde in beiden Quellen vom Gehrener Kantor Johann Christoph Bach geschrieben. In beiden Fällen heißt der Titel „Canzonetta“. Der überwiegend drei- und zweistimmige Satz kann dem Typus des Improvisationsmodells zugerechnet werden. Die Grenzen der mitteltönigen Stimmung werden eingehalten.

12 Canzonetta ex g BuxWV 173 16 Fuga ex B BuxWV 176

Einzelüberlieferung: Lindemann Tab (Buchstabentabulatur). Der drei- und zweistimmige Satz weist Ähnlichkeiten mit BuxWV 172 auf und ist ebenfalls ein Beispiel für den improvisatorischen Stil Buxtehudes ohne eine Überschreitung der Grenzen der mitteltönigen Stimmung.

13 Canzonetta ex a BuxWV 225

Einzelüberlieferung: Norrköping Tab (Buchstabentabulatur). Aus der schwedischen Überlieferung des späten 17. Jahrhunderts stammt diese erst spät bekannt gewordene Canzonetta. Es handelt sich ebenfalls um ein Improvisationsmodell mit einem bewegten Thema und einem generalbassmäßigen Ober- oder Unterstimmensatz. Nach acht unmittelbar aufeinanderfolgenden Themeneinsätzen folgt ab Takt 26 ein Toccatenteil mit weiteren Anregungen zur Improvisation. Der mitteltönige Rahmen wird nur im schnell gespielten Thema in der Dominante oder mit drei längeren Noten in den Takten 31, 38 und 42 (Schlusskadenz) mit dem Ton Dis überschritten. 14–16 Die Fugen BuxWV 174–176 Die drei Fugen stammen aus drei der wichtigsten Quellen der Buxtehude-Überlieferung und zeigen ein weites Spektrum der kontrapunktischen Konzepte. 14 Fuga ex C BuxWV 174 Einzelüberlieferung: Andreas Bach Buch (Liniennotation). Das längste Fugenthema im Werk Buxtehudes repräsentiert den Giguenstil und wird bei jedem Auftreten von einer geringstimmigen Generalbassaussetzung begleitet. Es handelt sich um einen kontrapunktischen Minimalismus und ein anspruchsvolles Improvisationsmodell. Am Schluss stehen Akkordbrechungen im Toccatenstil. Der Rahmen der mitteltönigen Stimmung wird nicht überschritten. 15 Fuga ex G BuxWV 175 Einzelüberlieferung: E. B. 1688 (Liniennotation). Der dreistimmige Satz zeigt eine kontrapunktische Konsequenz ohne Elemente des Praeludienund Toccatenstils. Das Thema erscheint im zweiten Teil in Gegenbewegung und im dritten in einer Kombination von Grundform und Gegenbewegung. Bemerkenswert ist bei der Umkehrung des Themas im Quartsprung aufwärts das fehlende Auflösungszeichen. Die Grenzen der mitteltönigen Stimmung werden durchgängig beachtet.

Einzelüberlieferung: Berlin Ms (Liniennotation). Diese Fuga zeigt eine vierteilige Canzonenform, beginnend mit der durchlaufenden Sechzehntel-Figuration im ersten Teil, rhythmisch differenzierten Toccatenelementen im zweiten und einer eleganten kontrapunktischen Durchführung des Themenmaterials im dritten und vierten Teil. Trotz der ungewöhnlichen Tonart B-dur wird der als dissonante Schärfung überschritten. 17 Praeludium ex D BuxWV 139 Leseprobe mitteltönige Rahmen nur geringfügig durch den Ton As Quellenedition nach Berlin Ms (Liniennotation) auf zwei Systemen. Vergleich: Notation auf drei Systemen nach Lindemann Tab in Band I/1, S. 15–19. Die Abweichungen zum Notentext der Lindemann Tab sind gering und lassen vermuten, dass beide Fassungen auf die gleiche Vorlage zurückgehen. Einige Veränderungen können auch als Transkriptionsfehler eingestuft werden.10 Bemerkenswert ist die rhythmische Veränderung des Themas in den Takten 31 (Diskant) und 47 (Alt). Diese zweisystemige Notation des Praeludiums ex D dient als Beispiel einer Vorlage für die Manualiter-Interpretation. Die im Berlin Ms enthaltenen Pedalangaben sind mit einem * markiert und dienen als Hinweis auf den Quellentext mit den offenbar später hinzugefügten und nicht vollständigen Pedalangaben (siehe Band I/2, S. 47). Folgende Töne können in der linken Hand nicht erreicht werden und erfordern eine Oktavierung oder die Spielweise mit einem angehängten Pedal: • T. 9–10 Fis, Gis, A; T. 20 D; T. 32–33 A, H, G, A, D (Kadenztöne); T. 91–92 Eis, Fis und ab T. 105 der Orgelpunkt D. • Die vier Basstöne in den Takten 77–79 können oktaviert werden und mit den sequenzierenden Basstönen in den folgenden Takten eine absteigende Linie bilden. Es handelt sich bei dieser Anpassung an die Manualspielweise um wenige Töne in der untersten Oktave, die ohne Oktavierung bei Instrumenten mit angehängtem Pedal in der tiefen Lage ausführbar sind. Damit ergibt sich eine Erweiterung der Interpretationsmöglichkeiten bei historischen Orgeln außerhalb der norddeutschen Tradition, vor allem in Spanien und Italien. Die zweisystemige Notation hat allerdings den Nachteil, dass die Stimmenverläufe der Mittelstimmen im Vergleich zur dreisystemigen Notation unübersichtlich sind und die Handverteilung nicht deutlich dargestellt werden kann. Exkurs zum Manual- und Pedalspiel der freien Buxtehudewerke: Für das Erlernen der Pedalwerke war zur Zeit Buxtehudes das Spiel auf den besaiteten Instrumenten im häuslichen Rahmen (vgl. Band I/2, S. 46f.) der Ausgangspunkt. Die wesentlichen spieltechni-Sample page schen Fertigkeiten konnten zunächst im Manualspiel erworben werden. Ein instruktives Beispiel für dieses Konzept ist die umfangreichste gedruckte Sammlung von Orgel- und Claviermusik im 17. Jahrhundert: die Tabulatura nova von Samuel Scheidt (Hamburg, 1624). Fast alle Werke können manualiter ausgeführt werden, mit Ausnahme von einigen Orgelversen mit einem Cantus firmus im Bass, der nicht mit der linken Hand vollständig erreicht werden kann.11

In dieser Edition wird mit der differenzierten Notation auf zwei und drei Systemen für die Interpretation des Pedalrepertoires auf modernen und historischen Orgeln eine Lösung angeboten, wobei nur die Teile, die grifftechnisch ein obligates Pedalspiel erfordern, auf drei Systemen erscheinen. Die Fähigkeit zum Pedalspiel von Basslinien mit langsamen Notenwerten, wie sie in den Orgelwerken aus der Generation vor Buxtehude – Heinrich Scheidemann und Matthias Weckmann in Hamburg sowie Franz Tunder in Lübeck – verlangt wird, konnte in der Lernphase jedoch auf besaiteten Instrumenten mit angehängtem Pedal erworben werden. Es ist möglich, dass der junge Buxtehude bereits in seiner Lehrzeit und im ersten Teil seiner Karriere in Dänemark ein separates Pedalclavichord zur Verfügung hatte und ein obligates Pedalspiel mit einem höheren Schwierigkeitsgrad erlernen konnte.12 Ein aufschlussreiches Beispiel ist das Praeludium ex e (BuxWV 142), das in mehreren Handschriften überliefert ist. In diesem Praeludium werden spieltechnische Anforderungen im Pedalspiel erreicht, die zusammen mit einer hohen Komplexität des Kontrapunkts und einer großen stilistischen Bandbreite im norddeutschen Repertoire vor Buxtehude nicht zu beobachten sind. Es handelt sich um ein obligates Pedalstück, in dem nur die letzte Gigue-Fuga mit ihren Triolen im Bass in den Takten 120 bis 141 manualiter gespielt werden kann (vgl. Band I/2, S. 69f.). Im Vergleich dazu ist in allen anderen Pedalwerken ein ständiger Wechsel zwischen Manual- und Pedalausführung der Basslinien möglich. Dieser Schritt des Übens auf einem selbständigen Pedalinstrument blieb der professionellen Ausbildung vorbehalten, die allgemein mit hohen Unterrichtshonoraren verbunden war. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass Übungsmöglichkeiten auf den größeren Kirchenorgeln nur sehr begrenzt möglich waren.13 Das ist vor allem für die anfängliche Lernphase, die viele tägliche Übungsstunden beanspruchte, nicht wahrscheinlich. Diese Hinweise verschaffen uns zwar keine gesicherten Fakten zu den Einzelheiten des Lernprozesses im Zusammenhang mit dem professionellen Orgelspiel im späten 17. Jahrhundert. Sie können aber das Verständnis erleichtern, dass der Übungsprozess in der Anfangsphase wahrscheinlich von einer weitgehenden Manualspielweise des Pedalrepertoires in der Zeit Buxtehudes ausging. Deshalb kann eine Manualiter-Ausführung der Orgelwerke Buxtehudes nicht als eine Reduktion der obligaten Pedalspielweise aufgefasst werden, sondern als ein Zwischenschritt im Lernprozess, der allgemein durchlaufen werden musste. Diese Argumentation liefert den Hintergrund für die Überlegung, dass die Spielweise der Pedalwerke Buxtehudes auf Instrumenten mit angehängtem oder nur minimal ausgebauten Pedal eine legitime Möglichkeit der Interpretation ist. Damit kommen auch die historischen Orgeln außerhalb Norddeutschlands, die nur rudimentäre Pedale besitzen (z. B. nur die unterste Okave), für die Aufführung der Orgelwerke Buxtehudes in Frage. Einige Stücke mit einem fast durchgehenden obligaten Pedalanteil müssen allerdings ausgenommen werden. Dazu gehören die drei Ostinatowerke, die dem Spätwerk hinzugerechnet werden können, und die beiden Praeludien ex e (BuxWV 142 und 143). Es ergibt sich für das Pedalspiel in den freien Orgelwerken Buxtehudes 150 Jahre nach der Erstedition Spittas eine andere Interpretationsperspektive: Es geht auf der Grundlage einer erweiterten

Quellen- und Stilkenntnis um eine stilistisch legitimierte Spielweise auf allen vorhandenen Orgeltypen. Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die Pedalspielweise von langen Basstönen, Orgelpunkten und Kadenzabschnitten im Manualrepertoire. Die Modelle dazu sind in den Publikationen der süddeutschen Orgelmusik im späten 17. und im 18. Jahrhundert zu finden.14 Dazu gehören: BuxWV 162 T. 51–56 BuxWV 163 T. 105–109 BuxWV 168 T. 60–65 BuxWV 170 T. 70–72, 99-102 BuxWV 172 T. 41 BuxWV 173 T. 23–25 BuxWV 174 T. 69/4–77 Leseprobe BuxWV 176 T. 26–27, 71–75 BuxWV 139 T. 9–10, 19/4–20, 32–33, 68, 77–82, 87–92 und 104–110 1 Auf diese Inkonsequenz der norddeutschen Tabulaturnotation hat Margarete Reimann im Text zu den Übertragungen aus der Lüneburger Tabulatur KN 208¹ hingewiesen, vgl. Das Erbe Deutscher Musik, Band 36, Frankfurt 1957, S. 102. 2 In der Stimmungsdiskussion der letzten Jahrzehnte hat der bewusste Einsatz von Stimmungsdissonanzen zum Ausdruck des Schmerzes im Tastenstil der Buxtehudezeit im Sinne einer expressiven Erweiterung des stylus phantasticus bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt. 3 Titel im Möller Ms: Toccata. ex D f. Joh. Seb. Bach. 4 Vgl. Bernd Koska, „Bachs Privatschüler“, in: Bach-Jahrbuch 2019, S. 37. 5 Preller Ms, publiziert in Dieterich Buxtehude, The Collected Works, Vol. 17, hrsg. von Christoph Wolff, New York 2016, S. 34–39. 6 Im Praeludium ex C (BuxWV 138) ist dieser Fugentypus auf zwei Systemen notiert; das Pedal ist erst ab T. 56 erforderlich. 7 Vgl. Band I/2, S. 50. 8 Zur Diskussion der Tonbezeichnungen in der Buchstabentabulatur, siehe Band I/2, S. 45. 9 Eine Studie des Verfassers zur Kompatibilität des mitteltönigen Stimmungssystems mit dem Tonartengebrauch im norddeutschen Tastenrepertoire ist in Vorbereitung. 10 Dazu gehört die Akkordbrechung in Takt 3. 11 Die weiteren Beispiele für die Cantus-firmus-Spielweise in den höheren Stimmlagen im Pedal werden im Anhang zum dritten Teil der Tabulatura nova als Registrierungsbeispiele erwähnt. 12 Vgl. die Angaben zu separaten Pedalclavichorden im Nachlass von dänischen Organisten im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts im Band I/2, S. 48, Anm. 9. 13 Eine ausführliche Diskussion ist in den Schütz-Jahrbüchern 2003 und 2004 zu finden: Siegbert Rampe, „Abendmusik oder Gottesdienst? Zur Funktion norddeutscher Orgelkompositionen im 17. und 18. Jahrhundert“. 14 Dazu gehört Ars Magna Consoni et Dissoni, hrsg. von Johann Speth, Augsburg 1693 (Faksimile: Innsbruck 1994). Sample page